Report - Kinder
Aus Fußgängern werden Radfahrer
Radfahren ist in Deutschland Kulturgut. Niemand fragt, ob man es kann, es wird einfach vorausgesetzt. Wer es nie gelernt hat, ist zwar als Erwachsener kein Außenseiter, aber ihm fehlt etwas. Aus diesem Grund gehen nach Schätzungen des Sportwissenschaftlers und Radfahrlehrers Christian Burmeister jedes Jahr ein paar tausend Erwachsene in Radfahrschulen, um über Wochen mühsam das nachzuholen, was sie in ihrer Kindheit verpasst haben.
Wer ihnen zuschaut, bekommt eine Idee davon, wie wichtig Radfahren für jeden Einzelnen ist. Ein Blick in ihre Gesichter verrät: Radfahren lernen ist anstrengend. Hochkonzentriert mit ernsten Gesichtern sind die Erwachsenen bei der Sache.
Wie Kinder üben sie anfangs mit Rollern. Rechten Fuß aufs Trittbrett, nach links kippen und sich mit dem leicht abgespreizten linken Fuß auffangen. Immer wieder. Bis sie sich irgendwann sicher fühlen, ein Gefühl fürs Gleichgewicht entwickeln und den nächsten Schritt in Angriff nehmen.
Für Kinder ist der Lernprozess wesentlich leichter. Sofern sie die Zeit und Gelegenheit haben, es auszuprobieren und zu üben. Immer und immer wieder. Genau das kommt bei vielen Kindern heutzutage zu kurz. Die Gründe sind vielschichtig und bewegen sich oft in Extremen. Sie reichen von Freizeitstress bei den Kleinen bis zur Verwahrlosung, vom überbehüteten Elternhaus bis zum Haushalt, in dem schlicht das Geld für Roller oder Fahrrad fehlen.
Zeitfresser Smartphone und Co
Rad und Roller bekommen zudem seit ein paar Jahren ernstzunehmende Konkurrenz: Smartphone, Tablet und Co. unterhalten die Kinder mit Spielen, Apps und Videos. Gerade die Mobilgeräte verbreiten sich rasant und sind extrem beliebt, wie verschiedene amerikanische Studien zeigen. Laut der Untersuchung »Kids and Consumer Electronics: 2012 Edition« hat sich die Tablet-Nutzung bei den Zwei- bis 14-jährigen von 2011 auf 2012 von drei Prozent auf 13 Prozent gesteigert.
Die amerikanische Non-Profit-Organisation »Common Sense Media« stellte in ihrer Studie »Zero to Eight« fest, dass die bis Achtjährigen in Amerika weniger Fernsehen und sich weniger DVDs anschauen als zwei Jahre zuvor. Dafür hat sich die Zeit, die die Kinder mit Mobilgeräten verbringen von fünf Minuten auf 15 Minuten verdreifacht. Die Kinder, die Handys, Smartphones und Tablets häufig nutzten, waren 2013 damit täglich eine Stunde und sieben Minuten beschäftigt. Zwei Jahre zuvor waren es noch 43 Minuten. Die Zeit, die sie mit Spielen auf diesen Geräten zubrachten, stieg von 33 auf 63 Prozent, die Nutzung von Apps von 16 auf 50 Prozent und die Zeit, die sie mit Videos verbringen, von 20 auf 47 Prozent.
»Tablets verhindern Bewegung. Sie stehlen den Kindern Bewegungszeit«, sagt der Sportwissenschaftler Achim Schmidt von der Sporthochschule Köln. Zeit, die wichtig ist, um motorische Fähigkeiten auszubilden, die ihnen später fehlen, etwa um Radfahren zu lernen. Aber nicht nur das.
»Durch Bewegung wird auch immer die Hirndurchblutung angeregt«, sagt Schmidt. Wer Sport treibt, weiß aus eigener Erfahrung: »Beim Laufen oder Radfahren bekommt man gute Ideen.« Radfahren beziehungsweise Bewegung an sich, steigert die Vernetzung zwischen den Nervenzellen. »Je besser die Nervenzellen vernetzt sind umso besser können sie auf Reize in ihrer Umgebung reagieren«, erklärt der Sportwissenschaftler. »Umso besser kommen die Kinder in ihrer Umwelt zurecht.«
Beim Radfahren können immer wieder neue Reize ausgelöst werden, weil die Fähigkeiten ausbaufähig sind. Vom Fahren auf einer Linie hin zum Balancieren auf einen Balken. Zudem baut diese Bewegung Stress und Aggressionen ab und die Kinder können sich im Unterricht besser konzentrieren.
