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Brockmann forscht, damit der Verkehr sicherer werden kann.
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Interview - Unfallforschung

»Wir haben hier kein sicheres Verkehrsmittel«

Die Zahl der Getöteten bei Unfällen mit Fahrrädern ist nach einem erfreulichen Trend, der lange Zeit anhielt, in den vergangenen Jahren wieder angestiegen. Der E-Bike-Boom gilt als Grund für diese Entwicklung. Handelt es sich bei den motorunterstützten Fahrrädern um eine Gefahr für die Allgemeinheit? Welche Reaktionen sind geboten? Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, fordert mehr Sicherheitsdenken von Händlern und Herstellern.

{b}Herr Brockmann, handelt es sich bei E-Bikes um gemeingefährliche Fahrzeuge?{/b}
Nein, definitiv nicht. Natürlich müssen wir zwischen den verschiedenen Arten unterscheiden – Pedelec, S-Pedelec und jenen, die ohne Tretunterstützung fahren. Gemeingefährlich ist keines davon. Sie eröffnen ja auch neue Möglichkeiten der Mobilität, das muss man ganz klar als Errungenschaft anerkennen. Allerdings gibt es spezifische Sicherheitsrisiken wie bei anderen Verkehrsmitteln auch, etwa dem Motorrad.

{b}Beispielsweise?{/b}
Beim Pedelec ist das Risiko überwiegend nicht das Fahrzeug selbst, sondern die Benutzergruppe. Die besteht bisher hauptsächlich aus Menschen jenseits der 60, was zu spezifischen Unfällen führt. Diese entstehen, weil die Menschen das Gerät nicht ausreichend beherrschen.

{b}Gibt es typische Unfall- und Verletzungsmuster, die Sie erkennen?{/b}
Zusammenfassend kann man sagen, dass vor allem der so genannte Fahrunfall das Problem ist: Der Nutzer verliert die Kontrolle über das Fahrzeug. Im direkten Vergleich mit nicht motorisierten Fahrrädern haben wir besonders viele Alleinunfälle. Was wir gemeldet bekommen, sind solche Unfälle mit schweren Folgen. Die Dunkelziffer ist enorm, denn die meisten Unfälle dieser Kategorie werden ja gar nicht gemeldet. Die Pedelecs sind schwerer als normale Räder, sind also schwieriger zu beherrschen. Noch entscheidender aber ist das Thema Geschwindigkeit.

{b}Aber die ist doch zumindest bei ­Pedelecs gedrosselt…{/b}
Das ja. Aber wir sehen Benutzer, oft sogar jenseits der 75, die in der Regel aus eigener Kraft die 25 km/h nicht erreichen könnten. Das funktioniert jetzt mühelos. Das bedeutet, dass manche Fahrerinnen und Fahrer mit Geschwindigkeiten unterwegs sind, die sie eigentlich nicht mehr beherrschen. Das ist einfach gefährlich.

{b}Ist das Risiko also so groß, dass Sie Einschränkungen fordern?{/b}
Ich beobachte erst einmal. Es gibt diese Risiken. Aber es gibt eben auch die großen Vorteile für diese Zielgruppe. Die Frage ist: Steht der Gewinn durch die neue Mobilität in einem vernünftigen Maße zu den Risiken und Schäden?

{b}Nun denn: Der E-Bike-Absatz boomt, fast eine Million solcher Räder gingen im Jahr 2018 an neue Besitzer – zugleich steigt seit ein paar Jahren die Zahl der schweren Radverkehrsunfälle mit Verletzten und Toten, was man auf E-Bikes zurückführt. Wie steht es denn um das Verhältnis dieser beiden Entwicklungen?{/b}
Wir müssen schon unterscheiden, was in der Statistik zu Unfällen mit normalen Fahrrädern und solchen mit Pedelecs steckt. Bei den Pedelecs sehen wir, dass es über drei Jahre im Schnitt pro Jahr 20 Prozent mehr Pedelecs im Markt gibt. Die Zahl der Unfälle mit Personenschäden (also mit Verletzten und Toten, Red.) steigt im gleichen Zeitraum fast auf das Doppelte – und bei den Todeszahlen gibt es, wegen der noch geringen Grundmenge, starke Schwankungen. Festhalten müssen wir also: Es gibt gemessen an den Stückzahlen ein klar überproportio­nales Wachstum bei den Pedelec-Unfällen – und das kann ja keine gute Entwicklung sein.

