Report - Carbonrahmenproduktion in Europa
Carbon vom Kontinent
Die Begeisterung für den Radsport nimmt man dem kleinen Unternehmen aus Cuneo in der italienischen Region Piemont unmittelbar ab. Als Hauptsponsor des Jedermann-Rennens in der Agrarstadt mit Blick auf die grünen Seealpen präsentiert der Radhersteller Officine Mattio sein ganzes Spektrum an Rennrädern – Räder, die in Deutschland bislang noch kaum jemand kennt. Das Rennen ist eine gute Gelegenheit, für die eigenen Produkte zu werben. Wirklich bemerkenswert ist der Ansatz des jungen Unternehmens. Officine Mattio verkörpert nicht nur die italienische Begeisterung für die Sportgeräte, sondern sieht sich selbst in einer großen Tradition: »Wir wollen die italienische Kunst des Fahrradbaus wieder zum Leben erwecken und setzen hierbei wirklich auf Produktion in Italien«, sagt Geschäftsführer Giovanni Monge Roffarello, der das Unternehmen 2019 mit einigen Partnern gegründet hat.
So weit könnte das reines Marketing sein. Doch bei Officine Mattio bemüht man sich nach Kräften, eine Vorreiterrolle zu betonen. So setzt das Unternehmen voll und ganz auf die Produktion in der italienischen Heimat. Das ist bemerkenswert, denn im Massengeschäft mit Carbonrahmen hat sich seit vielen Jahren die Produktion bei asiatischen Spezialisten etabliert. Im Markt diskutiert man derzeit viel über die Grenzen der Globalisierung und Möglichkeiten zum sogenannten Reshoring, also dem Zurückholen von Produktionskapazitäten nach Europa. Zumindest beim anspruchsvollen Produkt Carbonrahmen haben sich eine ganze Reihe von Unternehmen bereits an die heimische Produktion herangewagt.
Handarbeit im Piemont: Bei der italienischen Firma Officine Mattio geht es um gut verarbeitete Einzelstücke.
Ganz neu ist diese Entwicklung nicht. In der Nische haben sich, gerade für die Anfertigung auf Maß, längst Firmen etabliert, die in Europa ihre Rahmen bauen. Dazu gehören beispielsweise die italienische Firma Sarto Bikes und auch der deutsche Spezialanbieter Spin. Dennoch ist es ein Wagnis, denn im Wettbewerb mit asiatischen Zulieferern und großen Marken muss man die Kundschaft erst mal finden, die sich von den Argumenten für weitgehend europäische Produkte überzeugen lässt.
Händler erhalten Updates zum Produktionsfortschritt
Bei Officine Mattio setzen sie auf eine interessante Kombination aus italienischer Tradition, einem ausgeklügelten Bestellsystem im Internet, das zugleich nur in Verbindung mit einem ausliefernden Händler funktioniert, und auf vollständige Individualisierung des Fahrrads. So lässt sich nicht nur der Rahmen auf Maß anfertigen, sondern auch die Lackierung vollständig an die persönlichen Wünsche anpassen. Für die Fertigung der Rahmen nutzt man eine Anlage in Genua und teilt sich diese Produktionsstätte mit einem anderen Kunden, für die Lackierung setzt Officine Mattio auf einen Betrieb gleich in der Nähe von Cuneo, der sich vorher auf Automobillack spezialisiert hatte. »Da wir sowohl die Produktion als auch die Lackieranlage so nah bei uns haben, können wir den Fortschritt der Produktion und der Lackierung ständig überwachen und unseren Händlern echte Updates geben«, sagt Geschäftsführer Giovanni Monge Roffarello. Das ist im angespannten Radmarkt durchaus von Belang. 90 bis maximal 120 Tage dauere es von der Order bis zur Lieferung, sagt Roffarello, der früher selbst einen Radladen betrieb. Die Lieferzeit ist im Branchenvergleich überschaubar, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass es sich tatsächlich um Einzelstücke handelt, die voll lackiert werden. Er habe eben gut eingekauft, sagt Roffarello, und so seien auch genug Teile vorrätig, um eine steigende Nachfrage entsprechend zu bedienen.
Bei Officine Mattio hegt man keine extremen Expansionsfantasien. Zu klein ist das Geschäft noch, zu aufwendig der Prozess, der sehr stark an einzelnen Köpfen und gut ausgebildeten Mitarbeitenden hängt. Derzeit sind es sieben, die in Genua die Rahmen bauen. Der Aspekt Handarbeit ist bei der Verlegung der Kohlefasermatten in den Rohr-Formen erheblich. Etwa 800 Räder wird das Unternehmen dieses Jahr herstellen, im kommenden Jahr soll es ein Anstieg auf 1500 und im Jahr danach auf 2000 Stück sein. Skaleneffekte lassen sich beim Produktionsverfahren der Italiener nicht erreichen, da man auf Handwerkskunst setzt. Das wiederum hat dann auch einen stolzen Preis: 5.000 bis 20.000 Euro ist die Spanne, die für ein Rad anfällt, bei marktüblichen Provisionen für den Händler. Es geht also ganz bewusst um das Anzielen einer Kundschaft, die sehr exklusive, gut ausgestattete und individualisierte Rennräder goutiert.
