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Augmented Reality: Die digitale Zusatzwirklichkeit
Stellen Sie sich vor, sie haben sich endlich dazu aufgerafft, auch mal in Deutschland Urlaub zu machen. Sie stehen vor dem Brandenburger Tor und würden gerne den Anblick genießen: Das Einzige was stört, ist der nieselige Sprühregen im November. Regenschirm geschützt zücken Sie also Ihr Windows 7 Phone, starten den Browser, öffnen Bing.com und halten die Handykamera in Richtung Quadriga. Und plötzlich erscheint exakt an der Stelle, wo vorher das verregnete Tor stand, eines im strahlenden Licht der Abendsonne. Etwas später wechselt das Bild auf ein in gleicher Perspektive aufgenommenes Video aus dem Jahr 1990 und Sie sehen tanzende Menschen, wie sie unter dem Tor die Deutsche Einheit feiern.
Eine Utopie? Keineswegs. Microsoft arbeitet mit Hochdruck am „besseren“ Streetview mit dem Codenamen Streetside. Aus der Kombination von Geodaten und der Objekterkennung mithilfe der Kamera, kann Streetside heute schon Bilder und Videos passgenau über eine reale Fassade projizieren.
Das Web schickt sich an, mit Hilfe der Kameras auf Smartphones, Tablets aber auch auf PC-Monitoren immer tiefer in den realen Alltag einzugreifen. Die Möglichkeiten dieser Vermischung aus Web und Wirklichkeit sind enorm. Systeme der Augmented Reality (z.dt. Erweiterte Realität) können vor allem drei Dinge:
1. Den Nutzer Zusatzinformationen, -bilder oder -videos zeigen, die an der realen Stelle nicht verfügbar sind,
2. mögliche künftige Realitäten simulieren,
3. Computeranwendungen berührungsfrei bedienbar machen.
Mobile Augmented Reality
Am schnellsten erklärt sich das Konstrukt anhand von Beispielen. Der AR-Browser Layar, den es sowohl für Android als auch für iPhones gibt, erkennt die Umgebung seines Einsatzortes und spielt hier alle möglichen Zusatzinformationen ein. Die banale Variante zeigt Einkaufsgutscheine an, die in der soeben besuchten Fußgängerzone verfügbar sind. Etwas weiter gehen touristische Anwendungen, die zum Beispiel die Berliner Mauer wieder auferstehen lassen. Nutzen Sie doch beispielsweise mal die ganz reale Skyline Ihrer Heimatstadt, um sie vor angreifenden Cyborgs zu bewahren. Das entsprechende Spiel Falcon Gunner erscheint demnächst bei iTunes von Apple.
Im Sektor Mobile ist der Mehrwert von AR leicht zu erklären, denn Smartphones weisen zwei Besonderheiten auf, die sie in die Waagschale werfen können: die Geoposition des Nutzers sowie die Tatsache, dass aus der mobilen Nutzung Unsicherheit und somit Recherchebedarf entsteht. Recherchebedarf, der nirgends besser gedeckt werden könnte, als im Netz. So zählen also auch Preisinformationssysteme zum erweiterten Kreis der AR-Anwendungen. Sie überlagern vielleicht nicht das Livebild mit der Preisauskunft, werden aber vom fotografierten Barcode angesteuert.
Die derzeit spannendsten Systeme versuchen sich in der Menschenerkennung. Das Flirtopfer wird zuerst auf Facebook und dann auf Google identifiziert. Wer weiß, dass seine Angebetete derzeit Single ist und auf französische Rotweine steht, ist klar im Vorteil.
Für die Radfahrer steht freilich das Thema Navigation und GPS ganz oben auf der Hitliste. Italienische Forscher aus Trentino haben Marmota entwickelt, einer Anwendung zur Darstellung von Bergrouten und Erkennung der jeweiligen Gipfel, und Wikitude Drive kombiniert Navi mit Kamera. Der Vorteil: Auch beim Blick auf den Monitor verliert man Weg oder Strasse nicht aus den Augen. Das Bild ist ja live.
