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Markt - Schweiz

Der Schweizer Kuchen wird neu verteilt

Bei der Saisonschlussbilanz 2017 blickt der Schweizer Fahrradhandel auf eines der erfolgreichsten Jahre zurück, und für 2018 sehen die Prognosen noch besser aus. Vom Erfolg können aber längst nicht mehr alle Marktteilnehmer gleich profitieren. Im Fachhandel wie auch in den Flächenmärkten hat eine deutliche Umverteilung begonnen.

Es ist keine Überraschung, dass das E-Bike in der Schweiz nach wie vor eine treibende Kraft hinter dem Markterfolg ist: 2017 wurden erstmals über 100.000 Pedelecs im Pioniermarkt verkauft. Die Inlandanlieferung stieg auf insgesamt rund 119.500 Stück. Zwar hatte die Marktanlieferung bereits in der Saison 2016 über 100.000 Einheiten betragen, doch hemmte damals das schlechte Wetter im Frühjahr den Abverkauf, wodurch viele 2016er Modelle erst im Folgejahr Käufer fanden. Stärkstes Zugpferd beim Boom der Elektrofahrräder ist aktuell das E-Mountainbike: Während die Pedelec-Verkäufe insgesamt um 16,5 % anstiegen, legte das Teilsegment der geländetauglichen Räder mit elektrischem Hilfsmotor um satte 38,3 % zu. Damit verzeichnete dieses Marktsegment bereits zum vierten Mal in Folge die höchsten Zuwachsraten im gesamten Schweizer Fahrradmarkt. 2017 war damit beinahe jedes dritte verkaufte Elektrofahrrad (29,6 %) ein E-Mountainbike. Neben gestandenen Mountainbikern, die mit zunehmendem Alter die Motorkraft zu schätzen wissen, sind vor allem junge Männer und Familien für diesen Wachstumssprung verantwortlich. Für diese letzten beiden Zielgruppen steht aber nicht unbedingt das Gelände als Ziel im Vordergrund. Sie schätzen vor allem die Tretunterstützung in Kombination mit der sportlichen Optik und nutzen ihre E-Mountainbikes oft im Alltagsverkehr.

Motorlose Räder behalten Bedeutung

Nach wie vor wächst aber auch die Nachfrage nach City- und Trekking-Elektrofahrrädern deutlich stärker als der Gesamtmarkt. Während 2017 die gesamte Inlandanlieferung in den Schweizer Velohandel um 1,8 % auf rekordverdächtige 500.896 Einheiten anstieg, wurden 84.185 alltagstauglich ausgestattete Pedelecs an den Schweizer Handel geliefert. Das entspricht einem Anstieg von 5,6 %. Treibende Zielgruppe hinter diesem Wachstum sind laut Aussagen zahlreicher Fachhändler vor allem Frauen unter 35 Jahre. Insbesondere junge Stadtbewohnerinnen haben das E-Bike nun als preiswertere und flexiblere Alternative zum öffentlichen Verkehr für sich entdeckt. Ein beachtlicher Teil der Neuverkäufe geht unterdessen auch an Leute, die bereits schon mal ein Elektrofahrrad besessen haben und die sich nun einen Ersatz dafür leisten.
Die stolzen Wachstumsraten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch mehr als drei Viertel aller in der Schweiz verkauften Fahrräder (76,1 %) keinen elektrischen Hilfsmotor besitzen. Nach wie vor das größte Teilsegment im Schweizer Fahrradmarkt sind Mountainbikes. Ihr Marktanteil hat sich in den letzten zehn Jahren zwar um die Hälfte verringert, liegt aber immer noch bei rund 30 %. Hier macht sich bemerkbar, dass der Markt gesättigt ist und die ursprüngliche Zielgruppe immer älter wird, während viel weniger Junge neu aufs Mountainbike steigen als in der Vergangenheit. Relativ stabil ist der Marktanteil von Alltags- und Trekkingrädern. Diese Kategorie profitiert davon, dass in den größeren Schweizer Städten deutlich mehr Rad gefahren wird als noch vor ein paar Jahren. Dies, weil Radfahren bei der jungen urbanen Bevölkerung momentan einfach »in« ist, aber auch, weil punktuelle Verbesserungen der Fahrradverkehrsinfrastruktur langsam, aber sicher Früchte tragen. Und anders als erwartet gräbt das Pedelec dem Alltagsrad nur wenig Wasser ab: Die Mehrheit der Schweizer(innen) steigt vom Auto und vom öffentlichen Verkehr um auf das Pedelec und wechselt nicht vom Fahrrad auf das Elektrofahrrad.
Ein leichtes Wachstum verzeichnet das Rennrad. Dies hauptsächlich, weil die noch junge Kategorie der Gravel Bikes mit ihrer Vielseitigkeit neue Leute anspricht. Weniger erfreulich ist hingegen die Entwicklung bei Jugend-und Kinderfahrrädern. Ihr Marktanteil nimmt seit Jahren kontinuierlich ab, was ein Zeichen dafür ist, dass eine wachsende Zahl Jugendlicher kaum oder gar nicht mehr mit dem Rad fährt. Von der Fahrradlobby wird diese Entwicklung mit zunehmender Sorge betrachtet. Man fürchtet, dass die Kinder von heute auch als Erwachsene weniger oft aufs Fahrrad steigen werden, wenn sie sich nicht schon in Ihrer Jugend damit vertraut machen.

