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Portrait - Shimano

Phänomen

Shimano ist das größte Unternehmen der Fahrradbranche ohne dabei selber Fahrräder herzustellen. Der japanische Fahrradkomponenten-Hersteller hat sich in seiner 95-jährigen Firmengeschichte vom Billig­anbieter zum Marktführer ent­wickelt und beliefert weltweit praktisch alle Fahrradhersteller. velobiz.de-Autor Marius Graber war bei Shimano zu Besuch.

»Taschäpse-Schaltig! Das Velo hed de en Schaltig aus Japan.« Die Abneigung im Unterton des Velohändlers gegenüber den Teilen aus Fernost war unüberhörbar. Ich hatte 1984 mein erstes Tourenvelo gekauft, ein holländisches, welches nicht nur mit einer Schaltung, sondern auch Naben und Bremsen von Shimano ausgerüstet war. Beim Fahren zeigte sich bald, dass die »Tschäpseschaltung« bestens funktionierte. Ich hatte mehr und bessere Gänge als mein Kollege mit seiner Sachs-Huret und als ich im Winter das Velo für eine Revision und zum Stillen meiner Neugierde Teil für Teil auseinanderbaute, sah ich, dass die Naben Dichtungen oder die Bremsen Gleitlager hatten, was ich bei der Demontage europäischer Teile noch nicht gesehen hatte. Shimano war in den Jahren gerade im Begriff den europäischen und amerikanischen Markt zu erschließen und begann den Kampf um die Gunst der Fahrradhersteller nicht mehr nur mit günstigen Preisen, sondern immer mehr mit technischen Innovationen zu führen.

Vom Freilauf zur Fischerrute

Shimano startete sein Geschäft 1921 mit der Produktion von Freiläufen. In Japan existierte damals schon eine vitale Fahrradindustrie, die Freiläufe mussten jedoch teuer aus England importiert werden. Das ärgerte den jungen Shazaburo Shimano und so begann er in Sakai, einer Stadt in unmittelbarer Nähe zu Osaka, Freiläufe selber zu produzieren. Sakai war eine Hochburg für Stahlverarbeitung, nach und nach entwickelte sich die Stadt zum Zentrum der japanischen Fahrradindustrie. In den 70er-Jahren gab es für Fahrradprodukte weltweit zwei wichtige Städte: Vincenza in Norditalien und Sakai in Japan. Neben Shimano war in und um Sakai alles zu finden, was es für das Velo braucht: Tange als Hersteller von Rahmenrohren, DiaCompe und Suntour als weitere Komponenten-Hersteller, Araya für Felgen, Panaracer für Pneus, Nitto für Lenker. 1973 lancierte man die erste Rennrad-Komponenten-Gruppe unter dem Namen Dura-Ace welcher für die Top-Rennradgruppe bis heute Bestand haben sollte. Es wurden Verkaufsbüros in den USA und Europa eröffnet. 1982 kamen mit der Gruppe Deore XT Shimanos erste Mountainbike-Teile auf den Markt. Die ausgefeilte Freilauftechnik setzte man auch bei Fischerruten ein, das Schuh-Pedal-Bindungs-System auch bei Ruderbooten und Snowboards. In Japan selber ist Shimano vor allem für die Fischerruten bekannt: Steht an einem Laden ein großes Shimano-Schild, so handelt es sich typischerweise nicht um einen Fahrrad- sondern um einen Fischerei-Laden.

Mutter- und Tochter-­Fabriken

In der Mutterfabrik in Sakai lässt sich von einer Galerie aus die ganze Produktion überblicken. Vor zwei Jahren wurde sie komplett neu gebaut und ist nun die Vorzeigefabrik von Shimano. Alles ist hell, der Boden glänzt, dass man drauf essen könnte, es fahren robotergesteuerte Wagen mit Material von Maschine zu Maschine oder zum vollautomatisierten Hochregallager. Nur wenige Arbeiter sind zu sehen. In einer Halle werden Aluminiumzylinder in riesigen Maschinen durch Kaltschmieden in Nabenkörper, Brems- und Kurbelarme ungeformt. Obwohl es da mit bis zu 2.000 Tonnen zu Werke geht, ist normales Sprechen möglich. In der nächsten Halle steht eine Armada von CNC-Maschinen, welche die Oberflächen der geschmiedeten Teile veredeln, Löcher bohren, Gewinde schneiden, Passsitze fräsen. Auch hier ist es fast schon gespenstisch ruhig in Anbetracht der Hunderten von Maschinen. Danach gehen alle Teile in die Wärmebehandlung, damit die Aluminium- und Stahlteile die gewünschten Festigkeiten erhalten. Das sind die Kernverarbeitungsprozesse von Shimano. Der Stolz darüber, der sich aus der jahrhundertalten Stahlbearbeitungs-Tradition der japanischen Stadt erschließt, ist spürbar. In Sakai wurden in Japan die ersten Gewehre geschmiedet, die besten Messer stammen noch immer von hier. Shimanos oberster Marketing-Chef Manabu Tatekawa sagte dann auch beiläufig »Was wir können? Metall!«. Die Fabrik in Sakai ist aber nicht auf Kapazität ausgelegt. Sie dient dem internationalen Konzern vor allem zum Entwickeln, Einführen und Rationalisieren von Produktionsprozessen. Danach werden sie in die anderen Fabriken übernommen. Tatekawa: »Wir machen Copy-Paste mit unseren Fabriken«. Und tatsächlich trifft man in den anderen Fabriken in Japan, dann aber auch in Singapur und Malaysia auf alte Bekannte: Die Schmiedepressen von Aida, selbst die Gabelstapler, die Roboter-Warentransporter, das Hochregallager, die CNC-Maschinen hören alle auf dieselben japanischen Namen: Okuma, Komatsu, Ihi, Nichiyu. Auch die Ausgangsmaterialien sind in jeder Fabrik exakt dieselben japanischen Stahl- und Aluminium-Legierungen.
Fachleute schätzen den Marktanteil von Shimano bei Fahrradkomponenten im mittleren und hohen Preisbereich weltweit auf über 80 Prozent. Natürlich geht das erstmals nur über qualitativ gute Produkte. Aber Shimano hat sicherlich auch am Markt geschickt agiert. Sie haben als erste die verschiedenen Velokomponenten auf einander abgestimmt und klar abgegrenzte Gruppen für unterschiedliche Preisklassen gebildet. Sie haben nach eigenständigen Lösungen gesucht, die sie dann oft erfolgreich patentieren konnten. Als sie für die Verbindung zwischen Bremsscheiben und Naben die sogenannte Centerlock-Aufnahmen kreierten, bei der die Scheibe mit einem großen Verschlussring anstelle der bis dato üblichen sechs einzelnen Schrauben fixiert wird, munkelten böse Zungen, dass Shimano damit die Fahrradhersteller zwingen wolle, nicht nur die Bremsen sondern auch gleich die Naben von Shimano zu verbauen oder umgekehrt. Rückblickend muss man aber sagen, dass die Centerlock-Aufnahme gegenüber den sechs Schrauben aus verschiedener Sicht einfach das bessere System war und ist.

