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Nischenprodukt mit Potenzial
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Report - Lastenräder

Nischenprodukt mit Potenzial

Deutschlands Städte steuern auf einen Kollaps zu. Verkehr, Lärm, die CO2- oder auch die Feinstaub­belastung bringen die Städte zunehmend an ihre Grenzen. Zur Lösung des Problems brauchen die Metropolen alternative Verkehrskonzepte. Eine aktuelle Studie von Cyclelogistics stellt fest, dass jede zweite Warensendung in den europäischen Großstädten per Lastenrad zum Kunden gebracht werden könnte. Aber mögliche Nutzer kennen weder die Modelle noch die Potenziale dieser Räder.

In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gehörten Bäckerrad und Co. noch zum Stadtbild europäischer Metropolen. Im Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie jedoch zügig durch Autos ersetzt und jahrzehntelang von kaum jemandem vermisst. Das ändert sich gerade. Seit einigen Jahren entdecken Kleinunternehmer wie Baumpfleger, Tischler, Gemüselieferanten und Pizza­dienste die Lastenräder wieder.
Handwerker und Gewerbetreibende sind pragmatisch. Was für sie zählt, sind am Monatsende schwarze Zahlen auf dem Kontoauszug. Bevor sich ein Handwerker ein Lastenrad anschafft, rechnet er akribisch nach, ob der Kauf auch wirtschaftlich ist. Neben den fehlenden Benzin- und geringeren Wartungskosten geben jedoch oft auch logistische Gründe den Ausschlag. Die Lastenräder sind im Stadtverkehr schneller unterwegs und können meistens direkt vor der Haustür parken. Parkplatzsuche ist für sie ein Fremdwort.
Cyclcelogistics hat in einer vergleichenden Studie verschiedener europäischer Städte ermittelt, dass jede zweite private oder gewerbliche Lieferung vom Lastenrad übernommen werden könnte. Denn die Wege sind deutlich kürzer als sieben Kilometer und die jeweilige Lieferung ist in den meisten Fällen bedeutend leichter und kleiner als das, was ein Lastenrad fassen kann.
Die Theorie wird bereits in der Praxis erprobt. Im großen Stil wird der Einsatz von Lastenrädern mit dem Projekt »Ich ersetze ein Auto« durchgespielt. Das Bundesumweltministerium fördert den deutschlandweiten zweijährigen Testlauf, der untersucht, ob Lastenräder mit Elektromotor Pkw-Kuriere ersetzen können.
20 der 40 im Projekt eingesetzten e-Bullits sind in Berlin für den Kurierdienst Messenger unterwegs. Dirk Brauer betreut die Kurierfahrer. Sein Fazit ist eindeutig: »Die reinen Autoaufträge, also ausgenommen der Waren, die mit großen Transportern geliefert werden müssen, können wir komplett mit Lastenrädern erledigen.«
Die Berliner e-Bullits sind im S-Bahn-Ring unterwegs. In Berlin Mitte herrscht laut Brauer ein ziemliches Verkehrschaos. Deshalb »holen wir alle Übernachtlieferungen in Mitte mit den Lastenrädern ab«, sagt er.
Das Projekt kombinierte einen zweimonatigen Testlauf mit der sogenannten »BentoBox«. Das ist ein gemeinsames Logistikprojekt für Innenstädte vom Fraunhofer Institut und dem Logistikberater LNC. Die BentoBox ist eine zentrale Packstation, die sowohl Pakete als auch Briefe fasst und die im Berliner Stadtteil Friedenau an einem öffentlichen Platz aufgestellt wurde. An dieser Sammelstelle konnten die Auto- und Fahrradkuriere Waren- und Briefsendungen lagern und abholen. So kombinierten sie Touren, sparten unnötige Kilometer ein und weiteten gleichzeitig ihren Aktionsradius aus. 85 Prozent der Kurierfahrten konnten demnach im Einsatzgebiet mit Fahrrädern anstelle von Pkws durchgeführt werden.
Je nach Standort sei das System laut Andreas Weber, Logistikberater bei LNC, auch für Handwerker oder Einzelhändler interessant. Stünde eine Bentobox beispielsweise in einem Einkaufszentrum, könnten sie Waren und Material dort abholen oder für den Kurier oder Paketdienst einlagern.

