Report - Fachbereich Reha
»Das läuft alles ganz anders!«
Vorher etwas Studium, Jobs, ein bisschen Gartenbau – Wolfgang Schiffer ist ein klassischer Quereinsteiger. Sein Freund aus der Schulzeit, André Siebering, zweiter Mann bei der Firma Tri-Mobil und Inhaber von Manybells, war Ende der Achtzigerjahre bei einem Bochumer Fahrradhändler angestellt. Er kam auf die Idee, sich zusammen in der speziellen Reha-Nische selbstständig zu machen – genauer gesagt: Sie erst einmal zu schaffen, denn das gab es vorher quasi nicht. 1989 standen die beiden mit ersten selbst gelöteten Rädern auf einem kleinen Messestand der Rehacare in Düsseldorf. »Wir hatten Liegedreiräder gebaut. Wichtigster Bestandteil: eine Hinterachse, die wir von einem Hersteller aus England bezogen«, erzählt Schiffer. Damals gab es kaum Trikes mit niedriger Sitzhöhe und Liegesitzen – also die Räder, die den Reha-Bereich nach und nach umkrempeln sollten beziehungsweise es noch tun. Etwa gleichzeitig mit den Trikes von Tri-Mobil – der Namen war Programm – entwickelte in Bochum Marec Hase seine ersten Dreiräder; unter anderem den Easy Glider, einen Vorgänger des Kult-Trikes Kettwiesel. Später kamen Tadpole-Bikes wie das Scorpion von HP-Velotechnik hinzu – also Räder, die ein angetriebenes Rad hinten und zwei vorne haben.
Revolution Reha-Räder?
Aus der Sicht von Wolfgang Schiffer ermöglichte die Entwicklung des Liegedreirads erst die Reha-Nische für den Fahrradhandel. Zwar gab es beispielsweise mit Hoening und Haverich bereits Unternehmen, die Räder für Reha-Patienten und Menschen mit Handicaps anboten – das waren aber Räder, die mit dem Sattelrad-Konzept arbeiteten. Die Standard-Sitzhöhe und der Fahrradsattel boten vergleichsweise wenig Komfort und führten wegen des hohen Schwerpunkts auch zu geringer Sicherheit. »Es liegen Welten zwischen einem Satteldreirad und einem Liegedreirad«, erklärt Schiffer. »Menschen, die zum ersten Mal mit dem Reha-Rad in Berührung kommen, gehen sofort auf das Satteldreirad zu – weil das von der Form her nahe am ihnen bekannten Fahrrad ist. Doch nach der ersten Probefahrt wird der Scooter getestet, ein Fahrrad mit verminderter Höhe, der aber noch einen Sattel aufweist, und dann oft noch ein Liegedreirad wie von Anthro-Tech oder den beiden Marktführern.« Meist wird dann tatsächlich eines der letztgenannten Trikes gekauft, deren Preise bei 4000 bis 5000 EUR oft erst anfangen.
In den Neunzigern stellte Tri-Mobil die Eigenproduktion ein und besann sich auf sein Händlerdasein. »Wir waren bei Hase Kunde Nummer vier«, erinnert er sich. Dann kamen der Computer, das Internet und damit ein kaufmännischer Quantensprung: »Man kann sich völlig anders und weitreichender darstellen, und das war für den Reha-Bereich existenziell.«
Die Kassenzulassung war damals problemlos: »Man musste quasi nur nachweisen, dass im Betrieb eine Bohrmaschine und ein Schraubstock vorhanden waren«, so Schiffer, »und Berufserfahrung im technischen Bereich, das war es eigentlich schon.« Man bekam eine IK-Nummer, ein Institutionskennzeichen, und konnte damit mit den Kassen abrechnen. »Und das hat kaum ein anderer Fahrradladen gemacht!« Eine gute Zeit für Firmengründer. Doch nach dem neuen GKV-WSG von 2007 wurden dann direkte Verträge mit den einzelnen Krankenkassen möglich – und teilweise nötig. Dazu braucht man seit 2010 eine Prä-Qualifizierung, zum Beispiel von einem Institut wie dem BEO Medconsulting Berlin. Die Prä-Qualifizierung ist eine Prüfung des Unternehmens und beinhaltet neben den Anforderungen an bestimmte Kompetenzen der Mitarbeiter auch Anforderungen an die Betriebsstruktur. Beispielsweise muss ein prä-qualifiziertes Unternehmen in diesem Bereich über den Raum verfügen, einen Pool von nicht in Gebrauch befindlichen Reha-Rädern bereit zu halten. Kinderräder, die die Kasse genehmigt und bereitstellt, werden nach der Nutzung in einen solchen Pool zurückgestellt – etwa wenn das Kind zu groß für das Rad geworden ist oder es aus medizinischen Gründen nicht mehr nutzen kann.