Rollertraining in der Schule
Vor diesem Hintergrund sind die hohen Durchfallquoten bei Radfahrprüfungen doppelt alarmierend. 25 Prozent der Kinder in der Hamburger Grundschule Arnkielstraße sind vor ein paar Jahren durch die Radfahrprüfung gefallen. Damit wollte sich Schulleiter Thorsten Bräuer nicht abfinden. »Fahrradfahren ist Teil unser Kultur, es gehört ebenso dazu wie das Schwimmen«, findet er. Deshalb wollte er, dass die Kinder seiner Schule eine reelle Chance haben, es fundiert zu lernen. Er wollte den Kindern den Übergang vom Fußgänger zum Radfahrer ebnen. Die Kinder sollten deshalb Rollerfahren lernen.
Bräuer sprach mit Christian Burmeister, dem Präsidenten vom Verband der Radfahrlehrer, der an der Schule in der Arnkielstraße bereits einen Radfahrkurs gegeben hatte. Das Konzept stand schnell fest: Sie brauchten 60 verkehrstüchtige Roller mit guten Reifen, kindgerechten Vorder- und Hinterradbremsen sowie 20 Kinderrräder. In der ersten Klasse sollten die Jungen und Mädchen einmal pro Woche unter Anleitung ein Gefühl für den Roller entwickeln und die Verkehrsregeln lernen. Gegen Ende der zweiten Klasse sollten sie dann nach Absprache mit Eltern und Verkehrserziehern mit dem Roller zur Schule fahren, um in der dritten aufs Rad umzusteigen. Zwei Erzieherinnen, die von Burmeister zu Radfahrlehrerinnen ausgebildet wurden, begleiten sie dabei.
»Aber Rollerfahren kann mein Kind bereits«, entgegneten anfangs Eltern, wenn Bräuer das Projekt vorstellte. Doch wer heute beim Rollerunterricht in der Arnkielstraße zuschaut, erkennt schnell den Unterschied. Der Roller ist kein Spielgerät, sondern ernst zunehmendes Verkehrsmittel. Nicht in den ersten Monaten des Trainings, aber langfristig.
Was Kinder früher an vielen langen Nachmittag in ihrer Siedlung mit Freunden ausprobiert und immer wieder geübt haben, üben sie nun hier unter Anleitung. In Zweierreihen stehen die Erstklässler an diesem Vormittag mit den Rollern vor den beiden Erzieherinnen. Gerade sind sie eine Runde Schlangenlinien gefahren. Nun müssen sie mit ihrer »Käseseite« einmal um den Spielplatz rollern. »Käseseite« das ist der Fuß, mit dem man sonst nie Schwung holt. Das ist anstrengend. »Mir tut mein Bein weh«, stöhnt deshalb auch ein kleiner Blondschopf nach seiner Runde, nicht ohne dabei breit zu grinsen.
Andere Kinder sind unbeschwert auf ihrer »Käseseite« unterwegs. Sie stoßen sich kraftvoll ab und gleiten dahin. Wieder andere bewegen sich zögernd, eher tippelnd voran.
Ein paar Runden und Aufgaben später ruft eine der Erzieherinnen »Freifahrt«. Nun rollen die Kleinen wild durcheinander über den Schulhof. Was auf Außenstehende wie ein unkoordiniertes Wirrwarr wirkt, hat durchaus einen Sinn: »Die Kinder üben selbstständig, was sie gelernt haben«, erklärt eine der beiden Erzieherinnen, »im Spiel, ohne nachzudenken«. Zudem verlangt das Durcheinanderfahren den 20 Kindern viel Aufmerksamkeit ab. Jedes von ihnen muss permanent die eigene Bewegung und Geschwindigkeit auf die der anderen Fahrer abstimmen. Sie müssen einander ständig im Auge behalten.
Je länger sie dabei sind, umso komplexer werden die Aufgaben. Irgendwann fahren sie nebeneinander her und unterhalten sich beim Fahren oder sie drehen Kreise auf dem Roller und zählen dabei, wie oft sich das Rad dreht.
»Das Ziel ist, dass sie sicher Rollerfahren, im Verkehr alles sehen und hören, und immer punktgenau anhalten können«, sagt der Radfahrlehrer Christian Burmeister.
Erstklässler rollern zehn Kilometer durch Hamburg
Roller werden gerne unterschätzt. Dabei sind sie für Erst- und Zweitklässler ein probates Verkehrsmittel, mit dem die Kleinen große Distanzen zurücklegen können.
