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Berater Philippe Crist begeisterte mit seiner Key-Note zur Eröffnung.
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Report - Velo-City

Es geht ums große Ganze

Einmal im Jahr wirft die Szene der internationalen Fahrradaktivisten und Verkehrsplaner bei der Velo-City-Konferenz einen Blick auf globale Trends in Sachen Radverkehr. Für die über 1300 Teilnehmer der diesjährigen Auflage in Dublin ging es diesmal vor allem auch um die Frage, wie die Menschen in Zukunft leben wollen und werden.

Jahrelang, so der Eindruck, mühte man sich auf der Velo-City-Konferenz für mehr und besseren Radverkehr ab. Aber darum schien es in diesem Jahr gar nicht mehr hauptsächlich zu gehen. Angesichts der weltweiten Probleme in den Städten mit immer mehr und immer mehr älteren Einwohnern, weiter zunehmenden Staus, höherer Luftverschmutzung, einer bedenklichen Zahl an Verletzten und Toten im Verkehr, Bewegungsmangel etc. gehen die Gedanken viel weiter. Es geht nicht nur um Verkehr und Mobilität. Es geht auch nicht nur um den Klimawandel. Es geht darum, wieder lebenswerte Städte zu schaffen – und das Fahrrad ist ein wichtiger Teil davon.

Drohnentaxis, Weltraum oder eher grün?

In der Keynote zur Eröffnung des Kongresses stellte Philippe Crist, Berater für das International Transport Forum (ITF) bei der OECD die Frage, wie die Anwesenden sich die Stadt der Zukunft in ihrer Kindheit vorgestellt hätten. Per App entscheiden konnte sich das Publikum zwischen drei Alternativen:
A) fliegende Autos, Roboter, Drohnen
B) keine Städte – die Menschen leben in Raumschiffen
C) shared space, grün, sicher
Jeder, der an Bücher und Science-Fiction-Filme aus der eigenen Kindheit und Jugend zurückdenkt, wird nicht erstaunt sein, dass Alternative A mit Abstand die meisten Stimmen (rund dreimal so viel wie C und achtmal so viel wie B) bekam. Die Reflektion der Frage zeigt, dass »modern und hochtechnisiert« nicht grundsätzlich das wünschenswerteste Ergebnis liefert und sich unsere Vorstellung von einer zukunftsweisenden Stadt gerade in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen und den Entwicklungen und Herausforderungen formt sich gerade ein neues Bild. Ein Bild von Städten als urbane, lebenswerte Räume. Trotzdem bleibt das, was wir vor Jahrzehnten als wahrscheinlich und wünschenswert gesehen haben, natürlich immer noch in den Köpfen präsent. Kein Wunder also, wenn aus manchem Mund beim Thema Mobilität der Zukunft eher von neuen Antrieben oder High-Tech-Lösungen wie Hyperloops oder Flugtaxis die Rede ist, als vom über 200 Jahre alten Fahrrad.

Viele Informationen – eine Erkenntnis

Vor dem Hintergrund des Ziels, wieder lebenswerte Städte zu schaffen, macht auch die kaum überschaubare Menge an Informationen aus Vorträgen und Diskussionen Sinn. Die zentrale Erkenntnis: So unterschiedlich die Mobilitätskulturen, regionalen und sozialen Gegebenheiten weltweit sind, haben Radfahren, Zufußgehen und ähnliche Mobilitätsformen, wie E-Tretroller, nicht nur etwas zu tun mit Umwelt- und Klimaschutz, sondern ganz zentral mit den Menschen. Mit Gesundheit, Demokratie, sozialem Miteinander, Gleichberechtigung und sogar Kriminalitätsbekämpfung.
Städte und Gesellschaften verändern sich zum Negativen, wenn die Mehrheit isoliert hinter abgedunkelten Scheiben unterwegs ist, so eine weitere zentrale Erkenntnis, genauso wie zum Positiven, wenn mehr Fußgänger und Radfahrer unterwegs sind, man kommuniziert, unterwegs Bekannte trifft oder Fremden freundlich zulächelt. Auch die Regierungen und Kommunen spielen dabei eine zentrale Rolle: Menschen nach dem Motto »Freie Fahrt für freie Bürger« in Eigenverantwortung zu belassen und damit die Stärkeren und Wohlhabenden zu fördern, hat genauso seine Wirkung, wie die bewusste Vorsorge und der Schutz der Schwächsten, also der Kinder und der Alten. Dazu Philippe Crist: »Es gibt eine Konstante in der Stadtentwicklung, die immer im Mittelpunkt der Diskussion stehen wird. Wir sind es. Es ist das, was wir als Menschen verkörpern.«

