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Bau. Mich. Auf?
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Report - Integration vs. Custom-Made

Bau. Mich. Auf?

Maßgeschneidert ist im heutigen Fahrradmarkt eine Frage der Perspektive: Semi-Custommade-Bikes, bei denen der Kunde einen Großteil der Ausstattung selbst bestimmen kann, treffen auf integrierte Modelle, bei denen ­Rahmen und Anbauteile für optimales Zusammenspiel genau aufeinander abgestimmt, aber oft nur eingeschränkt ­anpassbar sind. Wohin geht der Trend und welches ­Konzept bietet welche Chancen?

Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde etwa die Hälfte der Rennräder von Radhändlern individuell aufgebaut«, erinnert sich Dirk Zedler. Der Inhaber der Zedler – Institut für Fahrradtechnik und -Sicherheit GmbH ist ein langjähriger Kenner der Szene und hat schon einige Räder gefahren, die es so nur einmal gab. Eine tolle Sache, doch in der heutigen Zeit allein aus Kostengründen nicht mehr im größeren Stil praktikabel. Neue Ansätze haben sich entwickelt: »Die Fahrradbranche macht gerade einen Wandel durch«, ist Zedler überzeugt. »Und das Konzept der Individualisierung und das der vermehrt aufkommenden Systemintegration ergänzen sich.« Tatsächlich ist bei immer mehr Radherstellern eine Mischform zu entdecken: Bestimmte Teile wie Sattelstütze, Vorbau, Gabel oder Bremsen sind speziell für ein bestimmtes Rahmenmodell gemacht und nur mit diesem kompa­tibel. Andere, zum Beispiel Laufräder, Sattel und Antriebskomponenten, ­können individuell gewählt werden. »Im Gesamtmarkt beobachten wir ­vermehrt herstellerspezifische Inte­grationslösungen«, erzählt auch Volker Dohrmann, Frontmann von Stevens Bikes.

Freie Festlegung

Vorteile flexibel zusammenstell­barer Konzepte sieht er hauptsächlich in punkto Ersatzteilverfügbarkeit und nachträglicher Update-Offenheit. Wenn es an schlüssige Designs, bessere Aerodynamik und optimierte Funktion geht, führt aber auch für Stevens mitunter kein Weg an Integration vorbei. So sind beispielsweise die High-End-Triathlonmaschinen zu einem hohen Grad integriert gebaut – mit einem gewissen Maß an Konfigurierbarkeit, um alle nötigen Sitzpositionen zu erreichen. Der Koblenzer Bikeversender Canyon sieht ebenfalls einen starken Trend in der Integration bestimmter Komponenten und nutzt die Möglichkeiten dieses Konzepts in großen Teilen seiner Bike-Range. »Die individuelle Änderung bestimmter Anbauteile ist unserer Meinung nach nur für Komponenten wie Sättel und Laufräder sinnvoll«, sagt Produktmanager Sebastian Jadczak. Um für das bestmögliche Ergebnis dort zu individualisieren wo nötig und zu integrieren wo möglich, wird jedes Rad in der Projektphase in seiner Gesamtheit betrachtet: Was soll verbessert werden, welche Vor- und Nachteile hätte welche Integration im jeweiligen Einsatzgebiet? Während eine Zeitfahrmaschine maximal aerodynamisch und leicht sein sollte, sieht ein Komfortrennrad für einen Hobbyradler auf Wochenendtour völlig anders aus und eine Integration macht eventuell nur bei ganz anderen Komponenten Sinn. Auch die Verstellbereiche beispielsweise im Cockpitbereich müssten komplett anders definiert und ebenso wie der Montageaufwand auf die jeweilige Zielgruppe ausgerichtet werden. So ist man am Anfang der Saison vielleicht noch etwas steifer und bevorzugt eine aufrechte Position, während man nach einigen Monaten und mit wachsender Routine eine rennmäßig-flachere Haltung einnehmen kann und möchte. Bei Canyon lassen sich deshalb beim »Speedmax CF« trotz cleaner, integrierter Optik am Lenker mehrere tausend Positionen realisieren. Gut umgesetzt, können integrierte Lösungen Räder nicht nur optisch und aerodynamisch aufwerten, sondern sie auch komfortabler und sicherer machen. »Systemintegration in Form einer intelligent gemachten Sattelstütze oder eines Vorbaus, die sich sauber einstellen lassen und immer geradeaus gerichtet sind, sind eine feine Sache«, meint Zedler. Stirnrunzeln bekommt der Fahrrad-Fachmann allerdings, wenn die Teilevielfalt aufgrund herstellerspezifischer Integrationslösungen immer mehr zunimmt. »Wenn zum Beispiel die Zahl der Tretlagerideen – von Standards kann man hier fast nicht mehr sprechen – immer größer wird, torpediert das die Individualität, die gerade im Bereich des Antriebs gegeben sein sollte«, konstatiert er. Eine Ansicht, die Michael Wagner vom gleichnamigen Radgeschäft im baden-württembergischen Weinheim teilt. Er betreut neben zahlreichen Hobbysportlern auch den aktuellen Weltmeister auf der Triathlon-Halbdistanz, Sebastian Kienle. Und stieß mit integrierten Systemen schon so manches Mal dort an Grenzen der Einstellbarkeit, wo selbige eigentlich notwendig gewesen wäre: »Wenn bei einem Rahmen nur zwei Vorbauvarianten verbaubar sind, wird es ganz schnell schwierig mit der optimalen Sitzpositionseinstellung«, berichtet er. Ausgeprägte Systemintegration sieht er eher als Prestigeobjekt der Hersteller, weniger als sinnvolle Alternative für die breite Masse der Hobbyradler. »Wenn ich nichts anpassen kann, das Rad wegen einer nicht verstellbaren Sattelstütze nicht in den Radkoffer passt oder ich es nicht weiterverkaufen kann, weil das Sattelrohr auf meine Größe gestutzt ist, ist das eher ärgerlich«, glaubt er.

