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Die Hallen waren voll - wer braucht da noch genaue Besucherzahlen?
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Frühjahrsmesse oder Festival?

Berliner Fahrradschau zeigt Fahrrad-Pop-Kultur

Die Berliner Fahrradschau hat sich in den letzten Jahren als wichtige Frühjahrsmesse etabliert: Wer am Wochenende vom 3. bis 5. März durch die Hallen schlenderte, erlebte Fahrradkultur in Reinform. Und dies gepaart mit einer ganz eigenen (Festival-) Stimmung.

Die Hallen waren voll - wer braucht da noch genaue Besucherzahlen?Premiere in Berlin: Christian Karius mit Red RebaneDie Marke Podia von Max und Mada Skalska BurgessHeimspiel: I lockit aus BrandenburgHeisenberg: direkter Kundenkontakt gesuchtMuli - Cargobikes aus der Feder von Sören GerhardtRondo: Neue Marke im Vertrieb bei Sports Nut

Vor der Haupthalle der „Station Berlin“ sitzen am Samstagmittag hunderte Frauen und Männer im Sonnenschein auf dem Boden, Kinder flitzen begeistert zwischen ihnen herum, es wird viel übers Radfahren debattiert, vor allem in seinen aktuell hippen Ausprägungen, aber auch viel gelacht. Am Rand kleine Essensstände, Getränkebuden; die Berliner Fahrradschau ist eher ein Kulturereignis als eine Messe. Gezeigt werden Produkte, erlebt wird aber der Lifestyle, für den sie stehen. Wer jetzt denkt, der schöne Schein ist wichtiger als das Sein, wird eines besseren belehrt.

Handarbeit als Aushängeschild

Das Label Red Rebane von Christian Karius, zum ersten Mal auf der Messe, zeigt Taschen für Fahrradfahrer. Die meisten sind aus Cordura gearbeitet, innen sind Folien aus Werbeplakaten oder Airtex eingefasst und machen sie wasserdicht. Besonderes Augenmerk hat man auf die Anordnung der einzelnen Taschen und hochwertigen, leichtgängigen und einhändig bedienbaren Verschlüsse, oft aus dem Outdoor- oder Bergbereich, gelegt. Wie so oft kam die Idee als private Problemlösung. Weil Karius keine passende Tasche auf dem Markt fand, entwickelt er eine Rahmentasche fürs Oberrohr. Die kam auch bei den Freunden gut an – und mittlerweile produziert er mit drei Angestellten viele Taschen in Serie. Alle hochqualitativ – und hochpreisig. Zur Messe kommt er, weil hier "Kreativität zum Anfassen" geboten wird. Alles, was im klassischen Fahrradladen fehlt, ist hier an einem Ort versammelt. Was man sich von der Messe verspricht? "Reichweite!" meint Red Rebane-Marketing-Mann Stephan Porth, "weil regional sind wir schon recht gut".

Kreativität muss nicht auf ein Thema begrenzt sein: Podia von Max und Mada Skalska Burgess widmete sich zunächst der Entwicklung von Radtrikots und Bibs, auch hier war es nicht weit zur Serienproduktion. Mittlerweile bietet man aber auch erfolgreich in Magdas Heimatland Polen angrenzenden Ländern geführte Rennrad-Touren an. Und schließlich gewannen sie den Hersteller Genesis für sich, der nun das Volare 853 für sie entwickelt hat, ein Renner für den Touren-Guide. Zur BFS kommt man, "weil hier das meiste Flair ist", so Magda. Mittlerweile verkauft man nicht nur online, sondern auch in zwei Läden in Italien und Hongkong.

Wer versteckt mehr Ideen im Produkt?