Südamerika: Radfahren vs. Autochaos und Kriminalität

Radfahren und Zufußgehen haben eine bedeutende soziale Komponente. Das wurde aus Vorträgen zur Millionen-Metropole Mexiko City und zu Queimados, einem Vorort von Rio de Janeiro, deutlich.
Hier wird deutlich sichtbar, was passiert, wenn der Staat auf wenig Regulation und weitgehende Selbstverantwortung setzt und sich aus der geregelten Verkehrsplanung und -überwachung zurückzieht. So sind in Mexico City nicht nur stundenlange Staus für wenige Kilometer Fahrtstrecke die Regel, die inzwischen ein Familienleben neben der Arbeit oder einen Halbtagsjob in der Stadt praktisch unmöglich machen, sondern auch Laissez-faire und das Recht des Stärkeren Programm. Bis vor Kurzem brauchte man für den Führerschein keine Qualifikation und Alkohol wird im Verkehr ebenso geduldet wie grobe Verstöße gegen die Verkehrsregeln.
Das Fahrrad könnte in den dauerverstopften Straßen eine gute Alternative für Pendler sein. Aber es gibt zum einen keine Infrastruktur und zum anderen ist es für ungeschützte Verkehrsteilnehmer hier einfach lebensgefährlich. Laut Statistik entfällt auf Fußgänger, trotz geringem Anteil am Modal Split, rund die Hälfte der Verkehrstoten. Statistisch weniger Tote gibt es bei Radfahrern – aber nur deshalb, weil es kaum welche gibt. Daran und an der Sicherheit der Fußgänger arbeite man jetzt, wie die mexikanische Public-Policy- und Road-Safety-Managerin Clara Vadilio betonte.
Wie Radfahren auch zur Lösung sozialer Probleme beitragen kann, zeigt die brasilianische Stadt Queimados, nahe Rio de Janeiro - 2018 der Ort mit der höchsten Kriminalitätsrate in Brasilien. Mit dem Projekt Cycling for the future hat es sich die Stiftung Pedal Queimados zum Ziel gesetzt, wieder soziale Perspektiven, zwischenmenschliche Kontakte und gemeinsame Ziele zu schaffen. Unter anderem mit Radtouren und Werkstätten, in denen Räder repariert und Bambusräder neu gebaut werden. Die ersten Ergebnisse stimmen hoffnungsvoll: Mit der neugewonnenen Mobilität und neuen Aussichten gibt es laut Projektleiter Carlos Oliveira für Viele zum ersten Mal seit Langem wieder einen Lichtblick und einen Weg heraus aus dem Kreislauf von Langeweile, Drogen und Bandenkriminalität.