Gerade Wikitude Drive zeigt aber auch sofort, was AR noch kann. Fein definierte Trainingspläne lassen sich mit Livebildern und GPS-Tracking wunderbar kombinieren. Oder wie wäre es mit einem einer virtuellen Verfolgungsjagd als spielerisches Training?
AR am Point of Interest (POI)
Eine alternative Form der angereicherten Wirklichkeit arbeitet mit stationären Kamerasystemen in der Öffentlichkeit. Zwar ist die Geoposition des Systems und der abgebildete Realitätsausschnitt theoretisch immer gleich. Für den Nutzer steht hier aber eine zusätzlich Informationsquelle und Infrastruktur zur Verfügung.
Drei Beispiele illustrieren dies: Die Dieselcam fotografiert Spanier in der Umkleidekabine, nachdem diese eine Jeans angezogen und auf den Auslöser gedrückt haben. Das Bild wird auf Wunsch zu Facebook übertragen. Dort darf dann im Freundeskreis diskutiert werden, ob die Jeans richtig sitzt. Facebook kommt also zum Point of Sale und die virtuelle Diskussion überlagert die reale Kaufentscheidung. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann dieser virtuelle Garderobenspiegel auch Video ins Netz überträgt. Streng genommen ist das kein Beispiel für Augmented Reality, denn digital und real existieren parallel und nicht übereinander. Die Mechanik aber ist die Gleiche.
Unilever und Sapient Nitro hingegen versuchen es mit Lächel-Erkennung, wie man sie aus Digicams kennt. Erst wenn der Nutzer genug gelächelt hat und einer Veröffentlichung auf Facebook zustimmt, gibt es ein Softeis gratis. Hier erfolgt also die Steuerung der Software durch ein berührungsfreies Interface.
Das dritte POI-Beispiel ist noch klarer. Sowohl Tissot als auch RayBan nutzen derartige Systeme um den Schaufensterbummel zu personalisieren. Die Nutzer können sich bei Tissot eine Papieruhr ans Handgelenk schnallen, der Rechner im Schaufenster übersetzt das in Tissot-Uhren und zeigt auf dem Monitor den stolzen Kunden mit seiner (potentiellen) Neuerwerbung am Handgelenk.
Webbased AR
Die größten Probleme bei der Argumentation hat Augmented Reality, wenn sie am stationären Rechner ausgeführt werden soll. Der Grund: Geoposition und Bildausschnitt sind immer gleich. Nur bei Systemen, die es auf das Gesicht des Nutzers abgesehen haben, funktioniert das direkt. Der virtuelle Schminkspiegel oder das von RayBan inszenierte Brillenstudio simuliert die Verbindung zwischen Gesicht und dem jeweiligen Produkt.
Ziel anderer AR-Ansätze muss es also sein, den Bildausschnitt vor der Kamera zu ändern. Das funktioniert einerseits über Gesten und Bewegungen des Nutzers, andererseits über Objekte, die er vor die Kamera hält. Letzteres sind zumeist recht primitive geometrische Formen. Web-Anwendungen, die in den meisten Fällen auf Flash basieren, erkennen die Fläche, projizieren einen Flashfilm darauf und bewegen diesen Flashfilm simultan zur Bewegung des Markers. General Electric oder diverse Automobilhersteller zeigten auf diesem Weg kleine Produktfilmchen oder technische Erklärungen. Schon etwas mehr Involvement erzeugen Spiele wie beim Kinostart von Alwyn und die ChipMunks 2. Hier diente eine Cornflakes-Packung als Steuerungsinstrument.
Und die Steuerungsinstrumente werden immer subtiler. Carlsberg steuerte eine Flashanwendung bereits mit einer Bierflasche, die vor die WebCam zu halten war. Blöd nur, dass dadurch das System enorm an potentieller Reichweite verlor. Dem half man ab, indem man eine Zeitschriftenanzeige mit eben dieser Bierflasche als PDF zum Ausdrucken anbot. Vollflächig vierfarbig: Die Tintenpatronenlieferanten klatschten sich vor Freude auf die Schenkel.