Weihnachtsbaum-Konzept

Aber Shimano war immer auch mit einer gewissen Demut am Werk. Das Credo ist, dass die Produkte an einen Standard-Fahrradrahmen geschraubt werden können. Shimano hat sich immer diesem angepasst, nicht umgekehrt. Daraus bildete sich die Arbeitsteilung, die in der Velowelt bis jetzt Bestand hat: Die Velomarke ist für den Rahmen und die Gesamtkonzeption zuständig. Die entwicklungs- und fertigungs-intensive Technik wie Schaltung, Bremsen, Radlager wird dem Komponentenhersteller überlassen. Fahrradkritiker nennen das das Weihnachtsbaum-Konzept: Der Rahmen als Baum, die Shimano-Komponenten als die Christbaumkugeln daran. Dies hat die Strukturen der Fahrradwirtschaft in den letzten Jahrzenten stark geprägt, ohne diese Aufgabenteilung gäbe es wohl kaum mehr so viele verschiedenen Velomarken. Ein Großteil der Innovationen und des technischen Fortschrittes beim Velo in den letzten Jahren ist den Japanern zu verdanken, auch wenn die Lorbeeren meist die Velomarken ernteten.
Hinter vorgehaltener Hand stöhnt denn manch ein Hersteller auch über den Komponenten-Riesen: Natürlich schätzt man dessen Produkte, die Vorlaufzeiten für Bestellungen betragen aber zum Teil bis zu neun Monate, was dazu führt, dass neue Teile bestellt werden müssen, bevor man weiß, wie die aktuellen vom Markt angenommen werden. Auch der schnelle Produktewechsel und das hohe Innovationstempo geben zu schaffen, vergreift man sich mal bei der Bestellmenge, sind die Überbestände schnell schon veraltete Ware.
Doch unumwunden gibt man auch zu, dass sich Shimano für seine marktbeherrschende Stellung doch noch ganz korrekt gebart. Die Ersatzteilversorgung ist trotz all der Modellvarianten lang gewährleistet, kaum mal werden neue Einbaunormen für die Fahrradrahmen aufgezwungen, wozu Shimano aufgrund seiner Marktmacht durchaus die Möglichkeit hätte.
Shimano war bei vielen Technologiesprüngen beim Velo wie bei der hydraulischen Scheibenbremse, der elektronischen Schaltung, nicht der erste, der die Technologie auf den Markt brachte. Aber oftmals derjenige, der den Technologien durch eine hohe Zuverlässigkeit und Perfektion zum Durchbruch verhalf. Natürlich hat Shimano auch Konkurrenz oder besser gesagt Mitbewerber: Bei den Mountainbike-Schaltungen SRAM. Die Amerikaner reden auch bei den Rennvelokomponenten mit, zusammen mit Campagnolo. Bei den Getriebeschaltungen für Reiseradler sind die beiden deutschen Firmen Rohloff und Pinion Markführer. Doch auch wenn diese beachtliche Stückzahlen machen, das ist nicht Shimanos Liga.
Bei so viel Innovation ist auch Shimano nicht immer alles Gelungen: Die Druckluft-Schaltung Airlines von 1998 für Downhillbikes setzte sich ebenso wenig durch, wie der kombinierte Brems-Schalthebel beim Mountainbike. Auch der erste Elektroantrieb scheiterte. Die 2001 lancierten Smoover-Stadtvelo-Komponenten mit elektronischer Schaltung, elektronischer Abstimmung von Federgabel und Hinterradfederung wurde vom Markt nicht angenommen. Vielleicht war man zu visionär, zu früh, vielleicht wollte man zu viel. Shimano selber sieht das inzwischen gelassen und betont, dass viele Innovationen aus dieser Zeit für die aktuellen elektronischen Rennvelo- und Mountainbike-Schaltungen übernommen werden konnten, welche sich nun am Markt etablieren. Von »Tschäpse«-Schaltungen spricht heute niemand mehr.

23. August 2016 von Marius Graber

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