Die Wette ist, dass sich in einem entsprechenden Segment sehr wohl komplett heimische Produkte erfolgreich verkaufen lassen. Auch die italienische Marke Cipollini vertritt diesen Ansatz. Anders als Officine Mattio setzt Cipollini vor allem auf Monocoque-Carbonrahmen, womit bessere Fahreigenschaften verbunden werden. Seit 2010 baut das Unternehmen Rahmen, allerdings gibt es neben Produktionsstätten in Italien auch welche in Bosnien. Bei Cipollini ist man ebenfalls vorsichtig, was die Massenmarktfähigkeit der Produkte anbelangt. Zu hoch ist der manuelle Aufwand beim Hersteller der Monocoque-Rahmen. Automatisierung, sagt Unternehmenssprecher Glen McKibben, spiele eine sehr kleine Rolle. »Wir nutzen Laserschneidemaschinen, um einige Schichten präzise auszuschneiden, aber das gesamte Legen der Schichten in der Form passiert von Hand.« Immerhin ist das Unternehmen mit dieser Vorgehensweise solide gewachsen: 45 der insgesamt 60 Mitarbeitende für die Marke Cipollini arbeiten an den verschiedenen Schritten der Carbonproduktion.
Made in Genua: Trotz hoher Löhne in Europa entstehen Carbonrahmen hier als Ergebnis filigranen Handwerks.
Was aber spricht wirklich für eine solche Produktion von Carbonteilen? Ist es nicht unverhältnismäßig viel teurer, in Europa diese Produkte bauen zu lassen? Das ist immer eine Frage der Abwägung. Bei Cipollini, so erklärt es McKibben, gehe es weniger um Lohn- und Produktionskosten. »Wir wissen, dass das in Asien viel günstiger ist, aber unsere Hauptmotivation für die Produktion in den eigenen Fabriken sind nicht Kosten. Vielmehr bietet es uns das höchste Niveau an Kontrolle«, sagt McKibben – Kontrolle über Qualität und Rahmeneigenschaften.
Die Kontrolle über das Produkt zu behalten, ist auch für All Ahead Composites aus Veitshöchheim ein ausschlaggebendes Argument gegen ein Sourcing aus Fernost. Das von Christian Gemperlein gegründete Unternehmen, bekannt für Sechs-Speichen-Monocoque-Laufräder aus Carbon, verfolgte von Beginn an den Ansatz einer vollständigen Kontrolle über die Wertschöpfungskette. Keine Produktion in Fernost? »Alle haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen«, sagt Holger Göpfert, der für Marketing und Sales verantwortlich ist. »Als wir 2011 damit begannen, gab es hierzulande weder eine Infrastruktur noch gut ausgebildete Mitarbeiter. Wir mussten den Weg wirklich erschließen«, sagt Göpfert.
Das Unternehmen gilt als Avantgarde-Schmiede für Laufräder, Lenker und Sattelstützen. Es ist allerdings auch in der Rahmenfertigung aktiv. 50 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet man mit der eigenen Marke Bike Ahead, die anderen 50 Prozent mit Auftragsfertigung, etwa für die Firma Stoll. Etwa dreimal so teuer wie in Asien, schätzt Göpfert, sei die Herstellung hierzulande. Doch lasse sich dieser Nachteil aufwiegen. In der direkten Zusammenarbeit mit All Ahead können Kunden schneller ihre besonderen Anforderungen umsetzen und sind sicher vor Verzögerungen im Welthandel. So konnte All Ahead auch im Corona-Jahr problemlos die Produktion aufrechterhalten, es gab keinen Materialmangel und keine Kurzarbeit.
Eine Nische, die aber zu wachsen scheint
Auch in Veitshöchheim lässt sich das Geschäft nicht einfach skalieren. Wachsen kann man schon, Autoklaven für die Prepreg-Monocoque-Produktion auch zusätzlich kaufen. Doch hier sieht man neben den Räumlichkeiten vor allem die manuelle Arbeit und auch die Anpassung auf Kundenwunsch als begrenzende Faktoren, wenn es um eine industrielle Produktion geht. So agiert man weiterhin eher in einer Nische, die allerdings ebenfalls zu wachsen scheint. Göpfert jedenfalls beobachtet, dass Verbraucher auch im Bike-Markt zunehmend nach Produkten fragen, die hierzulande hergestellt werden und auch in Sachen Nachhaltigkeit bessere Bilanzen aufweisen.
