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Wo bleibt die Verkehrswende?
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Report - Alltagsmobilität

Wo bleibt die Verkehrswende?

Jährlich prüft die Bundesregierung das Mobilitätsverhalten der in Deutschland lebenden Bevölkerung. Und wie immer werfen auch wir einen prüfenden Blick auf die aktuellen Zahlen und Entwicklungen im In- und Ausland. Stimmt der Kurs noch? Oder haben wir uns festgefahren?

Insgesamt 850 Millionen Euro sollen in Radschnellwege investiert werden, mit dem Ziel, den Anteil der Radfahrer bis zum Jahr 2030 auf bis zu 20 Prozent zu erhöhen und den Schadstoffausstoß in großen Stadtregionen um bis zu 50 Prozent zu senken. Dazu werden ab 2025 nur noch Elektroautos zugelassen und die große Mehrheit aller Busse und Schiffe schadstoffarm unterwegs sein. Nein, nicht von Deutschland ist die Rede, sondern vom neuen Fahrradland ­Norwegen.

Mit Vollgas in den Stillstand

Auch hierzulande drückt man angesichts zunehmender Probleme wie gefährlichen Stickoxidbelastungen, Dauerstaus und einer zunehmenden Überlastung der Städte durch die fortschreitende Urbanisierung beim Thema Verkehrswende und saubere Autos aufs Tempo. So sollte man zumindest meinen. Tatsächlich jedoch lässt sich weitgehende Stagnation ausmachen. Nicht nur bei der Zahl der verkauften Elektroautos, bei Ladestationen oder beim Carsharing, sondern allgemein auch beim politischen Willen, und nicht zuletzt bei den Präferenzen der Deutschen bei der Wahl des Verkehrsmittels. Das kürzlich im Auftrag der Bundesregierung erstellte Deutsche Mobilitätspanel (MOP) stellt für das Jahr 2015 fest, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs mit 54,7 Prozent leicht gestiegen ist (Vorjahr 54,3 Prozent) und sich damit dem Höchststand aus dem Jahr 2007 mit 56,7 Prozent wieder annähert. Der Anteil an Wegen mit dem Fahrrad war 2015 mit 11,8 Prozent dagegen niedriger als im Vorjahr (13,2 Prozent). Die Fahrradnutzung befindet sich damit seit dem Spitzenjahr 2011 mit einem Anteil von 14,7 Prozent, entgegen aller Zielvorstellungen, in einem langsamen, aber konstanten Abwärtstrend.

Radfahren für alle oder zurück in die Nische?

Lässt man das unter anderem dank E-Bikes gewachsene Interesse der Medien am Fahrrad außen vor, so bleibt die für viele bittere Erkenntnis, dass der prognostizierte, herbeigewünschte und bereits in diverse Modellrechnungen eingeflossene Fahrradboom auch weiter ausbleibt. Daran änderten auch die freundlich ermutigenden Worte der Bundeskanzlerin im Wahljahr 2013 auf der Fachmesse Eurobike nichts. Politische Taten blieben, von einigen Leuchtturmprojekten wie dem Radschnellweg R1 abgesehen, bislang weitgehend aus. Konsequentes Handeln, wie eine schnelle Verbesserung der Infrastruktur, oder Maßnahmenpakete, wie eine Anhebung der Bußgelder für Falschparker und Raser oder eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit pro Fahrrad, wären möglich und machbar. Das Know-how ist da und angesichts eines Haushaltsüberschusses von über 6 Milliarden Euro (Stand Januar 2017) wohl auch das Geld. Was allein zu fehlen scheint ist der Wille für echte Veränderungen.

Nur ein Luxus für grün bewegte Männer?

Der ADFC Geschäftsführer Burkhard Stork prangert schon lange an, dass »echte Radverkehrsförderung« weit über die Zielgruppe der MAMILS (= Middle Aged Men In Lycra) hinausgehen müsse. Die gleiche Argumentation, nur unter umgekehrten Vorzeichen, machte sich kürzlich auch der Gründer und Geschäftsführer des Forsa-Instituts Prof. Manfred Güllner in einem Artikel für die Zeitschrift »Kommunal« zu eigen: Kommunalpolitiker sollten sich nicht »vom Fahrrad-Wahn verleiten lassen, sondern Verkehrspolitik für alle Bürger betreiben«, so der Soziologe und Betriebswirt. Das Fahrrad würde nur von Minderheiten überhaupt genutzt, häufig würden »Fahrradwege gebaut oder Fahrradstraßen eingerichtet, ohne wirklich zu prüfen, ob das Fahrrad im Wirtschaftsverkehr nicht nur für die kleine Minderheit der Grünen-Klientel, sondern auch für breite Bevölkerungsschichten ein sinnvolles Verkehrsmittel ist.« Die statistischen Daten belegten, dass das Fahrrad in überdurchschnittlichem Maße von Schülern und Studenten, »grünen« Beamten und Selbstständigen sowie von älteren, über 60 Jahre alten Bürgern genutzt würde, die in der nunmehr vorhandenen Freizeit Fahrrad fahren. Auch nicht neu: Männer nutzten das Fahrrad häufiger als Frauen und selbst in Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern sei der Anteil der Bewohner, die den Pkw oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen, fast fünf Mal größer als der Anteil der Nutzer des Fahrrads. Sein Rat: »Die Kommunal­politik wäre somit gut beraten, wieder eine ausgewogenere Verkehrspolitik als heute zu betreiben und sich nicht von »Fahrrad-Lobbyisten« zu falschen Weichenstellungen verleiten zu ­lassen.« (Online nachzulesen unter kommunal.de.)

Konstruktive Lösungen ­gefordert

Wie sich die aktuellen Probleme der Kommunen allerdings lösen lassen sollen, das lässt auch der Forsa-Chef offen. Mehr Parkplätze und breitere Straßen? Mehr ÖPNV? Dieselfahrverbote und mehr Elektroautos? Alles bekannte und vielfach diskutierte Lösungsansätze, die bei genauerem Blick ihre Tücken offenbaren. Denn entweder mangelt es am Platz, am Problem Ladekabel oder am Widerstand und der Bequemlichkeit der Bevölkerung. Oder es gibt einfach Taschenspielertricks, mit denen wir uns, wie bei Verbrauchswerten und dem Schadstoffausstoß, selbst in die Tasche lügen.

Zukunftsmobilität auf die Agenda im Superwahljahr

»Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist«, heißt ein berühmtes Zitat von Victor Hugo. Vielleicht ist die Zeit hierzulande ja auch noch nicht reif für die Idee des Fahrrads als relevantes Verkehrsmittel. Aber selbst im postfaktisch-populistischen Zeitalter sollten Politiker ihre Aufgabe ernst nehmen, für komplexe Probleme nicht nur griffige Versprechen, sondern auch machbare Lösungen anzubieten. Nur ein gleichmütig-fröhliches »weiter so« – das zeigen die einschneidenden Entwicklungen der letzten Zeit sehr deutlich – scheint allerdings immer weniger die richtige Antwort zu sein. Zeit, die Parteien im Superwahljahr daran zu erinnern und zu fordern, das Thema Zukunftsmobilität zusammen mit realistischen [sic!] Plänen und Szenarien auf die Tagesordnung zu setzen. Denn freundliche Worte und Maßnahmen in homöopathischen Dosen werden wohl kaum ausreichen, um echte Veränderungen zu bewirken.

12. Februar 2017 von Reiner Kolberg
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