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Report // Tiefeinsteiger

»Das ist kein Damenrad«

Der Tiefeinsteiger wandelt sich. Aus dem anspruchslosen und oft nicht gerade coolen Design wird gerade ein Renner. Oder täuscht die Wahrnehmung? E-Bikes haben auch auf diesem Gebiet vieles verändert.

Hohlkammerprofil bei Stevens-TiefeinsteigernKalkhoff Pro Entice 5 B Advance Kreidler Vitality Eco10 Sport Shimano Xt 12g 500wh DiscE Universe 9 6 Plus Feq Forma 21 46 Stealth Black

»Bequem hin oder her« meinte der ältere Herr beim Fahrradkauf, der nach längerer Fahrrad-Abstinenz wieder pedalieren wollte, »ich kann doch kein Damenrad fahren!« Es ist keine fünf Jahre her, dass der Autor dieses Totschlagargument gegen einen Tiefeinsteiger im Fahrradgeschäft hörte. Viele Händlerinnen und Händler werden es genau so oder ähnlich im Ohr haben. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute kommt kaum mehr jemand in den Fachhandel, der zwar offensichtlich nicht die Beweglichkeit mitbringt, sein Bein über den Sattel zu schwingen, aber den Diamantrahmen allein als Männer glücklich machende Geometrie ansieht. »Und wenn doch, dann empfehlen wir unseren Händlern zu sagen: ›Das ist kein Damenrad, das ist ein Herrenrad mit Seiteneinstieg!‹« erwidert Manuel Szech, Produktmanager beim Hersteller Cycle Union. »›Gerade beim E-Bike ist komfortables Aufsteigen enorm wichtig‹, gibt uns der Außendienst oft als Feedback. Im City-Bereich ist das ganz klar. Wo es etwas reiselastiger wird, bekommt der Diamantrahmen dann aber auch wieder seine Berechtigung.« Die Tendenz: »Selbst im Süden Deutschlands, wo traditionell das sportorientierte Rad und damit der Herrenrahmen stark sind, nimmt der Tiefeinsteiger im SUV- und Cross-Bereich immer mehr zu«, erklärt Szech. »Die Belastbarkeit für Gepäcktaschen hat der Rahmen mit dem massiv wirkenden Einrohr, in dem sich die Batterie versteckt, heute aber schon.« Oliver Degirmenci vom Marketing bei Cycle Union ergänzt: »Vom Tiefeinsteiger abraten wird ein Händler nicht, wenn jemand ein Rad für den Gepäcktransport kaufen will. Er hat die notwendige Steifigkeit.« Das ist unter anderem ein Erfolg des Gravity Castings, einem Metallgussverfahren, das die Oldenburger anwenden, und natürlich des seit Jahren praktizierten Hydroformings. Aber eines ist dennoch wichtig, damit der Wave als Unisex-Rahmen anerkannt wird: die richtige Farbe. »Ein pinkfarbener Rahmen ist definitiv nicht Unisex«, erklärt Degirmenci.

Wave definiert, was modern ist

»Das E-Bike hat die Sicht auf das Fahrrad verändert«, meint Markus Riese, Mitgeschäftsführer und -gründer von Riese und Müller. »Ist beim Normalrad der Einrohrrahmen vor allem ein Damenrad, gilt das beim E-Bike der aktuellen Generation nicht mehr.« Bei Riese & Müller galt das sowieso noch nie: »Unser erstes 26er-Rad war schon 1996 ein echter Vorreiter dieser Entwicklung«, so Riese. Ein »Oma-Rad« war es dabei aber nicht, dafür sorgte schon die sportliche Lenkgeometrie. »Als Alltagsrad war der tiefe Einstieg sinnvoll, genauso wie die Vollfederung. Wir haben uns damals gedacht, ›beim Motorroller gibt es auch keine Männer- oder Frauen-Modelle‹«, erinnert sich Riese. Durch den Blick auf das E-Bike als neue Radgattung wird der Tiefeinsteiger immer mehr als Unisex-Velo angesehen. Im Ausland ist man da sogar noch weiter, sieht Riese. »In Paris will niemand mehr ein Oberrohr, das ist denen zu unpraktisch. Und eigentlich gehört doch zum Alltagsrad ein bequemer Einstieg genauso wie ein cleaner Antrieb!«
Aufschlüsseln lässt sich das Verhältnis Unisex/Diamant bei Riese & Müller nicht. Hier gibt es sämtliche Modelle folgerichtig zum Firmendenken nur in Diamant und gegebenenfalls Mixte (das Oberrohr trifft deutlich tiefer auf das Sitzrohr, also ein Trapezrahmen) oder nur in Wave-Bauweise. Die Rahmenform stellt jedenfalls die Entwickler auch hier vor Herausforderungen. »Das tragende Rohr bekommt durch den integrierten Akku ja ein Riesenloch«, so Riese. Bei den Darmstädtern arbeitet man daher neben der Verstärkung des Rohrdurchmessers mit einem Motor-Bracket, das den Kraftfluss besser aufnehmen kann.