Von London scheinen sich viele Kreative auf zur BFS gemacht zu haben. Greta Jankunaite und Zulfi Jqbal sind dort 2014 mit ihrer Marke Vel-Oh in die Taschenproduktion eingestiegen. Auf den ersten Blick fallen beim Nip-Out-Bag nur das kleine Format und die schmalen Tragriemen auf. Wenn Jqbal anfängt zu erklären, wird allerdings klar: In diesen kleinen Dingern aus gewachster Baumwolle, die jetzt in Irland produziert werden, stecken sehr viele Ideen. Spezielle Reißverschluss-Anordnungen, Verrutsch-Sicherungen, versteckte Taschen, viel Verarbeitungs-Know-how und auch hier viele Handarbeitsstunden stecken in den kleinen Dingern. Das Nip-Out Bag mit verstellbaren Lederriemen kostet 65 Euro.

I lockit ist ein Startup aus Brandenburg an der Havel, welches laut Gründer das erste automatische Fahrradschloss entwickelt hat. Ab Mai bekommt man eine Rahmensicherung, die per App, per digitalen Schlüssel oder einfach durch Weggehen verriegelt wird. Über Bluetooth löst der Mechanismus aus. Befestigt wird das Schloss, ist keine Aufnahme am Rahmen, mit Kabelbinder-ähnlichen Klemmen. 119 Euro wird die digitale Sicherung kosten, für die schon 2.200 Vorbestellungen eingegangen sind. "Eine coole Messe mit Ideen ist die BFS“, findet man auf beim Stand von I lockit, „und da wollen wir dabei sein“.

BFS eine Erfindermesse?

Tatsächlich hat man gelegentlich den Eindruck, durch eine Erfindermesse zu laufen. Egal, um welches Produkt es sich handelt, Standard-Lösungen gehen bei diesen Neuheiten unter. Kreativ sind aber auch die Besucher. So bot man für 2017 beispielsweise auch einen Zentrier- und einen Flick-Workshop an – und zwar speziell für Frauen. Überhaupt scheint die Atmosphäre auf der BFS dazu geeignet zu sein, "dass Frauen viel entspannter auf Technik zugehen", so Dirk Stölting vom Getriebehersteller Pinion. Auf dem kleinen Pinion-Stand jedenfalls soll zu erkennen gewesen sein, dass sich die durchaus zahlreichen weiblichen Besucher viel leichter für Technik am Rad begeistern können, wenn sie nicht Angst haben müssen, bei einem falsche Wort gleich besserwisserisch berichtigt zu werden.

Die Normalos kommen

Exklusive Marken, deren Namen man im Otto-Normal-Fahrradladen nicht hört oder gar sieht, stehen hier kuschelig eng beieinander. Doch dazwischen findet man auch immer Aussteller, die man hier gar nicht erwarten würde: die Cycle-Union-Tochter Rabeneick etwa. Nach dem Relaunch des Labels habe die Messe für die Oldenburger enorm an Bedeutung gewonnen, so Marketing-Mann Felix Hildebrandt, "außerdem kämen auch immer mehr namhafte Hersteller hierhin." Die Rabeneick-Bikes am Stand sind vor allem urban geprägt, haben einen dezent-sportlichen Auftritt und sind in der Range von etwa 600 bis 1.400 Euro angesiedelt.

Auch Rose präsentierte auf relativ großem Stand einen Teil seiner Radkonzepte. "Nachdem die Messe nicht mehr so stark subkulturell geprägt ist", so Marketingleiter Anatol Sostmann, "sind wir hier genau richtig. Wir zeigen den Hippen, dass wir da sind. Man kann auch die Subkultur auf eine neue Ebene hieven", meint man bei Rose selbstbewusst. Da für Rose als Versender immer den direkten Kontakt zum Kunden sucht, ist die – optisch übrigens eher dezente – Präsenz auf der Messe für ihn ohnehin naheliegend.

Ähnlich sieht man das beim Direktvertreiber Heisenberg. Die feine E-Bike-Marke empfing den Besucher gleich zentral am Eingang der Messe. Auch wenn der Messe-Fokus wie auch jener der Besucher sicher nicht auf E-Mobilität lag, sieht Jonathan Eziashi die BFS als erstklassige Gelegenheit, potenzielle Testfahrer und so auch potenzielle Kunden zu gewinnen. Funktionsweise: Der Kunde sagt hier Interesse zu, und das Unternehmen kommt demnächst mit Lieferwagen und Testbikes bei ihm vorbei.

