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Wertvolles Wachstum
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Portrait - Riese & Müller

Wertvolles Wachstum

Das Unternehmen Riese & Müller schuf einst ein Faltrad für Technik-Fans – und führt ein Vierteljahrhundert später eine der renommiertesten Marken der Branche. Wie der hessische Mittelständler diesen Weg beschreitet und welche Rolle heute noch die Menschen spielen, die damals in der Garage der Eltern mit dem Schrauben begannen.

Die Idee, mit der alles an­fing, ist noch immer im Ge­bäude. Man muss allerdings ein bisschen genauer hinschauen. Denn das neue Gebäude dieses Mittelständlers im hessischen Mühltal lenkt die Aufmerksamkeit der Besucher mit großzügiger Architektur, Sichtbeton und einem Panoramablick der Produktion, wo es klackert, hämmert, zischt und klingelt. Doch in einer Ecke am Ende der Gemeinschaftsfläche steht es auf Europaletten: das Birdy, das vollgefederte Faltrad, mit dem die Geschichte von Riese & Müller in den Neunzigern begann. Vier Exemplare stehen hier, darunter das erste Geometriemodell und der erste zusammengeschweißte Birdy-Rahmen. Meilensteine der Fahrradentwicklung in Deutschland – arrangiert wie für einen Transport. Geplant sei eine wechselnde Ausstellung im Haus, sagt der Unter­nehmenssprecher, doch es fehle einfach die Zeit.
Kein Wunder: Die Firma Riese & Müller wächst und wächst. Anfang des Jahres hat sie das neue Gebäude in Mühltal bezogen, ein Investment von 30 Millionen Euro. In den vergangenen beiden Geschäftsjahren wuchs der Umsatz um 67 und 62 Prozent – 2019 dürfte das Unternehmen die 150 Millionen Euro Umsatz überschreiten. 450 Mitarbeiter hat man inzwischen, eingestellt wird immer weiter. 26 Jahre nach der Gründung ist aus der Bastelei zweier Studenten längst eine Marke geworden, die bei anspruchsvollen Kunden für E-Bikes und Lastenräder ein erhebliches Renommée genießt und mit sehr guten Testergebnissen in Serie punktet.
Angefangen hat alles, als die beiden Darmstädter Maschinenbaustudenten Markus Riese und Heiko Müller sich Ende der 80er anfreundeten und dann gemeinsam in der Garage der Familie Müller an Rädern herumschraubten. Auf einer gemeinsamen Radtour durch Tunesien überlegten sie dann 1992, wie man ein Fahrrad vollständig federn könnte – heraus kam das Birdy, das legendäre Faltrad für Pendler, die komfortabel über jede Form von Untergrund fahren wollen. Ihre gemeinsame Firma gründeten die beiden jungen Männer, um mit ihrer Idee beim hessischen Innovationspreis teilzunehmen. Mit dem Birdy gewannen sie 1993 dann tatsächlich diese Auszeichnung. Ein Durchbruch. Der Brancheninsider Gunnar Fehlau, der früh für Riese & Müller in der Öffentlichkeitsarbeit tätig war, erinnert sich: »Sie gewannen Wettbewerbe und Awards, als diese noch einen wirklich aussagekräftigen Wert hatten, etwa auch den Shimano Design Contest.« Zweifelsfrei ist das Unternehmen aus dem Ingenieursdenken seiner beiden Gründer gewachsen.
»Die Leidenschaft für die Weiterentwicklung des Fahrrads war unser Antrieb und das ist bis heute so geblieben«, sagt Markus Riese. Damit sich dieser Satz nicht so liest wie das PR-Statement eines von kalifornischen Tech-Unternehmen inspirierten deutschen Start-ups muss man hinzufügen: Riese sitzt mit hochkonzentriertem Ausdruck am Tisch, sein schütteres Haar steht ein bisschen ab, sein Ton ist der eines Wissenschaftlers, der direkt aus dem Labor kommt. Während er redet, lässt sich ein Blick auf seine Fahrrad-Funktionsschuhe erheischen: Riese läuft tatsächlich mit Pedalplatten unter den Sohlen durch die Firma.