Tiefeinsteiger als Eyecatcher?

Mit einem Blick auf die Homepage von Kettler Alurad stellt man fest, dass heute alle Modelle der Quadriga-Reihe als Tiefeinsteiger gezeigt werden. An allen Modellen springt zunächst das kräftige Unterrohr ins Auge. Die jeweiligen Rahmenzüge darüber wirken eher filigran und lenken nur wenig vom kräftigen, aber elegant angesetzten Hauptrohr ab. »Seit bestimmt sieben Jahren stellen wir den Trend zum Einrohrrahmen bei den Kunden fest«, so Kettler-Verkaufsleiter Hans-Joachim Retzlaff. »Im E-Bike-Bereich macht er klar über 50 Prozent aus.« Die anderen knapp 50 Prozent teilen sich Trapez- und Diamantrahmen. »Für uns macht das der Sicherheitsaspekt. Die Kunden bekommen so in Gefahrensituation schneller ein Bein auf den Boden, können einfacher absteigen.« Auch, dass das Alter der Kundschaft einen Ausschlag gibt, glaubt man bei Kettler. »Mit dem E-Bike kann man länger auf dem Rad mobil sein als mit dem Normalrad, deshalb sind die Kunden auf dem E-Bike im Schnitt auch älter.«
Auch Retzlaff kennt die Vorurteile der Kundschaft in Bezug auf die Rahmenform. »Doch die Akzeptanz ist spätestens da, wenn die Leute auf dem Rad sitzen.« Bei Kettler Alurad zweifelt man nicht daran, dass der Diamantrahmen im Sportbereich noch lange seine Berechtigung haben wird. Doch andererseits stehen die SUV-Modelle des Unternehmens wie Town & Country für eine tendenziell sportliche Allround-Ausrichtung des E-Bikes. »Und auch da bauen wir über 50 Prozent Tiefeinsteiger.«

Wave-Rahmen für die Berge

Beim österreichischen Hersteller KTM beherrscht der Wave-Rahmen die gesamte E-City-Palette. »Interessant ist unser Tiefeinsteiger im Trekking-Bereich«, erklärt Matthias Grick vom Marketing des Unternehmens. »Da wächst die Vorherrschaft des PTS-Rahmens immer mehr«. Power-Tube-Sports-Rahmen, so heißt die Entwicklung von KTM. Sie soll den Tiefeinsteiger so robust und verwindungssteif machen, dass er auch im sportlich orientierten Bereich genutzt werden kann. Die dabei verwendete Circular-Power-Flow-Konstruktion, erkennbar an den hochgezogenen Kettenstreben, verbindet Unterrohr und Sitzrohr mit der Sitzstrebe. So entsteht ein kleineres Hinterbau-Dreieck als gewöhnlich, was allein schon für mehr Steifigkeit spricht.
Die langjährige Erfahrung mit dem Tiefeinsteiger, die KTM laut Grick vorweisen kann, kam dabei den Entwicklern des PTS-Rahmens sehr zugute. Selbstbewusst bietet das Unternehmen heute gar ein Mountainbike mit dem Rahmen an. »Enduro- oder Downhill-Bikes wird es als Wave wohl nicht geben«, so Grick, »aber durch die PTS-Konstruktion hat der Tiefeinsteiger auch am Hardtail keinen Nachteil mehr. Wo es diese Rahmenform bei uns gibt, da wird sie auch sehr gern angenommen«, so Grick.