Satte zehn Kilometer sind die aktuellen Zweitklässler bei ihrem ersten Ausflug an einem Stück gefahren. Sie hatten eine andere Grundschule besucht, um ihr Projekt vorzustellen. Anschließend rollten die 19 Kinder hintereinander in einer langen Rollerschlange vom Stadtteil Niendorf über Lokstedt, Eimsbüttel zurück zu ihrer Schule in den Norden Altonas.
Während der Rollerausflüge vertiefen sie die Verkehrsregeln: Sie fahren auf dem Fußweg, schieben über Ampeln und halten an den Ausfahrten. Bevor sie in der zweiten Klasse alleine mit dem Gefährt den Schulweg meistern, sollen die Regeln sitzen. Dennoch werden ihre Eltern sie anfangs zur Schule begleiten.
Mit dem Rollerprojekt legt die Grundschule Arnkielstraße bei den Kindern den Grundstein für spätere Mobilitätskompetenz. Verkehrsplaner gehen davon aus, dass sich der Trend weiter fortsetzt und die Menschen zukünftig Verkehrsmittel stärker miteinander verknüpfen. Gerade in den Metropolen mit ihren Verkehrsproblemen und hohen Emissionswerten wird dem Fahrrad ein immer höherer Stellenwert zugewiesen. Um es aber als Erwachsene nutzen zu können, müssen die Kinder heute Radfahren lernen und sich sicher im Verkehr bewegen.
Auch aus diesem Grund möchte Matthias Dehler vom Referat Mobilitäts- und Verkehrserziehung in Hamburg das Roller-Projekt gerne ausweiten. Ein Problem ist für einige Schulen die Finanzierung. Das Projekt in der Arnkielstraße wird von der Unfallkasse Nord, dem Referat Mobilität und Verkehrserziehung der Hansestadt sowie der Alexander Otto Stiftung finanziell unterstützt.
Jetzt hat die Stadt Hamburg vor, mithilfe der Unfallkasse Nord für fünf Klassen Roller zur Ausleihe anzuschaffen. Doch damit allein ist es nicht getan. Die Schulen benötigen zudem ausgebildete Radfahrlehrer oder Sportlehrer mit Zusatzqualifikation. Denn die Kinder brauchen eine Mischung aus Angeboten und spielerischem Freiraum, um nach und nach ein Gefühl und die motorischen Fähigkeiten für den Roller zu entwickeln. Zudem mangelt es an Personen, die die Roller an den Schulen warten.
Solch organisatorische Dinge erschweren oder verzögern manchmal gute Projekte, die gerade in »Problemstadtteilen besonders wichtig sind«, wie Dehler sagt. Deshalb sucht er auch nach weiteren Möglichkeiten, das Projekt auszuweiten. So hat beispielsweise die mobile Hamburg Inlineskating-Schule angeboten, mit den Kindern zu üben. Bislang hat allerdings erst eine Schule nachgefragt. Der Knackpunkt bei diesem Modell: Es ist teuer. In den Problemstadtteilen fehle laut Dehler dem Schulverein häufig das Geld, um externe Anbieter zu bezahlen.
Mobilitätstraining von Klasse 1 bis 10
Das Rollerprojekt fügt sich perfekt in die Hamburger Fahrradausbildung an den Schulen. Sie ist ein über Jahre gewachsenes System. 72 Verkehrslehrer sind täglich ausschließlich in den Schulen der Hansestadt unterwegs. Sie besuchen jede Klasse von der ersten bis zur zehnten Stufe. In der Grundschule jede Klasse jedes Jahr, danach auf Anfrage.
Die ersten beiden Stufen besucht der Verkehrskasper, in Klasse drei und vier bereiten die Verkehrserzieher die Fahrradprüfung vor. In Klasse fünf bis sieben sind Fahrradprojekte und Werkstätten Thema und von Klasse acht läuft das Mofaprojekt. Ganz wichtig sind laut Dehler auch die Ralleys in Klasse vier und fünf, in denen die Kinder lernen, selbstständig Wege mit Hamburgs Bussen, S- und U-Bahnen zurückzulegen.
»Das ist einmalig in Deutschland«, sagt Dehler. Eine Doppelstunde verbringen die Verkehrserzieher jedes Jahr in den ersten vier Klassen. Die weiterführenden Schulen, besuchen sie auf Anfrage. Sie können immer nur Anreize geben und Impulse setzten. Die Initiative muss von den einzelnen Schulen ausgehen.
Die Möglichkeiten jeder Schule, die Mobilitätskompetenz ihrer Schüler zu steigern, sind vielfältig. Die Durchsetzung guter Ideen ist jedoch immer abhängig von einzelnen Personen. Oft ist mehr möglich als man denkt. Sofern man bereit ist, den Kindern etwas zuzutrauen. Sie sind meistens leistungsfähiger als man denkt.
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