Lastenräder in Industrieunternehmen

Aber die Einsatzmöglichkeiten der Transporter gehen weit über Kurierdienste und Kleinunternehmer hinaus. Auch in Industrieunternehmen sind Lastenräder gefragt. Dienstleister wie die Wisag setzen sie verstärkt ein. Rund 38.000 Angestellte hat das Unternehmen, das Großanlagen ­reinigt oder Anlagen baut. Die Kostenersparnis ist auch hier der ausschlaggebende Punkt.
Manche der Wisag-Kunden verlangen von dem Unternehmen sogenannte Infrastrukturkosten. Salopp gesagt sind diese ein Eintritt, um das Werkgelände betreten zu dürfen. Im Schnitt zahlt das Unternehmen für jeden Mitarbeiter 3,50 Euro und für jedes Auto 8 Euro – pro Arbeitstag.
Um diese Gebühren zu reduzieren, setzt die Wisag seit einiger Zeit Lastenräder von Gobax ein. Die Räder dürfen umsonst passieren. Außerdem können die Mitarbeiter mit den Rädern näher an die Anlagen heranfahren als mit den Autos. Das spart wiederum Zeit und schont den Rücken der Mitarbeiter.
Große Industrieanlagen sind oft kleine Städte mit ihrer eigenen Infrastruktur und einem eigenen Warenhandel. Der schließt ebenso Lebensmittellieferungen für die Kantinen ein, wie den Wäschetransport. Vieles davon kann ebenfalls per Lastenrad transportiert werden.

Lastenräder sollen die Luftqualität verbessern

Auch die Bundesregierung vermutet bei den Transporträdern brachliegendes Potenzial. Im Oktober hat das Bundesverkehrsministerium beim Institut für Verkehrsforschung eine zweijährige Untersuchung über den Einsatz von Fahrrädern im Wirtschaftsverkehr in Auftrag gegeben. Denn neben dem Verkehrsaufkommen senkt der Tausch von Auto gegen Lastenrad auch die Schadstoffbelastung in den Städten. Das ist für viele Metropolen interessant.
München überschreitet seit Jahren die Grenzwerte der EU zur Feinstaubbelastung. Inzwischen hat die Metropole ihren fünften Luftreinhalteplan aufgestellt. Entlastung verspricht sich die Stadt langfristig unter anderem von dem Lastenradprojekt, das die IHK und die Stadt München im Mai starten. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und soll möglichst viele Erkenntnisse darüber liefern, welche Möglichkeiten Lastenrädern für Gewerbetreibende bieten.
Insgesamt sollen zwölf Lastenräder mit und ohne Motor angeschafft werden. Zehn werden dauerhaft vermietet, zwei wechseln regelmäßig den Nutzer. Die Zielgruppen sind laut Kerstin Swoboda, die für die IHK München und Oberbayern das Projekt koordiniert, Handwerksbetriebe, Apotheken, Großhandelsunternehmen, der Großmarkt, Hotels, aber auch Restaurants oder Speditionen. Die Unternehmer können das Rad entweder gegen eine einmalige Miete (300 bis 400 Euro) für ein Jahr ausleihen oder subventioniert kaufen. Das Referat für Arbeit und Wirtschaft zahlt einen Zuschuss über 30 Prozent der Brutto-Anschaffungskosten. Die Mieter haben nach einem Jahr die Möglichkeit, das Rad für 70 Prozent des Neupreises zu kaufen.
Die Hemmschwelle ist für die Unternehmer extrem niedrig. Besser kann man Lastenräder nicht bewerben. Dementsprechend gut ist die Resonanz.

Aufklärung ist wichtig

Ganz so weit sind die Tübinger noch nicht. Vereinzelt sieht Helke Neuendorff bereits ein Lastenrad in der Studentenstadt. Der Akademiker berät für die Stabsstelle Umwelt- und Klimaschutz Betriebe und entwickelt Konzepte, wie betriebsbedingte Verkehre kosteneffizienter, sozialverträglich und umweltschonend gestaltet werden können, damit Mitarbeiter entspannter zur Arbeit gelangen. Wenn es nach Neuendorff geht, sind bald bedeutend mehr Lastenräder in Tübingen unterwegs – trotz der 100 Höhenmeter, die es im Zentrum zu überwinden gilt. Mit Motor sei das kein Problem. Schwerer als die Topographie wiegen in seinen Augen die Vorurteile gegenüber Lastenrädern.
»Zu schwerfällig, unflexibel und bei schlechtem Wetter ungeeignet«, sind die Argumente, die er immer hört. Um hier kompetent gegenzusteuern, hat Neuendorff für Tübingen eine Lastenrad-Leistungsschau organisiert. Dort können die Besucher vor allem 16 unterschiedliche Lastenräder ausprobieren und sich mit den verschiedenen Herstellern über die Besonderheiten der Räder unterhalten.
Neuendorff ist Realist. »Ein Lastenrad ersetzt für Gewerbetreibende in Tübingen sicherlich nicht den gesamten Fuhrpark«, sagt er. Eher das sechste Auto in der Flotte.