26 Jahre nach der Gründung ist Riese & Müller weiterhin ein inhabergeführtes Unternehmen. Doch seit 2013 gibt es drei Menschen in der Geschäftsführung: Neben den beiden Gründern arbeitet auch Sandra Wolf, die Ehefrau von Heiko Müller, als Geschäftsführerin an der Weiterentwicklung der Firma. Sie war von Markus Riese gefragt worden, ob sie die beiden im Unternehmen unterstützen wolle. Die drei haben ein vertrauensvolles, unprätentiöses Verhältnis im Gespräch, die Aufgabenverteilung ist klar: Markus Riese ist und bleibt der Mann für die technische Entwicklung. »Es ist schön, dass ich die Gelegenheit habe, mich weiter voll dieser Aufgabe zu widmen«, sagt er. Heiko Müller ist der Mann fürs Operative, er überblickt den Einkauf, die Produktion, den Vertrieb, die Buchhaltung und die IT. »Ich bin dafür verantwortlich, dass der Laden läuft«, sagt er, und seine Art zu sprechen ist deutlich direkter als die seines Mitgründers. Sandra Wolf wiederum, die zuvor zwei Jahrzehnte sehr erfolgreich als Expertin für Branding agierte und auch in der akademischen Lehre im Fach Marketing einen ausgezeichneten Ruf genießt, widmet sich der Strategie des Unternehmens sowie der Struktur und der Personalarbeit im Zuge des rasanten Wachstums. »Meine Leidenschaft ist diese großartige Marke, die ich weiter entwickle, internationalisiere und auch digitalisiere«, sagt Wolf. Mit ihrem Mann kümmert sie sich um die Internationalisierung der Firma. Auch bei ihr schwingt eine Ernsthaftigkeit mit, die keinen Zweifel aufkommen lässt: Hier geht es um mehr als den Verkauf schnelldrehender Produkte.
Während sich die drei Geschäftsführer an einem langen Esstisch direkt neben der Kaffeebar angeregt unterhalten, wobei ihnen jederzeit jeder lauschen kann, läuft im Hintergrund der montägliche Produktionsbetrieb auf Touren. Unten in der Fertigung sind nach dem Bau der neuen Halle derzeit sechs so genannte »Units« eingerichtet. Das sind die Einheiten in der Produktion, denen jeweils 35 Mitarbeiter eines Teams zugeordnet sind und die sich mit der Fertigung ihrer speziellen Räder beschäftigen. So gibt es eine Unit, die sich nur mit dem Aufbau von Lastenrädern beschäftigt, gegenüber arbeitet eine andere Mannschaft an E-Bikes vom Typ Culture. Immer wieder hört man einen Tusch, der ertönt, wenn jeder Mitarbeiter mit seinem Arbeitsschritt fertig ist und das Rad dann zum nächsten Kollegen weiterschieben kann. Etwa 400 Räder verlassen derzeit täglich das Werk, direkt an den Montageplätzen prüft ein Mitarbeiter die montierte Qualität, ehe das fertige Produkt zwei Schritte weiter im Versandkarton Richtung Speditionsausgang geschickt wird.
Die Fabrik in Mühltal ist hochmodern: Über Schienen an der Decke kommen Rahmen und Laufräder für jedes Fahrrad zu den Mitarbeitern, die Produktionsstraßen sind ergonomisch und bieten viel Licht und Platz. Zugleich ist das allermeiste hier Handarbeit. Das ist auch so, weil die Räder von Riese & Müller nicht in großen Stückzahlen auf Vorrat produziert werden, sondern »built to order«, wie es in der Fachsprache heißt. Meist geht der Produktion ein individueller Kauf beim Fachhändler voraus, mit persönlichen Anpassungen von Lastenrad-Ausstattung, Federweg und anderen Faktoren. Die Nachfrage nach den Produkten wächst, und so wird auch die Fertigung nochmal erweitert. Weitere Units sollen ab dem kommenden Jahr noch eingerichtet werden. Die Kapazität könnte dann theoretisch auf 700 Räder am Tag steigen. In einem Winkel ganz am Ende der Halle schraubt übrigens noch ein altgedienter Mitarbeiter an den Birdys. Heute machen sie nicht mal mehr ein Prozent der gesamten Produktion aus, aber sie gehören einfach zu Riese & Müller.