Schockfaktor Medizinproduktegesetz
Eine weitere Vorraussetzung für den Vertrieb von Reha-Produkten ganz allgemein ist, dass die Verkäufer entsprechend als Medizinprodukteberater geschult sind – auch ein Kriterium, das viele Händler zurückschrecken lässt. Die Schulungen dazu beziehen sich vor allem konkret auf die Produkte, die das Unternehmen anbieten will, die Kurse sind meist ein- bis zweitägig. Oft werden sie vom Produkthersteller finanziell getragen oder unterstützt. Ist ein derartiger Nachweis eigentlich sinnvoll? »Das ist schon etwas überkandidelt«, meint Schiffer. »Natürlich ist es richtig, rein medizinische Produkte nur von zertifizierten Fachkräften verkaufen zu lassen. Aber muss das wirklich bei jedem Gurt so sein?« Das rechtliche Drumherum ist tatsächlich heikel: So wird ein Rad zum Medizinprodukt mit spezieller Haftung für den Händler, wenn er es als Reha-Produkt einstuft beziehungsweise als spezielles Rad für Menschen mit Handicap verkauft. Des Weiteren wird ebenso ein Rad zum Medizinprodukt, wenn ein dezidiert für Reha-Patienten geeignetes Pedal montiert wird. Und auch hier gilt: Nur ein Medizinprodukteberater darf dem Kunden dieses Rad verkaufen. Die Strafen bei Zuwiderhandlung dürften in Zukunft drastisch gehandhabt werden; bislang befanden wir uns in einer Übergangszeit, die Umsetzung des Medizinproduktegesetzes wurde im Reha-Bereich eher zögerlich angewandt. Nach Ansicht vieler Insider wird sich das ändern.
Unterstützung fast nur für Kinder
Für den Kunden und letztendlich auch für den Händler wichtig ist das Hilfsmittelgesetz: Die gesetzlichen Krankenkassen müssen die Kosten für bestimmte Produkte, in unserem Falle Fahrräder, übernehmen bzw. etwas beisteuern, wenn diese Produkte als Hilfsmittel zugelassen sind. Die Räder haben dann eine eigene Hilfsmittelnummer. Klar, dass Hersteller einiges an Aufwand auf sich nehmen, um eine Hilfsmittelnummer für ihr Produkt zu erhalten. Sie ist wie ein Rezept: Für bestimmte Bereiche als solches zugelassen, wird es ohne Kosten oder mit Zuzahlung für den Patienten »verschrieben«, wenn es als sinnvoll für den Patienten mit seiner jeweiligen Erkrankung erachtet wird. Derzeit gibt es für Räder im Erwachsenenbereich keine Hilfsmittelnummern. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Mobilität auch mit Rollstühlen und anderen Geräten abgedeckt werden kann. Nur für Kinder wird eingeräumt, dass – bei bestimmten Krankheiten oder Reha-Situationen – ein Fahrrad für Genesung oder Wohlfühlen des Kindes wichtig und hilfreich ist. Soziale Integration steht hier im Vordergrund. So haben derzeit beispielsweise das Trets Reh und das Trix von Hase Bikes sowie das Gekko FXs von HP Velotechnik eine Hilfsmittelnummer, können also mit Unterstützung der Krankenkassen gekauft bzw. zur Verfügung gestellt werden. »Neben den direkten Verträgen mit Krankenkassen gibt es die Möglichkeit, mit Sanitätshäusern abzurechnen«, erklärt Schiffer von Tri-Mobil. Doch die Margen der Sanitätshäuser seien so hoch, dass für den Fahrradhändler, der bei dem Geschäft ja die meiste Arbeit habe, wenig übrigbleibe. »Schließlich bieten wir die sorgfältige Beratung des Kunden, ermöglichen die Probefahrt und und und …«
Herausforderung Mitarbeiterwahl
Speziell die Beratung hat es in sich. Der Reha-Bereich erfordert ein gesteigertes Einfühlungsvermögen, schon was die Bedürfnisse und eingeschränkten Möglichkeiten der Kunden anbelangt. »Es ist nicht einfach, gute Mitarbeiter zu finden; die müssen sehr gut mit Reha-Kunden umgehen können«, sagt Schiffer mit seinen 27 Jahren Erfahrung.