Lastenräder, kreativ

Muli, auch ein Crowdfunder-Unternehmen, steigt in die fast schon berstende Nische der Lastenräder ein. Das Konzept: vorn 16, hinten 20 Zoll, dadurch kurzer Radstand, ein selbst entwickelter Metallkorb mit satten 70 Kilogramm Zuladung. Wenn nicht genutzt, wird er auf gerade einmal 30 cm Breite zusammengefaltet. Relativ günstige 2.300 Euro Einstiegspreis soll der Muli ohne Motor kosten, mit Pendix E-Antrieb und vielfältigem Zubehör wie den Kindersitz ist der Lastesel auch zu haben. Nachhaltigkeit ist inklusive – nahezu alles kommt aus Hessen, worauf Geschäftsführer und Produktdesigner Sören Gerhardt stolz ist.

Nachhaltigkeit ist einer der formgebenden Gedanken bei einem anderen Maultier auf der BFS: Myesel ist ein Holzrad nach Maß. Nicht nur das Rad, auch die Software, die dem Kunden die Möglichkeit zum individuellen Fahrrad gibt, wurde vom Linzer Christoph Fraundorfer und seinen Leuten geschaffen. Wer einen Myesel bestellen will, kann in eine einfach verständliche Konfigurationsmaske seine Körpermaße eingeben und einen Urban-King-Tourer oder einen Streetfighter mit sportlicher Sitzposition und Carbonfelgen in Auftrag geben. Auch ein Tiefeinsteiger soll bald lieferbar sein. Der Rahmen ist bis auf das Ausfallende und den Steuerkopf aus verleimten Eschenholzschichten gefertigt. Von der Entwicklung bis zur Fertigung ist alles computergestützt. Das Finish des Esels überzeugt auf den ersten Blick. Auch an diesem Stand sieht man, dass Ambition auf der Messe fast auch immer Qualität bedeutet. Weiter im Tierreich: Cargobike Monkeys von Rainer Hövermann und Kirk Seifert, entwickelt vom Griechen Stathis Stasinopoulos sind Lastentransporter im Long-John-Format in ungewöhnlichem Design. Technischer Clou: die Anlenkung der Steuerung mit Bowdenzügen statt Lenkgestänge. Für die Kreation erhielt man den Cycle Award in Gold – diese Preise vergab Chefredakteur Wolfgang Scherreicks passenderweise auch auf der BFS.

So jung die Ideen, so jung und stylisch oft auch die Stände. Die großen, traditionell weniger Lifestyle-orientierten Unternehmen hatte zumindest gefühlt gelegentlich Probleme, sich hier jung und frisch einzufügen. Messingschlager etwa versuchte, die etwas weich gespülte stilistische Subkultur einfach mit viel farbenfrohem Dekor zu kontern, Sram traf mit eher rustikalem Auftritt gefühlt näher ins Schwarze. „Alternativ“ zählt – natürlich auch bei den Kaffee- und Snack-Ständen vor und in den Hallen: Bio-Espresso mit Hafer und Soja? Irgendwie schaffte es auf dieser Messe sogar die vegane Fraktion, emotional daherzukommen.

Gravelst du schon?

Wie im Vorjahr war der Bikepacking-Sektor stark vertreten, das Fatbike stand dabei deutlich im Hintergrund – schmalere Reifen sind angesagter. Einen besonders interessanten Neuzugang konnte Sports Nut in dieser Hinsicht mit dem polnischen Label Rondo zeigen: Das Ruut ist ein Gravelbike mit verstellbarer Geometrie. Szymon Kobylinski, Leiter des Labels, erklärte dazu: „Durch die verstellbare Geometrie (die versetzbare Vorderachse, d. Autor) lässt sich das Bike von einem gemäßigt sportlichen Gravel- oder Marathon-Bike zu einem flotten Renner verwandeln.“ Reifen bis zu 40 Millimeter Breite passen in die Durchläufe. Eine weitere Besonderheit: Das Ruut gibt es in Stahl, Alu und, das Spitzenmodell, in Carbon. Besonders auffällig ist die Detailverliebtheit, mit der die Polen vorgegangen sind. Nicht nur die funktionale Ausstattung, auch das elegante Finish und die eigene Formensprache der Modelle können überzeugen. Von günstigen 1699 bis 3699 Euro werden die Ruuts kosten. Christian Schneider, Einkaufsleiter von Sports Nut, sieht in der BFS die ideale Location für die Marken seines Unternehmens: „Die Berliner Fahrradschau hat sich gut entwickelt, der Zuspruch wird gefühlt immer größer und auch das Angebot ist etwas in die Breite gegangen.“ Eine weitere Öffnung der Messe für Bereiche weit jenseits der heute vertretenen hält er aber nicht für geboten. Schließlich soll das Profil der Messe nicht verloren gehen.