{b}Müssten etwa Senioren vor dem ­ersten Führen eines Pedelecs dann nicht zwangsweise einen Kurs machen?{/b}
Ich hole etwas weiter aus. Auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar 2012 habe ich mich schon mit dem Zweirad-Industrieverband und der Bundesregierung gestritten. Ich war dagegen, Pedelecs als Fahrräder zu betrachten, weil wir uns damit die Möglichkeit nehmen, Dinge anzuordnen. Aber da war ich allein auf weiter Flur. Der Gesetzgeber hat anders entschieden – und damit ist das Thema vorerst geklärt. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass es viele Akteure gibt, die an der bestehenden Regelung etwas ändern wollen. Das bedeutet: Ich kann heute nur appellieren, zum Beispiel an die Händlerschaft, dass sie auf die Risiken reagiert – etwa durch entsprechende Angebote für die Kunden.

{b}Kommt dieser Appell bei den ­Händlern Ihres Erachtens nach an?{/b}
Nicht jeder Händler macht eine ordentliche Einweisung, aber ich höre aus dem Fachhandel von vielen positiven Beispielen. Der VCD hat ein einheitliches Manual für solche Trainings vorgelegt. Das ist ein guter erster Schritt. Aus meiner Sicht sind die Händlerverbände mit der Industrie in der Pflicht, mit den Anbietern solcher Schulungen besser zu kooperieren. Der Point of Sale ist hier ein ganz entscheidender Punkt für die Sicherheit. Hier gehört die Empfehlung zum sicheren Fahren aus meiner Sicht zum Beratungsprozess.

{b}Sollten sich nicht auch die ­Konsumenten darum kümmern?{/b}
Es gibt ja von Vereinen und Verbänden diverse Angebote, auf die sollten die Kunden im Zweifel zurückgreifen. Aber da gibt es natürlich wieder ein Problem mit der Zielgruppe. Niemand will ja gern zu den Senioren gehören. Fahrradfahren, das trauen sich die meisten eben noch zu.

{b}Eine andere Zielgruppe, die jüngere, gilt als anfällig für ein anderes Risiko: Tuning. Könnte das vielleicht dazu führen, dass man den Status des Pedelecs nochmal überdenken muss?{/b}
Die Fahrradindustrie hat die Gefahren, die vom Tuning ausgehen, erkannt – gerade auch mit Bezug auf die Wertung von E-Bikes als Fahrräder. Mit der neuen DIN-Norm sind diese Geräte vergleichsweise manipulationssicher. Sicher gibt es Nerds, die das überwinden. Dieses Problem gilt es natürlich weiter zu beobachten. Aber die Hauptnutzergruppe der Senioren halte ich ohnehin eher für unverdächtig. Für die ist oft schon die 25 zu schnell.

{b}Aber es gab doch diverse Warnungen vor getunten Pedelecs…{/b}
Ja, und das auch zurecht. Denn in jedem Einzelfall kann das für alle Beteiligten auch zu einem Alptraum werden. Wenn jemand sich ein S-Pedelec kauft und das Kennzeichen weglässt, um Radwege benutzen zu können, ist das zwar gefährlich – aber er hat wenigstens Versicherungsschutz. Wenn aber jemand in den Regelkreis des Pedelecs eingreift, hat er plötzlich kein Fahrrad mehr – sondern ein Kraftfahrzeug ohne Versicherungsschutz. Das kann gerade auch für Geschädigte dramatisch sein.

{b}Aber nochmal: Das ist eher ein Nischenproblem?{/b}
Ja, das denke ich mit der neuen DIN-Norm schon. Zahlen hat es nie gegeben, denn die Polizei bemerkt ja kaum mal jemanden mit getuntem Pedelec. Die Händler sagen nicht offen, dass so etwas vorkommt. Die Online-Händler der Bausätze berichten auch nicht, wie gut das Geschäft läuft. Es war aber augenfällig, dass das Geschäft gut lief. Es ist zu hoffen und auch zu erwarten, dass sich das Problem durch die Neuregelung der Industrie deutlich verkleinert.

{b}Sehen Sie das Potential für ein seniorengerechtes bzw. ein Sicherheits-Pedelec?{/b}
Ich habe da schon einen Vorschlag gemacht, auch wenn die meisten aktuell nicht auf den Sicherheitsaspekt schauen. Das Pedelec, das ja nun mal als Fahrrad gilt, soll sich auch so fahren lassen und verhalten wie ein Fahrrad. Für mich gehört dazu zwingend, dass ein Mensch auf der Ebene nicht 25 km/h fahren kann, wenn er doch eigentlich nur Kraft für 15 km/h hat. Das ist relativ leicht technisch über die Drehmomentsensoren lösbar: Wieviel Watt kommen an der Kurbel an? Wie hoch ist die Endgeschwindigkeit? Mit einer solchen einfachen Anpassung der Endgeschwindigkeit bleibt der Nutzen erhalten, das ermüdungsfreie Fahren und das leichte Erklimmen von Steigungen.