Verfügbarkeit bremst Verkaufserfolg

In der Schweizer Fahrradbranche löst diese Entwicklung aktuell keine schlaflosen Nächte aus. Die Herausforderungen des Tagesgeschäfts sind für viele Fachhändler und deren Lieferanten so groß, dass ihnen kaum Zeit für langfristige strategische Überlegungen bleibt. Denn neben dem Verkaufserfolg bringt der E-Bike Boom auch einige Herausforderungen mit sich, die manchen Branchenteilnehmer an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bringen. Große Schwierigkeiten bereitet vielen Händlern momentan die Beschaffung: Wegen der hohen Nachfrage waren in der Saison 2017 und auch in diesem Jahr viele Elektrofahrräder schon früh ausverkauft. Eine größere Menge Fahrzeuge vorzuordern liegt für die meisten Geschäfte nicht drin, da sie sich aus Tradition mehrheitlich ohne Bankkredite selbst finanzieren müssen. Dass sie nun Räder mit elektrischem Hilfsmotor einkaufen müssen, die im Schnitt beinahe dreimal teurer sind als die motorlosen, die sie bislang verkauften, lassen sich Liquiditätsengpässe kaum vermeiden. Nicht wenige Händler mussten in den letzten 18 Monaten kaufwillige Kunden weiterziehen lassen, weil sie das passende Modell nicht an Lager hatten oder nicht nachbestellen konnten. Insbesondere die vielen kleinen, inhabergeführten Fachgeschäfte, die den Schweizer Fahrradhandel prägen, waren davon besonders betroffen.
Nutznießer waren größere Geschäfte und Ladenketten wie die Migros-Tochter M-Way, welche über mehr finanziellen Spielraum verfügen. Doch selbst wenn genügend Geld da ist, um Räder einzukaufen, ist die Verfügbarkeit von E-Bikes oft unsicher. Denn die Entwicklung und Fertigung der E-Bikes bringt auch viele Hersteller an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Die Auslieferung neuer Modelle verzögert sich teilweise um mehrere Monate. Praktisch jeder Händler kann von bestätigten Lieferterminen berichten, die nach hinten geschoben wurden. In einzelnen extremen Fällen beträgt die Wartefrist von der Vororder bis zur ersten Auslieferung ein ganzes Jahr.