Schweden: Sicherheit für Radfahrer an erster Stelle

Genau das Gegenteil von Laissez-faire verfolgt man in Schweden. Mit dem im Jahr 1997 verabschiedeten erfolgreichen Verkehrskonzept »Vision Zero« haben die Schweden weltweit Maßstäbe gesetzt. Die aus dem Arbeitsschutz bekannte präventive Strategie folgt der Annahme, dass Menschen Fehler machen und Unfälle daher nicht gänzlich vermieden werden können. Es müsse jedoch dafür gesorgt und die Systeme so gestaltet werden, dass diese Fehler nicht zu ernsthaften Personenschäden führen. Ein Beispiel ist die Geschwindigkeitsreduktion und -überwachung gemäß der simplen Erkenntnis, dass die meisten Menschen, die von einem Fahrzeug mit 30 km/h angefahren werden, überleben, während es bei Tempo 50 dafür kaum eine Chance gibt.
In der Öffentlichkeit vielfach unbeachtet geblieben ist, dass Schweden die erfolgreiche Strategie seit 2017 unter dem Motto »Moving Beyond Vision Zero« neu definiert hat. Neu in den Mittelpunkt gerückt werden nun auch die öffentliche Gesundheit und besonders die erhöhte Lebensqualität durch aktive Mobilität sowie eine verbesserte städtische Umwelt. Dazu sieht die schwedische Regierung Strategien für die Stadtplanung vor, die zu mehr Radfahren, Zufußgehen und mehr Gesundheit beitragen sollen.

London: Healthy Streets

Was uns in Deutschland noch wie eine fremde Zukunftsvision erscheint, ist in London bereits Realität. Bereits 2014 wurde sogenannte Healthy Streets als Konzept in die Londoner Planungspolitik aufgenommen. Das von Lucy Saunders entwickelte und auf der Konferenz vorgestellte Konzept verbindet die Gestaltung der Straßen mit Verkehrs- und Gesundheitsfragen, fördert die Akzeptanz von aktiver Mobilität und stellt das Wohlbefinden des Einzelnen und die positive Erfahrung mit der städtischen Umwelt in den Mittelpunkt der Stadtplanung. In der Konsequenz bedeutet das: Straßen sind nicht mehr primär für Fahrzeuge gedacht, sondern wieder für Menschen, wobei das grundlegende Element das tägliche Leben ist. Sie werden umgedeutet und umgestaltet zu Räumen, in denen die Londoner interagieren, in denen Kinder spielen, man entspannt einkaufen, verweilen, arbeiten und aktiv zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sein kann.
Die damit verbundenen Ziele: die Luftqualität verbessern, Staus verringern und die Londoner Gemeinden grüner, gesünder und attraktiver zu machen. Das Konzept, das inzwischen in die langfristigen Zielsetzungen von Politik und Verwaltung Eingang gefunden hat, sieht unter anderem vor, dass 80 Prozent aller Fahrten in London bis zum Jahr 2041 zu Fuß, mit dem Fahrrad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchgeführt werden und alle Londoner pro Tag mindestens 20 Minuten aktive Mobilität leben.

Und bei uns in Deutschland?

Offensichtlich bewegen wir uns hierzulande beim Radverkehr irgendwo im guten Mittelfeld. Aber als Vorbild taugt Deutschland nicht. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse und einzelner Verbesserungsmaßnahmen sind wir bis heute weiter autozentriert. Während sich die EU-Kommission zum Beispiel längst am schwedischen Beispiel orientiert und das Ziel Null Verkehrstote bis 2050 mit Zwischenzielen beschloss, konnte man sich dem inhaltlich bei uns erst in der letzten Koalitionsvereinbarung der Bunderegierung anschließen. Entsprechende Maßnahmen sind inzwischen zwar angekündigt, aber noch nicht beschlossen. Priorität hat weiterhin nicht die Sicherheit, sondern das Auto. Das wird an vielen Stellen klar. Von den Vorbildern in Dänemark, den Niederlanden, Schweden oder London könnten wir lernen. Institutionen wie Copenhagenize oder die Dutch Cycling Embassy und Personen wie Philippe Crist oder Lucy Saunders verfügen über reiche Erfahrung und bieten überall auf der Welt ihre Beratung an. Vielleicht ja auch (öfters) mal bei uns. Wie gesagt, es geht nicht nur um mehr und sicheres Radfahren, sondern vor allem um lebenswertere Städte. Und wer will die nicht?

5. August 2019 von Reiner Kolberg
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