Report - Lastenräder mit Neigetechnik
Carven statt Kippen
Das Konzept des dreirädrigen Lastenrads hat gegenüber Zweirädern Vorteile. Höhere Belastbarkeit, weil sich das Gewicht auf ein Rad mehr verteilt, das Gefühl von Sicherheit, vor allem bei hoher Zuladung, ist aufgrund des festen Stands ausgeprägter. Vor allem ist das kompakte Dreirad mit der Last zwischen oder auf den Vorderrädern kürzer. Doch die Zentrifugalkraft meint es nicht gut mit Fahrer und Gepäck, beides wird in der Kurve nach außen getrieben. Das Zweirad kann das durch Kurvenneigung ausgleichen, auf dem Dreirad muss geringere Geschwindigkeit für Sicherheit in der Kurve sorgen. Auf dem üblichen Lastendreirad ist man also langsamer und weniger wendig als mit Einspurern. Um die Zentrifugalkraft zu überlisten, kommt an dieser Stelle die Konstruktion per Neigetechnik zum Einsatz.
Viel Spaß mit besetzter Kiste: Butchers & Bicycles waren Vorreiter der mordenen Neigetechnik-Räder.
Dazu sind die beiden Achsschenkel, welche die Vorderradachsen aufnehmen, nicht starr, sondern oben und unten mit Gelenken zum Rahmen hin verbunden. So entsteht ein neigbares Parallelogramm, die Laufräder können sich in die Kurve legen, das Rad neigt sich. Wie viel der Mensch am Lenker beim Kippen oder Aufrichten des Rads nachhelfen muss, hängt dabei von der Konstruktion ab. Spezialradkenner erinnern sich an das Tripendo, ein tief gelegtes Neigedreirad aus den Nullerjahren. Die Nutzenden hatten zwei Hebel, mit einem lenkte man, mit dem anderen wurde die Neigung des Rads eingestellt, was einiges an Koordinationsleistung abverlangte.
Metzgerrad statt Backfiets
Einer der Vordenker zur wiederentdeckten Neigetechnik war Butchers & Bicycles aus Kopenhagen. Entstanden ist dieses Rad im bekannten Meatpacking District, das in den letzten Jahrzehnten zum Szene-Viertel geworden ist. »Als Väter wollten wir Kindertransport aufs Fahrrad bringen. Er musste gut und sicher funktionieren, aber auch eine gelassene, flotte Mobilität garantieren und Spaß machen. Besonders um Ecken geht es mit Neigetechnik besser als mit einem normalen Dreirad«, erklärt Morten Morgensen, CTO und Entwickler des Rads. Mittlerweile ist das MK1-E des Unternehmens in der dritten Generation angekommen. Die Neigetechnik ist patentiert, das Unternehmen macht Werbung damit, dass sein Rad sehr einfach zu fahren ist. »Ganz intuitiv lenken ist alles«, meint Morgensen. Das MK1-E wird in der aktuellen Version mit einem Bosch-CX-Motor unterstützt, der seine Kraft über einen Riemenantrieb an eine Enviolo-Nabe weitergibt. Automatischer Schaltkomfort, eine effiziente Vorderradfederung, die vor allem dem Nachwuchs in der Kinderkiste zugutekommt, ein Verdeck mit Sichtfenstern nach allen Seiten und bequemer Einstieg in die Kunststoff-Box inklusive Tür in der Front kosten 6656 Euro. Mit der türlosen Vario-Box für Lasten geht’s für 6444 Euro los. In Deutschland hat Butchers & Bicycles derzeit 89 Händler.
Ausgetüfteltes Lenksystem und Gravel-Tauglichkeit beim Lastentransport: Sblocs
Aufwendige Mechanik für viel Flexibilität
Ganz anders die Technik des Gleam Escape, einem Delta-Konzept, bei dem das gelenkte einzelne Rad vorn ist. Die Last sitzt zwischen den Hinterrädern. Diese sind je an einer Einarmschwinge aufgehängt und werden beide mit einem Riemen angetrieben. Zwischen diesem Antrieb und dem Tretlagermotor von Polini verteilt ein Differenzialgetriebe die Leistung auf die beiden voll gefederten Hinterräder. Dynamic Tilting Technology DDT nennt Gleam seine Neigetechnik, die sieben Jahre lang von Gleam entwickelt wurde. Sie ermöglicht es sogar, dass beide Hinterräder auf unterschiedlichem Niveau rollen, der Lastaufbau aber trotzdem in der Waagerechten ist, bei einer Zuladung von bis zu 120 Kilogramm. Da das Rad im Business-Bereich viel genutzt werden soll, kann man es stark individualisieren. Der Einstiegspreis liegt bei 8250 Euro, ein Händlernetzwerk für Kauf und Service ist in Deutschland bereits relativ gut ausgebaut.