Weniger Erfolg wegen Personalengpässen

Knapp sind im Schweizer Handel aber nicht nur Fahrzeuge, sondern auch qualifizierte Fachkräfte. Nachdem der Personalmangel in den wirtschaftlich schwierigeren Jahren von 2011 bis 2016 im Schweizer Fahrradhandel kaum ein Thema war, ist die Dringlichkeit des Fachkräftemangels seit Anfang 2017 wieder ganz weit nach vorne ins Bewusstsein der Branche gerückt. Denn in den letzten 18 Monaten stieg nicht nur die Nachfrage nach E-Bikes, sondern auch nach Serviceleistungen rapide an. Viele Schweizer Freizeitfahrer schwingen sich hauptsächlich bei schönem Wetter in den Fahrradsattel. Wenn dann bei milder und sonniger Witterung wie in den Frühjahren 2017 und 2018 mehr Kilometer gefahren werden, steigt im Gleichschritt auch der Verschleiß und damit die Nachfrage nach Reparaturarbeiten. Hinzu kommt, dass die Werkstätten wegen der komplexeren und empfindlicheren Technik von edlen Sportfahrrädern und E-Bikes immer mehr Zeit für die Bereitstellung vor dem Verkauf und für die Abwicklung von Garantiefällen und Serviceaufträgen benötigen. Manch ein Händler würde gerne weiteres Personal einstellen, doch findet er kaum geeignete Leute: Gemäss einer Zählung von dynaMot waren im März 2018 alleine in der Deutschschweiz über 100 Stellen unbesetzt. Dabei handelt es sich nur um die offiziell ausgeschriebenen Jobs. Manche Händler haben unterdessen resigniert und schreiben offene Stellen schon gar nicht mehr aus, weil sie nicht mehr an den Erfolg einer Stellenanzeige glauben. Verursacht wird das Problem unter anderem dadurch, dass viele ausgelernte Fachkräfte gleich nach Abschluss ihrer Ausbildung zum Fahrradmechaniker oder wenige Jahre später die Branche verlassen.
Mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten, geringer Verdienst und unflexible Arbeitszeiten sind gemäss einer Untersuchung von dynaMot und dem Schweizer Zweiradgewerbeverband 2rad Schweiz die Hauptgründe dafür. Die Untersuchung geht davon aus, dass mittelfristig die Hälfte der ausgebildeten Mechaniker den Job wechselt. Wie bei der Verfügbarkeit von E-Bikes für den Verkauf öffnet sich auch beim Personal die Schere zwischen den verschiedenen Geschäften des Schweizer Fahrradfachhandels. Größere und modernere Geschäfte sind unterdessen besser in der Lage, sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren. Ihnen fällt es entsprechend leichter, ihren Personalbedarf zu decken als den vielen kleineren, traditionellen Zweiradgeschäften, die zu einem großen Teil neben Fahrrädern auch noch Mofas und Motorroller im Angebot führen. Solche Mischbetriebe machen aktuell immer noch rund ein Viertel des Schweizer Fahrradhandels aus. Ohne Personal fällt es ihnen zunehmend schwer, die Bedürfnisse der Kunden zu bedienen und sie müssen diese weiterziehen lassen – zu Geschäften, die über die notwendigen Kapazitäten in der Werkstatt verfügen.