Tief einsteigen, hoch sitzen

»Beim klassischen Fahrrad wählen Kunde und Kundin wie gehabt. Beim E-Bike stellen wir eine extreme Verschiebung fest,« erklärt Florian Niklaus von Pexco. Der Produktmanager für die Marken Husqvarna und Raymon erklärt sich das vor allem auch damit, dass es im E-Bike-Bereich »viele Neueinsteiger gibt. Denen verspricht der tiefe Einstieg mehr Sicherheit. Abgestiegen wird zur Seite, nicht über den Sattel, das ist für alle einfach leichter.« Der Verkauf von Diamantrahmen und Tiefeinsteigern liegt bei beiden Marken gleichauf. Das ist erstaunlich, hat doch am Trekking-Rad sonst traditionell der Diamant deutlich höhere Zahlen.
Bei den All-Mountain-Fully-MTBs der Husqvarna-Mountain-Cross-Reihe gibt es nur eine Rahmenform: einen »Herrenrahmen« mit sehr tief gezogenem Oberrohr, extreme Sloping-Geometrie könnte man das nennen. Dieser Rahmen ist beim sportorientierten MTB der Unisex-Rahmen. In der Wollmilchsau-Abteilung SUV dagegen ist der Tiefeinsteiger-Zulauf vehement. »Das kommt hier auch von Features wie aufrechtere Sitzposition, Komfortlenker, Offroad-Fähigkeit. Dazu passt auch der Komfort beim Aufsteigen«, sieht der Pexco-Manager. Wo der Trend zu noch größerer Batterie gehen wird, werden vielleicht bald neue Formen nötig werden, so Niklas. »Vielleicht gibt’s im City-Bereich bald nur noch Unisex-Rahmen.« Auch hier fällt der Ausdruck »wie beim Roller.« Klar ist die Konstruktion eines steifen Einrohrrahmens eine Herausforderung, so Niklas. »Die Konstruktion eines richtigen Mountainbikes mit Einrohrrahmen, das wäre natürlich sehr aufwendig. Aber wir sind da schon dran«, so Niklas. Und schiebt noch klärend hinterher: »Aber einen Downhiller wird’s nicht geben.«

Viel Sport für Oma

»Die Best Agers wollen schon ein bisschen sportlicher Auftreten, aber der Komfort soll bleiben«, sagt Alexander Huelsmann, Brand Manager bei Pon.Bike für die Marke Kalkhoff. »Tendenziell tiefer war es im klassischen City-Segment schon länger. Aber die letzten drei Jahre ging die Entwicklung auch stark ins Sportliche. Der 55-Jährige guckt seinen Vater auf dem klassischen Tiefeinsteiger an und denkt, ›ja, ist okay. Aber ich will komfortabel und sportlich‹.« Daher gibt es Kalkhoff-Tiefeinsteiger mit sportlich orientierter Geometrie und starkem Motor. »Den fährt nicht die Oma«, so Huelsmann lächelnd. Der SUV-Verkaufsschlager, das Entice 5, »so was wie unter den Autos der T-Roc von VW« , sagt der Brand Manager, »verkauft sich als Tiefeinsteiger-Rad am allerbesten.« Das Rad tritt betont sportlich auf, der Performance-Line-Motor wird vom 625-Wattstunden-Akku im Hauptrohr mit Energie versorgt und das Systemgewicht liegt bei satten 170 Kilogramm. 60 Prozent verlassen den Händler als Tiefeinsteiger, die restlichen teilen sich Trapez- und Diamantrahmen. Für die nötige Stabilität sorgen bei Kalkhoff unter anderem angepasste Wandstärken und Gussets, sodass die erhöhte Belastung durch den zusätzlichen Motorschub oder das Fahren im Stehen keine großen Verwindungen auslösen. Den Rest macht Design: Bei Kalkhoff schwört man auf Zweifarb-Lackierungen, die allzu brachial wirkende Rohre wieder eleganter erscheinen lassen. Gerade bei SUV-orientiertem E-Bike wichtig: »Der richtige Reifen-Look!«