Während auf der anderen Straßenseite im Gewerbegebiet schon die Vorbereitungen für den Neubau einer weiteren Lagerhalle laufen, verfolgen die drei Geschäftsführer Riese, Müller und Wolf ihr gemeinsames Ziel. »Wenn ich sehe, wie die Leute unsere Produkte auf der Straße anwenden, dann motiviert das. Es ist schön, dass sich das für uns wirtschaftlich lohnt, aber Größe war nie der primäre Antrieb unseres Schaffens«, sagt Markus Riese. Sonst, glaubt er, hätte es schon früh viel Frust gegeben. Denn es war viel Geduld nötig, ehe das Unternehmen den Status errang, den es heute hat. Oft, so hört man, waren die Gründer dem Markt ein bisschen voraus, sodass die erdachten Ideen noch kein Publikum fanden oder es noch keine passende technische Lösung gab, etwa beim E-Antrieb. Damit experimentierte Riese & Müller schon 1996, etwa mit einem Heinzmann-Motor am Birdy. Doch waren die beiden Ingenieure nicht überzeugt und warteten letztlich bis 2008, als sie auf der Eurobike ihre ersten drei E-Bikes vorführten.
Wenn man Markus Riese dabei zuschaut, wie er den Sattel eines Load-Cargobikes für das Foto verstellt, ist klar: Dieser Man kennt hier jede Schraube. Es zeigt auch, dass Riese & Müller gut vom Geist seiner Gründer lebt. Die Ideen für die Weiterentwicklung kommen aus eigenem Erleben, vom Feedback der Mitarbeiter, die mit E-Lastenrädern herumfahren. Das Unternehmen definiert eigene Ansprüche. »Man muss sich am Komfort und der Sicherheit von Autos orientieren«, sagt Markus Riese, den ein Mitarbeiter als »Daniel Düsentrieb der Firma« tituliert. Schon früh legte er Wert darauf, über den Vorgaben von Normen zu testen, denn die Anforderungen an E-Bikes, so die Überzeugung, müsse man ganz neu betrachten. Diese Herangehensweise hat das hessische Unternehmen in der Branche zu einer Einflussgröße werden lassen. Mit Schwalbe diskutiert man beispielsweise die Gummimischung für mehr Sicherheit schwerer Pedelecs, mit Bosch kooperiert man eng bei der Motorentwicklung. »Ich finde es wirklich schwer, bei unseren Mitbewerbern jemanden zu finden, der das Thema Alltagsmobilität so ernst nimmt wie wir. Und das höre ich auch von den Zulieferern«, sagt Riese.
Ein Beispiel für den eigenen Anspruch: Geht man vorbei an der Kaffeebar durch zwei Türen im ersten Geschoss des Gebäudes, so erreicht man die Laufradproduktion. Riese & Müller kauft keine fertigen Laufräder, sondern lässt die Räder für jedes einzelne Rad hier in Mühltal anfertigen: Speichen in die Nabe stecken, Einspeichen in der Maschine, Qualität kontrollieren, nachjustieren. Man habe bei diesen kritischen Teilen einfach zu viele schlechte Erfahrungen gesammelt, also baut man selber.
Schaut man sich die Räder an, die Riese & Müller produziert, dann entwickeln sie sich immer mehr weg vom bloßen Fahrrad mit Unterstützung. Control Technology, ABS, digitale Technik am Rad – es geht hier nicht mehr ums Gewichteinsparen. »Es entsteht eine neue Produktkategorie«, sagt Heiko Müller. Es geht um Lifestyle, Komfort und Sicherheit. »Man muss sich an Autos als Benchmark orientieren«, ergänzt Markus Riese. Wenn es um die Spezifikation von Komponenten geht, gilt der Mittelständler als qualitätsgetrieben. Nicht der niedrigste Preis ist das Ziel, sondern, dass die Produkte dem Ruf der Marke gerecht werden.