Die Entscheidung für einen Aufpreis im Carbonprodukt fällt einem Unternehmer gar nicht so schwer, meint Thomas Mertin, der selbst den erfolgreichen Teilehersteller THM Carbones großzog und nach Verkauf des Unternehmens bei der italienischen Teilefirma 3T an Carbonprojekten mitwirkte. Es gibt zum einen die Kontrolle über Lieferwege, denn oft genug verzögern sich Liefertermine aus Asien oder Container stecken fest. So hat man die Produktion selbst in der Hand. Zugleich ist das Qualitätsmanagement immer ein wichtiger Punkt. »Allerdings muss man das differenziert betrachten, denn auch in Asien lässt sich ein gutes Qualitätsniveau sicherstellen«, sagt Mertin. Entscheidend ist am Ende die Möglichkeit, Kontrolle über den zunehmend integrierten Produktionsprozess zu haben und ohne Überraschungen leben zu können.
3T sorgte diesen Sommer für Aufmerksamkeit in der Branche. Denn still und heimlich hatte 3T an Carbonrahmen »made in Italy« gearbeitet. Die Firma, die seit Einstieg des einstigen Cervelo-Mitbegründers Gerard Vroomen viel Resonanz bekommt, stellte nun im Juni unter der Headline »Frame Building Is Coming Home« die große Neuigkeit ins Netz. Seitdem produziert das Team in Italien Carbonrahmen, in drei Jahren soll die Hälfte der Produktion dorther kommen.
Die Carbonrahmen von 3T werden in stärkerem Maße als üblich automatisiert hergestellt. Das Ergebnis sei konsistentere Qualität, als es bei Handarbeit der Fall ist.
Im Fall von 3T war es ein länger aufgezogenes Projekt, an dem im Hintergrund seit vielen Jahren gearbeitet wurde. Das Team hatte klar definierte Ziele: ein Verfahren entwickeln und Rahmen bauen, die sich im Wettbewerb mit Asien preislich attraktiv zeigen würden. Mit Blick auf hohe Lohnstückkosten in Italien bedeutet dies die Notwendigkeit einer vollständig anderen Herstellungsweise. Zumal auf der anderen Seite ein enormer Anspruch an das Produkt stand. Jetzt im Sommer 2021 ist zu sehen, dass es dem 3T-Team ernst war. »Wenn wir die Fracht-, Zoll-, Verwaltungs- und andere versteckte Kosten kalkulieren, können wir zu ähnlichen Kosten produzieren wie in Asien«, sagt Vroomen. Hinzu kommt der Zeitfaktor: Dauert es von der Order bis zur Lieferung in Asien je nach aktueller Lage sechs bis zwölf Monate, so sind die Rahmen in der eigenen Produktion in einem Monat fertiggestellt.
»Ich glaube, dass der Trend noch viel größer ist.«
Gerard Vroomen,3T
Er sieht in den Errungenschaften einen erheblichen Fortschritt. 3T setzt auf maschinelles Wickeln der trockenen Fäden mit mehrachsigen Wickel-Maschinen, damit die Fasern in alle Winkel aufgelegt werden können und somit optimale Ergebnisse bei Stiffness-to-Weight erreicht werden. »Ich bin mir sicher: Wegen unseres Prozesses sind wir besser als die asiatischen Verfahren«, sagt Vroomen, »unsere Layups sind viel konsistenter als die Ergebnisse von Handarbeit, sodass die Fasern immer an derselben Stelle sind. Außerdem ist kaum ein Finish nötig.« Die Rahmen werden komplett und nicht in einzelnen Rohren mittels RTM-Infusion ausgehärtet. Der Vorteil ist, dass die Formen nicht jedes Mal abkühlen und neu aufheizen müssen. Der Fertigungspreis pro Stück, der erheblich an den Energiekosten hängt, lässt sich somit drücken.
Während Firmen wie Officine Mattio spannende, aber kleine Nischen bearbeiten, dürfte der Gesamtmarkt sich mit dem Beispiel 3T wohl länger beschäftigen. Die Firma arbeitet an schnellen Fortschritten bei der Automatisierung, die Handarbeit sei ein Vielfaches geringer als bei der asiatischen Konkurrenz. Ein Effekt, der mit Blick auf Frachtkosten von erheblicher Bedeutung ist. Gerard Vroomen sieht den neuen Prozess als Teil einer größeren Entwicklung. »Natürlich gibt es jetzt ein großes Interesse am Reshoring, auch wegen Covid und der asiatischen Lieferzeiten. Aber ich glaube, dass der Trend noch viel größer ist und langfristig technologisch, finanziell und auch fürs Marketing sinnvoll ist.«
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