Ende der Zwickmühle?

Moderate Baukasten-Systeme oder Kompletträder mit optional austauschbarem Vorbau, Antrieb oder wählbaren Laufrädern sind heutzutage noch immer oftmals das Konzept der Wahl für viele Händler. Mit überschaubarem Arbeits- und Lageraufwand können sie sich mit guter Beratung und Anpassung ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Konkurrenz erarbeiten. Doch auch die Systemintegration bietet Chancen sich als Fachgeschäft zu profilieren. Eine ist in den Augen von Jens Haug, Marketing Manager bei Integrations-Pionier Cannondale, die für den Kunden spürbar bessere Performance einer optimal aufeinander abgestimmten Einheit von Rahmen, Gabel und Antrieb. Eine weitere Chance ist die technische Kompetenz, die ein Händler sich auf diesem Gebiet erarbeiten kann. Vor allem, wenn er sich auf einige wenige Marken spezialisiert. Sonderanfertigungen von Komponenten und Anbauteilen wie bei der Integration üblich, können nicht in gleichem Maße (oft auch gar nicht) einfach im Internet bestellt werden. Zum Fachhändler gehen zu müssen – und dort gut beraten und prompt bedient zu werden – fördert die Kundenbindung. Ebenso die Tatsache, dass die Montage solcher Spezialteile Fachwissen erfordert, das der Kunde oft nicht hat, der Händler aber schon. »Natürlich weicht eine integrierte Komponente von einem Standardprodukt ab«, sagt Canyon-Mann Jadczak. »Doch ein technisch versierter Händler sollte damit keine Probleme haben.« Vorausgesetzt, er ist auf dem aktuellen Stand der Technik – eine der Herausforderungen, die angesichts des Marktwandels nicht nur größer, sondern deren Bewältigung immer wichtiger wird. »Mit den Technologiesprüngen Schritt zu halten, wird für den Handel eine riesige Aufgabe sein«, ist Zedler überzeugt. »Die Bereitschaft sich fortzubilden und dafür sowohl Kapital als auch Arbeitszeit bereit zu stellen, muss in der Firmenphilosophie fest verankert sein.« Nur starke Partnerschaften zwischen Handel und Hersteller werden erfolgreich sein, glaubt er. Und nicht zuletzt befreit die Systemintegration den Händler aus der Bredouille, wenig sinnvolle Kundenwünsche in sicherheitsrelevanten und kritischen Bereichen umsetzen zu müssen. »Wenn nur noch Originalteile passen, passieren dort keine Kombinationsfehler mehr und die Gefahr, dass Klemmungen versagen, wird ebenfalls geringer«, schlussfolgert Zedler. Im Gegensatz zu Baukasten-Modellen lässt sich außerdem der Bedarf an Schalt- und Antriebskomponenten für die jeweiligen Anbieter besser abschätzen, Lieferengpässe vermeiden. »Die Herausforderung von integrierten Systemen liegt eher darin, eine immer breitere Vielfalt von Spezifikationen abdecken zu müssen«, sagt hingegenMichael Wild von Shimano-Importeur Paul Lange. »Das hat Auswirkungen auf Wirtschaftlichkeit und Preis.« Offeriert aber auch Chancen. Denn durch die direkte Kooperation mit den Radherstellern entstehen entsprechend optimierte Teile. Eine weitere Möglichkeit für Industrie und Handel, Kompetenz und Innovationsbewusstsein zu demonstrieren, die schlussendlich in einem Produkt zusammenfließen, das für den einzelnen Kunden das bestmögliche ist.

18. April 2013 von Carola Felchner
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