Überhaupt lehnen es die Macher aus Mühltal ab, sich allzu sehr über Marketing zu äußern, obwohl Sandra Wolf hier ja erwiesenermaßen Expertin ist. Sie hält nicht viel von vordefinierten Zielgruppen, vielmehr orientiert sie sich in der strategischen Ausrichtung an Bedürfnissen der Mobilität. Als sich das Unternehmen für den Einstieg ins Geschäft mit Lastenrädern entschied, sei dies für die Marktforschung noch gar kein messbarer Ansatz gewesen. Aber mit einem Blick auf die Weiterentwicklung urbaner Mobilität sei dies eben ein logischer Schritt gewesen. Im Kern richte man sich an Menschen, die auf Zweitwagen verzichten oder das Autofahren reduzieren wollen. Aber: »Wir wollen keine Anti-Autolobby aufbauen, sondern die Städte mit gezielten Maßnahmen lebenswerter gestalten«, sagt Wolf.
Besonders betont Wolf die Werte, die für das Unternehmen zentral sind. Die Chefs sind da und präsent, die Büros bieten viel Platz für Austausch, Mitarbeiter aus Produktion und Verwaltung haben gleichviel Urlaubstage. Das Unternehmen wirkt wie ein Muster klug durchdachter Arbeitsverhältnisse. Unterschiedliche Bezahlung nach Geschlecht wird verhindert, es gibt nur eine Schicht und keine Wochenendarbeit. Man ist zudem ökologisch: Solarzellen liefern Energie, die Mitarbeiter holen sich ihr Wasser aus Trinkbrunnen im Gebäude, auch den Kaffee trinken sie aus wiederverwendbaren Bechern. Vier Mitarbeiter mit Behinderung kommen von der Diakonie und werden hier ins Arbeitsleben integriert. Alle Kollegen profitieren von günstigen Angeboten an der Kaffeebar, wo es ausschließlich Lebensmittel in Bio- und Demeterqualität gibt sowie Milch von einem nahegelegenen Biobauernhof. Bei der Werkskleidung stellt man um auf Textilien von Vaude – auch wegen der nachhaltigen Ausrichtung des Lieferanten.
Der Erfolg bedeutet auch die große Herausforderung für die Chefs: »Wir sind immer präsent und leben das vor, was wir für richtig halten«, sagt Heiko Müller, »wir arbeiten jeden Tag hart daran, dass die Werte nicht kippen, auch wenn wir immer größer werden – bei unseren Produkten und bei unserer Kultur.« Das ist nicht selbstverständlich, das kostet Mühen. Beispielsweise hat man jetzt einen Mitarbeiter, der sich nur um das Ankommen aller neuen Mitarbeiter kümmert. 450 Menschen sind schon angestellt, die Zahl wächst weiter. Die Expansion läuft weiter.
Das Geschäft der Zukunft möchten die Entscheider von Riese & Müller auch weiterhin mit dem Fachhandel machen. »Das volle Potential des Rades können wir ausschöpfen, wenn Fachleute den Kunden ideal beraten und die Einstellungen individuell ­vornehmen«, sagt Heiko Müller. Überhaupt ist bei einem hochtechnischen, wartungsintensiven Produkt die Rolle des Handels aus seiner Sicht nicht zu ersetzen. »International kristallisiert sich ein neuer Händlertyp heraus, der sich als Botschafter der Mobilität der Zukunft positioniert.« Die Größe eines solchen Partners, sagt Müller, sei nicht entscheidend, sondern vielmehr seine Kompetenz und sein klarer Fokus.
Das Unternehmen ist nicht nur in Deutschland erfolgreich. Das Wachstum wird auch von Kunden in Nor­wegen, in den Niederlanden, in den USA und vielen anderen Ländern getrieben. Es ist ein sehr guter Moment in der Geschichte von Riese & Müller. Sind die beiden Gründer stolz auf das Erreichte? »Nur in ganz seltenen Momenten«, sagt Heiko Müller, »meistens laufen wir rum und fragen uns, was sich noch verbessern lässt, wo Abläufe noch nicht stimmen, wo ­Prozesse haken. Wir haben so viele Themen im Kopf – und um die voranzubringen, brauchen wir die Zeit, die wir sonst für schöne Erinnerungen hätten.«

27. August 2019 von Tim Farin

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