Kühles skandinavisches Design und viel Komforttechnik für die Kinderfracht: Oscar von Johansson.
Berliner steuern anders
Nach einer Rad-Weltreise entstand bei Markus Dittberner der Wunsch, sich beruflich mit Fahrrädern zu beschäftigen. Für den frischgebackenen Vater war ein Rad-Elterntaxi entweder mit einem Anhänger möglich, was ihm zu sperrig war, oder mit dem klassischen Familien-Lastenrad, was ihm zu schwerfällig war. Seine Vorstellung: MTB-Feeling und 100 Liter Volumen oder ein Kind in der Kiste. »Ich wünschte mir Dreiräder sportlicher«, sagt Dittberner, »daher die Neigetechnik«. Der erste Prototyp von Sblocs war schnell gebaut. »Die Neigetechnik war nicht neu. Aber die Kombi mit der Drehschemellenkung gab‘s noch nicht.« Die Räder werden also gleichzeitig um die vertikale Achse in der Fahrzeugmitte gedreht, wie bei einer Kutschen-Lenkung, und in die Kurve geneigt. Die Transportkiste, die auf dem Drehschemel sitzt, wird mitgedreht. »Daher haben wir keine so große Zuladung«, sagt der Sblocs-Gründer, »aber ein tolles Fahrgefühl.« So dynamisch, dass es das Sblocs nicht nur als Commuter und Citytourer, sondern auch als feldwegtaugliches Gravel-Modell mit entsprechender Stollenbereifung für die 24-Zoll-Felge vorn und den 26-Zöller hinten gibt. Die Alurahmen werden in Polen geschweißt. Gepulvert werden sie aber vor Ort in Berlin. Derzeit gibt es 13 Sblocs-Händler, »die sind uns zugelaufen«, meint Dittberner lächelnd. Jetzt werden Händler aktiv gesucht, nicht nur für den Verkauf, sondern auch für den Service.
Babboe ist Platzhirsch bei klassischen Dreirädern, baut mit dem Carve aber auch ein Neigetechnik-Rad.
Derzeit verkauft Sblocs aber hauptsächlich online. Dieses Jahr hat das Unternehmen mit sieben Angestellten etwa eine Million Euro umgesetzt. Der preisliche Einstieg für das E-Bike, das gerade ein Update mit neuen Schutzblechen und größerer Kiste erhalten hat, in der auch zwei kleine Kinder sitzen können, liegt bei gut 7000 Euro.
Neigetechnik-Lastenrad als Schmankerl im Portfolio
Die »Neigetechnik ist die Königsklasse im Lastenradsektor«, erklärt Tobias Sauer, Produktmanager von Johansson. »Für uns war nur logisch, dass wir mit dem Neiger anfangen wollten auf den Weg zum Vollsortiment-Anbieter im Lastenradsektor.« Johansson, eine Marke, die sich mit skandinavisch-minimalistischem Design eine spezielle Optik gibt, ist seit zwei Jahren auf dem Markt. Eine Besonderheit des Neigefahrwerks am Modell Oscar ist die Federung. Das Federbein ist waagerecht eingebaut und arbeitet für beide Spuren. »Durch die hohe Zahl an verarbeiteten Kugelkopflagern lässt sich das Rad enorm leicht fahren, es entwickelt sich für den Fahrer sehr schnell ein intuitiver Flow«, erklärt Sauer. Flow und Komfort sieht man bei Johansson als den eigentlichen USP der Marke an.