Mobilitätsmix auf zwei und drei Rädern bei Ikea

Oftmals sind Unternehmen kreativer und flexibler als Kommunen, wenn es darum geht, passgenaue und vor allem alternative Angebote zu entwickeln. Im Sommer eröffnet in Hamburg-Altona ein IKEA Einrichtungshaus mitten in der Fußgängerzone. Das sei weltweit ein Novum – erklärt das Möbelhaus.
Das Unternehmen erwartet, dass jeder zweite Kunde mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum Einkaufen kommen wird. Das erfordert kreative Transportalternativen, damit die Kunden gerne kommen und vor allem unbekümmert ihre Einkaufswagen füllen.
Dafür hat sich der Möbelhändler einiges ausgedacht: Neben den üblichen Transportern, Car-Sharing- und Möbeltaxi-Angeboten können die Kunden Sackkarren borgen, faltbare Fahrradanhänger, ein Fahrrad oder ein Lastenrad leihen. Für größere Möbel stehen Fahrradkuriere bereit. Sie sind mit E-Lastenfahrrädern unterwegs, die teilweise mit Anhängern ausgestattet sind. Andere E-Lastenräder fassen gar eine Europalette. Was für uns in Deutschland noch exotisch klingen mag, ist im niederländischen Groningen bei Ikea längst gängige Praxis.
Aber in den Niederlanden und Dänemark sind Lastenräder längst ein gewohnter Anblick im Straßenbild. In Kopenhagen gehört das Christiania-Rad schon fast zur Grundausstattung junger Familien. Jede vierte Familie mit zwei Kindern besitzt eins. So weit ist Deutschland noch lange nicht. Dennoch sieht man auch hier in den Metropolen immer mehr Eltern ihren Nachwuchs im Backfiets durch die Gegend kutschieren.

Teilen statt kaufen

Manche Privatpersonen, die mit einem Lastenrad liebäugeln, schreckt der Preis zurück. Für sie gibt es inzwischen jedoch private Initiativen oder Lastenradbesitzer, die ihre eigenen Transporter ausleihen. Ein Sammelbecken für diese Anbieter ist die Online-Plattform velogistics. Hier findet man Cargobikes in Europa, Nordamerika und Australien, die man gegen einen Festpreis oder eine Spende mieten kann.
Eins davon ist das Lastenrad Kasimir, das es in Köln umsonst gibt. Eine Gruppe von sieben Kölnern, die sich unter dem Namen »Wie leben wir?« seit Jahren mit Themen wie Stadtraum, Mobilität, Arbeitswelt und dem Verhältnis zwischen Individualisierung und Gesellschaft beschäftigt, hat Kasimir ins Leben gerufen. Sie suchten vor ein paar Jahren nach einer Alternative zum motorisierten Autoverkehr und landeten beim Lastenrad. Ihr Anspruch: Kasimir sollte geteilt werden – mit Nachbarn, Geschäftsleuten oder innerhalb eines Wohnviertels.
Über eine Stiftung erhielten sie die 2500 Euro zum Kauf des Transporters. Cafés und Organisationen, die Kasimir beherbergen und seinen Verleih betreuen, waren schnell gefunden.
Durch den permanenten Ortswechsel ist der Bekanntheitsgrad des Lastenrads inzwischen relativ hoch. Zudem berichteten Zeitungen und das Fernsehen über Kasimir. Der Verleih ist ein Selbstläufer. Ladenbesitzer oder Vereine fragen bei den Kölnern an, um das Lastenrad eine Weile vor ihrer Tür abzustellen. Lange steht es dort nie. Die Nachfrage ist hoch und das schon seit über einem Jahr.
Dieses Beispiel zeigt: Der Zugang zum Lastenrad muss für Privatpersonen praktisch und unkompliziert sein. Dann wird es auch genutzt. Das wissen auch die Macher vom Elektromobilitäts-Projekt der Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft KEG mbH und die Beratungsgesellschaft für Stadt­erneuerung und Modernisierung
BMSF mbH seit ihrem Projekt »Leben­ImWesten«.
In dem Gebiet rund um Höchst leben etwa 250.000 Menschen. Diese Bewohner sollen mithilfe des Projekts elektromobil vernetzt werden. Über Sponsoren wurden 12 motorisierte Backfiets angeschafft, die ab November 2011 an vier Stationen auf Kundschaft warteten. Gegen eine geringe Leihgebühr (aktuell 5 Euro) konnten die Räder einen Tag benutzt werden. Im vergangenen Oktober wurde der Fuhrpark um 22 Elektro-Autos erweitert.
Langfristig wollen die Stadtentwickler und -planer eine nachhaltige Stadtentwicklung implementieren. Mit den e-Backfiets wollen sie Eltern für ihren Einkauf oder den Transport ihrer Kinder eine Alternative aufzeigen, die Spaß macht und praktikabel ist.
Die Transporträder waren von Anbeginn an gut gebucht. Bereits nach einigen Monaten gab es zehn Verleihstationen bei Einzelhändlern, Vereinen und Gastronomiebetrieben. »Sind die Backfiets nicht unterwegs, nutzen die Verleiher sie, um Blumen auszuliefern oder auch Essen«, sagt Jens Weber von der BSMF mbH.
Das Projekt hat Charme und passt in den Zeitgeist. Weber hat bereits erste Anfragen erhalten, das Backfiets-Projekt auf Frankfurter Szeneviertel auszuweiten. Ein besseres Feedback gibt es nicht.
Die Möglichkeiten, Lastenräder an Privatpersonen zu verleihen, sind vielseitig und haben Zukunft. Weil viele Privatpersonen die Transporter oft nur punktuell benötigen.