{b}Sehen Sie Hersteller, die diesen Gedanken aufnehmen?{/b}
Nein, absolut nicht. Die haben ein anderes Problem: Die würden die 25 gern nach oben hin aufheben. Denn für die jüngere Zielgruppe ist sicher eine höhere Geschwindigkeit interessanter. Man hört von 32 km/h – aber das sagt niemand öffentlich, weil die Furcht ist, dass dann die Dinge sich auch in Richtung meiner Forderungen neu regeln. Denn es gäbe schnell wieder die Frage, ob der Gesetzgeber nicht eingreifen müsste und das Kraftfahrzeug-Thema wieder aktuell würde.

{b}Ist die Angst vor einer Neuregelung denn berechtigt?{/b}
Nun, ich persönlich bin der Meinung, wir sind eigentlich in derselben Richtung unterwegs. Rennradfahrer fahren 32 km/h oder schneller. Wer diese Power hat, soll sie auch auf dem Pedelec bekommen. Aber so soll es dann eben auch Einschränkungen für jene geben, die die Kraft nicht haben. Das ganze Paket ließe sich neu überlegen, ohne dass es unbedingt den Status des Fahrrads gefährden müsste.

{b}Immer wieder ist zu hören, dass Unfälle auch auf eine Fehleinschätzung etwa der anderen Verkehrsteilnehmer zurückgehen: Diese verschätzen sich bei der Geschwindigkeit der Pedelec-Fahrer. Ist das ein Problem?{/b}
Diese These haben wir mit einer ausführlichen Studie untersucht. Man hat zwar gesehen, dass der Schätzfehler der anderen Verkehrsteilnehmer bei höheren Geschwindigkeiten größer wird. Aber er wird niemals so groß, dass dadurch eine besondere Gefahr entsteht.

{b}Sehen Sie denn die Notwendigkeit zur Anpassung der Infrastruktur auf Pedelecs?{/b}
Es gibt ein grundsätzliches Problem mit der Infrastruktur: Der Hauptunfallort für Radfahrer sind Kreuzungen, Einmündungen und Ein- und Ausfahrten auf Grundstücke. Da ist die Autogeschwindigkeit meist sehr gering, die Geschwindigkeit des Radfahrers deutlich höher. Aber diese Unfälle sind schwer zu verhindern, wofür man etwa getrennte Abbiegeregelungen und weiteres benötigt. Wichtig wird aber auch die Breite der Radwege sein. Denn es gibt auf den Anlagen jetzt viel mehr Teilnehmer mit größerem Geschwindigkeitsunterschied und größerem Überholdruck. Vor Kurzem mag man sich mit 1,50 Meter Breite zufriedengegeben haben – aber bei viel Radverkehr ist alles unter 1,85 Meter eigentlich nicht mehr zu rechtfertigen. Und dafür braucht es noch nicht einmal E-Scooter, denn der Radverkehrsanteil steigt ja ohnehin.

{b}Das ist natürlich alles sehr lang­fristig…{/b}
Klar, und daher muss jedem Radfahrer heute klar sein: Wir haben hier kein sicheres Verkehrsmittel – und mittelfristig wird es das auch nicht.

{b}Sehen Sie denn, dass die Hersteller selbst heute die Sicherheit erhöhen?{/b}
Ja, das denke ich schon. Wenn man schaut, wie sich das in den vergangenen fünf, sechs Jahren entwickelt hat: Damals gab es Modelle, die nicht drehmomentabhängig funktionierten. Die Industrie justiert nach, etwa beim Tuning. Und mit den hydraulischen Scheibenbremsen gibt es auch das Potential für viel sichereres Bremsen. Wobei man hier sehr sorgfältig sein muss: Mit Blick auf die Zielgruppe müssen die Hersteller immer darauf achten, dass die Bremspunkte weit sind, die Bremsen soft. Ich fände es sogar wünschenswert, diese Räder mit ABS auszurüsten. Klar, das hat im Moment noch seinen Preis. Aber das dürfte nur eine Frage der Stückzahlen sein.

8. Juli 2019 von Tim Farin
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