Unterstützt wird die Oscar-Fahrerin von den drei Brose-Motoren, die als Optionen zur Auswahl stehen. Mit S und M stehen zwei Größen zur Wahl. Ihr Unterschied in der Nutzung: Das Modell S ist kaum größer als ein einspuriges Fahrrad und entsprechend wendig. Wer nicht den riesigen Stauraum sucht und in der City ein leichtes Handling schätzt, soll damit in der City glücklich werden. Mit 38 Kilogramm ist das Oscar S für das Segment leicht, darf aber insgesamt 223 Kilo wiegen (Fahrer + Rad + Ladung). Bei 5800 Euro fangen die Preise an.
Erst im Juli 2022 wurde Johansson 80-prozentig durch die Pierer E-Bikes übernommen. Für den Pierer-Konzern passt Johansson perfekt in das wachsende New-Mobility-Portfolio (Gasgas, KTM Motorrad, Raymont, Husqvarna, Felt, Syntace, Liteville etc.). »Letztes Jahr haben wir bereits 100.000 Fahrräder verkauft«, so Bernd Lesch, Managing Director von Pierer New Mobility. »Bis 2025 planen wir eine halbe Milliarde Euro Umsatz.« Überhaupt habe man große Pläne. »Wir wollen ein Gamechanger sein, die Produktion wieder nach Europa holen, werden mittelfristig viel in Bulgarien produzieren.« Die kürzlichen Zukäufe von Syntace und Liteville weisen in Richtung breites Sortiment und hoher Anspruch. Und Breite, denn »wir wollen vom Kinderrad bis zum High-End-Sportgerät alles abdecken können«, so Lesch.
Kleine Räder und bis zu 210 Liter Ladevolumen in der Kiste: Chike.
Kleine Räder, großes Ladevolumen
Auch beim Kölner Tobias Wagner ging es um Nachwuchstransport. Die gängigen Modelle konnten ihn nicht überzeugen, so gründete Wagner mit seinem Bruder Manuel kurzerhand ein Unternehmen und entwickelte das Chike. Ein Dreirad mit Neigetechnik, das auf 16-Zoll-Vorderrädern rollt. Die Fracht kann dadurch oberhalb der Räder statt zwischen den Rädern transportiert werden, ohne dass der Schwerpunkt zu hoch wandert. Hinten gibt’s einen Zwanzigzöller. Derzeit gibt es eine Kinder- und eine Cargo-Version. Auffällig ist bei Letzterer das mittig durch die Ladefläche führende Steuerrohr. »Das ist aber so designt, dass links und rechts davon je eine Eurobox hinpasst«, erklärt Manuel Prager, Mitgründer und CEO, der das Kölner Büro von Chike leitet. Die Transportplattform kann mit einer Box mit 210 Liter Ladevolumen bestückt werden. Bei der Kids-Variante sitzt vor dem Steuerrohr eine Kabine mit Sitzen und Gurten für ein oder zwei Kinder. Große Fenster ermöglichen den Kids eine Panorama-Aussicht, eine Öffnung im Dach eine gute Kommunikation zwischen Fahrer und Fracht. Um die Kinder einsteigen zu lassen oder zum Beladen lässt sich die Neigetechnik per Drehgriff blockieren. Für den Mindestkomfort sorgen die im Fahrwerk integrierten Elastomere.
Die Transportplatte kann bei Bedarf gegen die überrollsichere Kinderkabine ausgetauscht werden. Unterstützt wird von einem Shimano-Steps-E6100-Motor in Cargo-Ausführung. Das Chike, der Name kommt von »Child« und »Bike«, wird von Hartje in Deutschland montiert und vertrieben. »Das sichert uns ein gutes Händler- und Service-Netzwerk«, so Manuel Prager. Verkauft wird das Cargo für 6099,-, das Kids für 6999,- Euro.
»Es gibt Kindertaxi-Fahrer, die es sportlicher brauchen.«
Über ein sehr dichtes Netzwerk von etwa 750 Händlern verfügt der Lastenradhersteller Babboe in Deutschland. »Etwa 500 davon sind aktive Händler mit mindestens fünf verkauften Rädern im Jahr«, erklärt Jorrit Plat, Leiter Sales international. Hier liegt für die Niederländer der mit Abstand größte Absatzmarkt für E-Lastendreiräder. Wer genauer hinsieht, erkennt darin vor allem die gutmütig zu fahrenden Babboe-Dreiräder mit Drehschemellenkung und viel Platz in der Kinderkiste. Um eine Lücke zu schließen, hat man 2018 das Carve mit Neigetechnik entwickelt. »Es gibt auch Kindertaxifahrer, die es sportlicher wollen«, so Plat, »meist sind das die Väter. Sie wollen eigentlich ein Zweirad fahren, brauchen aber mehr Volumen.« An die Neigetechnik müsse man sich etwas gewöhnen, so Plat.