Industriedesign statt altbackener Look

Die sportive und/oder schlicht-elegante Optik ihrer Räder hat auch die Marke Stevens schon immer im Auge. Das hat sich mit dem E-Bike in den letzten Jahren noch einmal verstärkt, im Trekking-Sektor wie im City-Bereich. »Die Optik, auch beim Tiefeinsteiger, hat bei uns mit den früheren Oma-Rädern nichts zu tun«, erklärt Volker Dohrmann, Chief Brand & Product Officer des Unternehmens. »Bei uns sitzen Industriedesigner an der Formgebung, das sieht schon sehr schick aus.«
Mittlerweile zwei Drittel der Stevens-Räder verlassen mit Tiefeinsteiger-Rahmen den Fachhandel. Bei den Tour-Modellen nimmt der Anteil der Wave-Geometrie, bei Stevens »Forma« genannt, jedes Jahr ebenfalls weiter zu. »Der Komfort, das einfache Auf- und Absteigen wird am E-Bike einfach geschätzt. Aber sicher ist es technisch eine Herausforderung, keine Frage«, sagt er. »Natürlich gibt es da Unterschiede zu den Rädern mit Diamantrahmen, die werden letztendlich immer steifer sein«, meint auch Entwicklungsingenieur Thomas Marquardt. »Aber wir bewegen uns bei Stevens da in einem sehr guten Bereich, unsere Forma sind steifer als so manche geschlossenen Diamantrahmen-Formen mit Akku. Es kommt immer auf den Aufwand an, den man betreibt.« Und der ist bei Stevens sehr hoch. »Wir haben eine ›zweite Ebene‹ eingeführt und schaffen so Hohlkammern um die Akkus herum (s. Foto links unten), sodass die Konstruktion deutlich mehr Steifigkeit erhält.« Das Rohr selbst wird extrudiert. Das hat zur Folge, dass so entstehende Rippen wieder herausgefräst werden müssen. »Das machen andere nicht. Aber es ist steifer und führt zu einem stimmigeren Design. Das ist es wert«, so der Ingenieur.

Tiefeinsteiger in allen Segmenten?

»Bei uns gibt’s in der City-E-Bike-Klasse E-Ville nur den Tiefeinsteiger«, erklärt Christian Thill von Bergamont. Diese Form ist für ihn »ganz klar urban definiert.«
Zusätzlich zu dieser Wave-Rahmenform gibt es bei Bergamont in anderen Segmenten auch den Amsterdam-Rahmen, etwa beim E-Horizon. Das ist ein Tiefeinsteiger mit dem kantigen, kräftigen Unterrohr, wie es derzeit State of the Art ist. Knapp darüber aber schwingt sich ein deutlich weicher gebogenes »zweites Unterrohr«, das tatsächlich stark ans klassische Hollandrad erinnert. »Wir haben in letzter Zeit festgestellt, dass Wave allgemein viel mehr nachgefragt wird. Die Leute sind den tiefen Einstieg langsam gewohnt, die Sharing-Angebote in der City sind ja auch alle Wave-Rahmen.« Kunde oder Kundin »lernt« also vom Sharing-Angebot, dass tiefer Einstieg bequem und praktisch ist. Trotzdem werden die Urban-Modelle mit klassischem Diamant-Rahmen als City-Räder nach wie vor stark nachgefragt. Aber eben nur im Sektor ohne »E«. Auch im Trekking-Bereich führt bei Bergamont der Tiefeinsteiger mit 39 Prozent die Verkäufe an. Dahinter liegt mit 25 Prozent der Diamantrahmen, die restlichen 36 Prozent teilen sich Amsterdam, Lady (Mixte-Rahmen) und das Full-Suspension-Modell.
Dem Rahmenflattern wirkt man beim Trekkingrad mit einem speziell konstruierten Motorflansch und groß dimensionierten Steuerrohr entgegen. »Am Normalrad kann der Tiefeinsteiger nicht ohne echte Nachteile konstruiert werden, da spielt das Mehrgewicht eine wesentlich größere Rolle als beim E-Bike«, erklärt Thill. Mit »E-« aber kann sich Thill in Zukunft durchaus noch sportlicher orientierte Velos vorstellen. »Das dürfte auch vom Werkstoff abhängen«, schätzt er, »mit Alu bleibt man da doch eingeschränkt. In Zukunft, vielleicht schon in wenigen Jahren, dürfte Carbon auch am Tiefeinsteiger andere Möglichkeiten bieten.«
Abschließend lässt sich also nicht nur ein Trend zur Wave-Rahmenform erkennen. Wichtiger ist, dass dieser eine bemerkenswerte Dynamik entwickelt hat und mancher Hersteller hier durchaus noch weiter will. Etwa in die Richtung, die Markus Riese schon 1995 vorschwebte, nämlich das Fahrrad primär noch stärker entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse zu konzipieren. Nicht nur bei Bergamont kann man sich vorstellen, dass das E-Bike auch jenseits von City und Alltag bis hin in sportive Regionen in diese Richtung rollen wird – weitere innovative Entwicklungen in puncto Rahmenbau und Material vorausgesetzt. //

4. März 2021 von Georg Bleicher
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