Das hält man auch intern so: Daniela Odesser, neue Pressesprecherin der Messe, sieht auch in einem weiteren Wachstum der BFS wenig Sinn. So hat man zwar – sicher auch in Anbetracht der aktuellen Marktlage – den Sektor E-Mobility etwas vergrößert, wenn das vorhandene Platzangebot in den Hallen vollständig ausgereizt ist, will man aber nicht nach weiteren Möglichkeiten zur Ausweitung suchen. „Wir wollen nicht die größte, sondern die bestmögliche Auswahl präsentieren.“ In diesem Sinne wurde auch die Kommunikation von konkreten Besucherzahlen der BFS bereits letztes Jahr beendet – auch vor dem Hintergrund, dass die angegebenen Besucherzahlen und -Rekorde von anderen Messen in den letzten Jahren immer weniger nachvollziehbar geworden waren. Immer seltener lassen sich die von Messegesellschaften veröffentlichten Zahlen mit dem von Besucher gefühlten Andrang in Einklang bringen.

Kreativität und Chaos

„Über 300 Marken, Hersteller, Manufakturen und Initiativen“ waren es laut Schlussbericht der Messe, die das Wochenende zum Volksfest für Fahrradbegeisterte machte. Nicht zu vergessen sei hier die vorangestellte Berlin Cycle Week, die mit vielen sportlichen und kulturellen Events in der Stadt oder auf dem Gelände der Station zum Mitmachen animierte. Das ging von der Langen Nacht der Bike Shops über den Mauerradweg-E-Ride und den Berlin Tweed Day am Samstag bis hin zu den Radpolo- und Trial-Wettbewerben, die während der Schau auf dem Messegelände selbst stattfanden. Nicht nur besonders ambitionierte Radsportler kamen also bei diesen und vielen weiteren Events auf ihre Kosten, sondern auch Biker und Radinteressierte vieler Couleur.

Wo viel Kreativität ist, da ist manchmal auch Chaos: Eine perfekt durchorganisierte Veranstaltung war auch die BFS 2017 nicht; hier gibt es noch Luft nach oben. Doch es bereitet keinerlei Probleme, über das ein oder andere Detail hinwegzusehen – interessante Produkte und erfolgversprechende Gespräche in der richtigen Atmosphäre machten Aussteller und Besucher sichtlich zufrieden.
Und auch wenn das dezidiert keine Business-Messe war: Immer mehr Händler scheinen sich für die BFS zu interessieren. Aussteller konnten entsprechend von erfolgreichen Händlergesprächen erzählen. Michael Nagler von Mika Amaro etwa berichtete von drei neuen Händlern, die er am Samstag für seine Marke gewonnen hatte.

Auch die Veranstalter förderten aktiv die B2B-Kommunikation; zum Beispiel mit dem weiteren Ausbau der „B2B-Plattform“, wozu etwa der E-MTB-Think Tank gehörte, in dessen Rahmen über die Zukunft dieses Rads debattiert wurde. Andere Firmen nutzten den Messetermin, um ihre Händler zu schulen. Alles das führte auch dieses Jahr gelegentlich zu Aussagen im Tenor von: „So wünsche ich mir die Eurobike auch!“

8. März 2017 von Georg Bleicher
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