Beratungsbedarf ist groß

Hier sieht Leopold Brötzmann Mitarbeiter bei VELOTransport, ein Ableger von Ulrike Saades Velokonzept, noch viel Spielraum für unkomplizierte Verleihsysteme. Die aktuelle technische Entwicklung unterstützt in seinen Augen diesen Trend. Digitale Fahrradschlösser oder eine App, mit der man Lastenräder wie Nachbarschaftsautos leihen kann, machen das Verleihsystem sicher und unkompliziert. »Vorausgesetzt beides funktioniert«, schränkt er ein. Mit VELOTransport informiert er seit fast zwei Jahren in erster Linie Endkunden auf Messen und Vorträgen über Transporträder. Das ist nötig.
Für viele Radfahrer sei es ein unbekanntes Gefährt. »Die Menschen haben Berührungsängste«, stellt er fest. Diese legen sich aber sehr schnell, wenn sie erstmal auf den Rädern sitzen. Im geschützten Parcour einer Messe tasten sie sich übers Bäckerfahrrad langsam ans einspurige Bullit heran. »Anschließend sind sie erstaunt, wie leicht sich die Räder mit Motor fahren und steuern lassen«, sagt Brötzmann.

Titel eingebenInfrastruktur für Lastenräder

Die verschiedenen Angebote zeigen Wirkung. »In Berlin und Hamburg gehört das Lastenrad schon zum Stadtbild dazu«, stellt Brötzmann fest. Er sieht im Wirtschaftsverkehr aber auch für Privatpersonen großes Potenzial. Je nach Wohnort sei es allerdings schwierig, einen geeigneten Abstellplatz zu finden oder geeignete Radwege, die man mit Überbreite komfortabel befahren kann.
»Wenn man mit einem Christiania unterwegs ist, kommt man auf veralteten, zu schmalen Radwegen schnell an die Grenzen und muss auf die Fahrbahn ausweichen. Das darf man zwar, allerdings ist es im dichten Verkehr nicht immer angenehm«, stimmt ihm Wasilis von Rauch zu, Leiter des Lastenradprojekts des VCD. Deshalb erhöhen Lastenräder in seinen Augen wie auch die Pedelecs deutlich den Druck auf Städte und Kommunen, die Infrastruktur im Radverkehr zügig zu verbessern. »Hier muss dringend und deutlich investiert werden«, sagt er. Zudem muss über Flächen für Verteilerzentren wie beispielsweise die BentoBox nachgedacht werden, um in der Innenstadtlogistik auf Lastenräder umstellen zu können.
Hier ist von Rauch optimistisch: Die Studien und die Erfahrungen von Messenger und anderen Gewerbetreibenden zeigen deutlich: »Das Potenzial von Lastenrädern im Wirtschaftsverkehr der Städte existiert.« Gerade mit Blick auf den wachsenden Online-Handel muss der innerstädtische Logistiksektor dringend umgestaltet werden. »Hier kann und sollte der Einsatz von Lastenrädern schon bald eine wichtige Rolle spielen.«

16. April 2014 von Andrea Reidl
Velobiz Plus
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