Neue Player am Start

Der Kampf um Kunden und Personal wird aber nicht nur härter unter den bestehenden Fachhändlern. Angelockt von den verheissungsvollen Rahmenbedingungen steigen zur Zeit verschiedene neue Player in den Schweizer Fahrradmarkt ein. Anfang 2017 war es der Detailhandelskonzern Migros, der mit dem Fachmarkt-Format »Bike World« ein weiteres Standbein im Fahrradhandel platzierte. Die Kette umfasst unterdessen vier Filialen mit der für Schweizer Verhältnisse außerordentlichen Größe von rund 1000 Quadratmetern pro Standort. Im Sommer 2017 eröffnete Decathlon seine erste Filiale in der Schweiz, eine weitere folgte im Frühjahr 2018. Spätestens ab 2019 wird der französische Sport- und Fahrraddiscounter in der Schweiz eine ernst zu nehmende Rolle spielen, weil er bis dann alle 24 Standorte des Sportfachmarkts Athleticum übernimmt. Mit Veloland steht ein weiterer Marktteilnehmer aus Frankreich am Start, der sich vom Schweizer Markt ein größeres Stück sichern möchte. Das französische ZEG-Mitglied betreibt bereits drei Standorte in der Genfersee-Region und will nun laut Berichten in der Wirtschaftspresse weitere Filialen eröffnen – unter anderem auch in der Deutschschweiz, die für den Schweizer Fahrradmarkt der weit wichtigere Landesteil ist.
Diese beiden expandierenden Ketten aus Frankreich bereiten nicht nur dem Einzelhandel Sorgen, sondern auch denmSchweizer Großhandel. Für die Zubehör- und Bekleidungslieferanten fällt durch die Übernahme von Athleticum durch Decathlon ein bedeutender Kunde weg, da der Sportdiscounter hauptsächlich mit spitz kalkulierten Eigenmarken-Produkten den Markt bearbeitet. Sie stehen vor der Herausforderung, den verloren gegangenen Umsatz 2019 über andere Verkaufskanäle zu kompensieren. Veloland wiederum ist bestens mit der Logistik der 80 Filialen in Frankreich verknüpft und ist somit nicht darauf angewiesen, von Schweizer Importeuren bedient zu werden. Dadurch kann die Ladenkette in Verhandlungen mit Schweizer Lieferanten ordentlich Druck aufsetzen, wenn diese die Zusammenarbeit verweigern oder unbefriedigende Konditionen anbieten.

Gleiche Herausforderungen für Alle

Einfach überrollen werden die neuen Marktteilnehmer den Schweizer Fahrradhandel aber nicht. Denn obwohl die Eurokrisen von 2011 und 2015 bei Schweizer Konsumenten die Preissensibilität geschärft haben, sind sie im Großen und Ganzen dem traditionellen Fachhandel treu: Seit Jahren konstant verkaufen Fachhändler zwei von drei Fahrrädern an Schweizer Radfahrer. Bei E-Bikes liegt die Quote gemäss Angaben des Schweizer Hersteller- und Importeureverbands Velosuisse mit 88 % nochmals deutlich höher. Im Servicebereich kommt kein Radfahrer am Fachhandel vorbei. Trotz teilweise wochenlanger Wartezeiten während der Saison werden die Angebote von Fachmärkten kaum genutzt, der Marktanteil des Fachhandels beträgt hier laut Berechnungen von dynaMot rund 95 %. Und auch umsatzmäßig hat der Fachhandel die Nase klar vorne: Rund 85 % des finanziellen Marktvolumens werden im Fachhandel erzielt, weil dieser klar die teureren Fahrräder und Elektrofahrräder verkauft als Fachmärkte und Onlineshops.
Um diese Dominanz brechen zu können, müssen die neuen Marktteilnehmer einiges in ihre Schweizer Präsenz investieren, und sie werden einen langen Atem brauchen, um die immer noch sehr loyalen und ortsverbundenen Schweizer Radfahrer abwerben zu können. Denn erfahrungsgemäß sind diese dem Verkaufskanal sehr treu und wechseln nicht einfach mal vom inhabergeführten Fachhandel zu einer Ladenkette, solange diese neben dem Preis nicht auch noch andere gute Kaufargumente bietet. Hinzu kommt, dass in Sachen Verfügbarkeit und Mitarbeiter die Spieße zwischen den etablierten und den neuen Marktteilnehmern gleich lang sind: Wenn Lieferanten die Ware nicht zum Saisonhöhepunkt bereitstellen können und der Personalmarkt ausgetrocknet ist, so betrifft das im Prinzip alle Einzelhandelskanäle gleich. Wer im Schweizer Fahrradmarkt künftig gewinnen und wer verlieren wird, hängt also auch künftig bei weitem nicht nur davon ab, wer das bessere Marketing und die tieferen Verkaufspreise bieten kann. Sicher scheint nur, dass der längst vorausgesagte Strukturwandel nun langsam, aber unabwendbar seinen Lauf nimmt.

2. Juli 2018 von Urs Rosenbaum
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