Anfangs gab es Lieferschwierigkeiten, das Carve wird nicht vom gleichen Betrieb wie die anderen Babboe-Räder produziert, sondern in einem deutlich kleineren, was in den letzten zwei Jahren zu Lieferengpässen führte. Etwa 700 Stück werden jährlich umgesetzt, was im gesamten Output von Babboe von zwischen 10.000 und 15.000 Rädern nur einen kleinen Anteil ausmacht. Aufgrund des höheren Preises und des ungewöhnlichen Handlings glaubt man in naher Zukunft nicht an einen bedeutend größeren Anteil an Neigetechnikrädern. Der Einstieg für den Klassiker Big mit Drehschemellenkung und Hinterradnabenmotor liegt bei 2900 Euro, der für das Carve Mountain mit Neigetechnik und starkem Mittelmotor bei 5500 Euro.
Lastenrad und Kindertaxi: Das CD2 von HNF Nicolai mit verschließbarem Kofferraum kann beides.
»Kind und Kegel« wörtlich nehmen
Auch Simon Roth, Entwickler beim als Ideenschmiede bekannten Unternehmen HNF Nicolai, sieht Neigetechnik am Dreirad als logische Konsequenz aus dem Wunsch nach flotterem, aber auch sichererem Transport auf dem Dreirad. »Die Neigetechnik ist allgemein sehr ausgereift. Da unterscheidet sich unsere Technik gar nicht viel von der anderer Hersteller«, sagt er. »Faktoren wie Radstand, Spurbreite und Ähnliches haben weit mehr Einfluss auf das Handling des Rads als Details bei der Neigetechnik.« Das aktuelle Modell CD2 orientiert sich mehr an der Familie als der Vorgänger CD1. Das mit 2,57 Metern recht lange Rad hat einen Aufbau vor und über den Vorderrädern, der vielfältig genutzt werden kann. In die Kiste vor der Lenksäule passen vier Kinder auf zwei gegenüberliegenden Sitzbänken (gesondertes Zubehör), noch davor befindet sich ein verschließbarer Kofferraum, der zusätzlich den Wocheneinkauf oder einen Wasserkasten plus Kleinkram aufnehmen und sicher aufbewahren kann. »Das ist ein echtes Alleinstellungsmerkmal«, so Roth. Die Neigung kann per Fußhebel blockiert werden, mit einem Hebel am Lenker lässt sich die Blockade wieder aufheben. »Manche Fahrer fühlen sich bei stark beladenem Rad ohne Neigetechnik sicherer«, erklärt Roth die Funktion.
Unterstützt werden Pilot oder Pilotin mit dem Bosch-Cargo-System mit wahlweise 750- oder 1500-Wattstunden-Akku. Doppelkolben-Discs von Tektro sollen das Rad sicher verzögern. Auch sie sind gegen Davonrollen des bepackten Rads im Stand blockierbar. Das ganze System darf satte 250 Kilogramm wiegen, die Beladung in den Kisten davon 100. Das CD2 wird bei Bitterfeld produziert und soll mit Gates-Riemen und Enviolo-Schaltung ab sofort für etwa 8500 Euro (Basisversion) erhältlich sein.
An der Neigung kann man auch scheitern
Übrigens hatte man sich schon 2017 bei Volkswagen an die Entwicklung eines ähnlichen Lastenrads gewagt. Hier sollte allerdings, während sich Fahrer oder Fahrerin in die Kurve legen, die Fracht stets aufrecht bleiben, warum auch immer. Die nach und nach vorgestellten Prototypen machten einen hoch professionellen Eindruck, wie man es von Unternehmen aus der Autobranche erwartet. Nach fünf Jahren Entwicklungszeit blies VW die Sache allerdings im Herbst 2022 ab, eigenen Aussagen nach aufgrund zu geringer Rentabilität. Motorpartner Continental war bekanntlich bereits 2019 ausgestiegen. Derzeit ist die Fahrradindustrie in Sachen Neigedreirad also noch weitgehend unter sich. //
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