Die Endlösung wird auch hier das berührungsfreie Interface sein, das in der Lage ist, Gesten und Körperbewegungen des Nutzers zu erkennen. Ganz so, wie Microsofts Xbox-Steuerung Kinnect. Die Softwareriesen aus Redmond dürften Ideen für eine USB-Kinnect längst in der Schublade haben, denn schließlich lebt man vom Spieleverkauf.
Ein Beispielsystem namens Fashionista ist heute bereits in der Lage, die berührungsfreie Steuerung einer Website zu skizzieren. Der Nutzer muss sich in einer gewissen Entfernung von der WebCam aufstellen um das System zu kalibrieren und kann dort einen virtuellen Garderobenspiegel für den ganzen Körper zur Anprobe von Kleidungsstücken nutzen. Streckt er einen Arm nach oben, so kann er damit virtuell einen Button drücken, der zum nächsten Kleidungsstück führt.
AR und die Verlage
Auch für die klassischen Medien könnte Augmented Reality eine spannende Lösung darstellen, den Medienbruch zu Online zu überwinden. Eine ganze Reihe von US-Zeitschriften – unter anderem Wired – haben solche Ansätze bereits getestet. In Europa aber ist ausgerechnet ein Deutscher Vorreiter im Verheiraten von Print und Web: Julian Koschwitz arbeitet für das Colors Magazine, eine recht progressive Zeitschrift von Fabrica, einer Agentur, die zum Benettonkonzern gehört.
Colors flankiert nun schon in der dritten Ausgabe fest jeden Artikel mit Videos, O-Tönen und Zusatzinformationen, die abgespielt werden, sobald man die entsprechende Artikelseite vor die Webcam hält. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen will, wandert zum nächsten Benneton-Store. Dort gibt es Colors gratis.
Der jüngste Schrei in Sachen Print kommt aus Hamburg. Otto publizierte im November den Katalog MyTrend mit AR-Unterstützung von Metaio. Die Videos reagieren interaktiv auf die Bewegung der Katalogseite vor der Kamera.
AR im Selbstversuch
Wenn Sie es selbst ausprobieren wollen, gehen Sie zunächst auf
www.ardoo.me
. Nach einer kostenlosen Registrierung steht Ihnen online ein kleiner Selbstbaukasten zur Verfügung. Flasher und WebDesigner orientieren sich vielleicht an den Tutorials von Lee Brimelow zu PaperVision3D und dem FLARManager (
www.gotoandlearn.com
).
In jedem Fall steht aber die kreative Idee im Mittelpunkt des Ansatzes. Ein Video auf einen Marker zu projizieren erzielt kurze Wow-Effekte, die dann schnell abebben. Spannender wird es, wenn clever geplante Interaktion dafür sorgt, dass sich die Nutzer mit Ihrer Anwendung und somit vielleicht auch einem Produkt oder einer Marke auseinandersetzen.
Links
Video zu Wiki Drive
www.youtube.com/watch?v=t9ForStU6-U
Das Streetside-Projekt von Bing
www.ted.com/talks/lang/ger/blaise_aguera.html
Otto MyTrend Katalog
www.otto.de/mytrend3D
DieselCam
www.youtube.com/watch?v=_P-zA90yI64
Layar
www.layar.com
Wikitude
www.wikitude.org
Vertigore Star Wars
gizmodo.com/5679566/tie-fighters-are-invading-new-york-city
Einführung und Marktübersicht
www.augmentedplanet.com
Youtube: Wer es lieber anschauen und nicht selbst probieren möchte
www.youtube.com/results?search_query=Augmented+Reality&aq=f
{b}Aktuelle Kampagnen{/b}
Tissot simuliert Armbanduhren am Handgelenk
(
www.tissot.ch/reality/#
)
H2O-Media realisierte für den Kia Venga die virtuelle Probefahrt. Der Marker zeigt dem User ein Lenkrad, während er ihn vor die Kamera hält und das Auto steuert.
(
www.facebook.com/kiadeutschland#!/kiadeutschland?v=app_6009294086
)
Chips-Hersteller Pringles läßt Englands Mittelstürmer Peter Crouch auf einem Marker tanzen. Der User steuert die Bewegungen durch Gesten vor der Kamera.
(
apps.facebook.com/dancetovictory
)
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