»Da kommt hinzu, dass hier oft Menschen auf den Hof kommen, bei denen sich gerade erst Lebens-
Dramen abgespielt haben. Es gibt da auch schon mal Tränen. Das braucht Empathie!«
Bei Tri-Mobil macht übrigens fast jeder Mitarbeiter alles – da gibt es wenig Trennung zwischen Mechaniker und Verkäufer. Die Kunden im Reha- und Spezialradbereich haben zudem eine gehobene Vorstellung von Service, wenn sie in ein Rad einen hohen einstelligen Tausenderbetrag investieren.
Wie zeitgemäß der Reha-Bereich ist, wird von wenigen Firmen bezeugt: »HP und Hase sind die wichtigsten Hersteller für mich. Da stecken sehr moderne Entwicklungen und findige Entwickler dahinter. Und beide helfen mit, die Reha-Bereich stark in Richtung Lifestyle zu bewegen.« Das bedeutet: Auch Reha-Produkte können für die entsprechende Käuferschicht zu »Must-Haves« werden.
Strukturell unterscheidet sich auch das Reha-Fahrradgeschäft ebenso deutlich von einem normalen: Ein innerörtliches Ladenlokal in der City ist wenig praktikabel, da Dreiräder ein Mehrfaches an Platz benötigen – Platz, der sich in der Innenstadt in viel zu hoher Miete niederschlagen wird. Und auch eine innerstädtische Verkehrs-Infrastruktur ist wenig hilfreich: Reha-Räder werden ausgiebig Probe gefahren, oft ist der Tester »Wiederaufsteiger« und kann noch gar nicht wissen, ob er in der Lage ist, ein solches Rad zu fahren. »Wir haben hier den Hof für die ersten Meter zum Ausprobieren, und vor der Tür liegt gleich eine Grünanlage«, erklärt Schiffer. Sehr günstige räumliche Voraussetzungen, die Tri-Mobil in der Herner Straße in Bochum hat. Nicht nur der Reha-Bereich profitiert von diesen Bedingungen, auch die Spezialradabteilung von Tri-Mobil, die immerhin 40 Prozent des Umsatzes ausmacht, gedeihen so.
Dein Radhändler versteht dich
Lohnt sich das Ganze? »Man kann damit schon Geld verdienen – wenn man einmal drin ist. Das Schwierige ist, die Menschen davon zu überzeugen, dass es sich für sie lohnt, zu investieren, auch wenn die Krankenkasse nicht zuzahlt. Und man muss auch abschätzen können, dass die Arbeit viel umfangreicher ist als beim normalen Fahrradhandel. Wir sind oft quasi die zweite Entwicklungsabteilung nach dem Hersteller. Individualisierung ist im Reha-Bereich das A und O«, bekräftigt der Geschäftsführer. Entsprechend sind auch die vielen Räumlichkeiten bei Tri-Mobil ausgestattet. Sogar eine alte Industrienähmaschine und eine Drehbank finden sich dort. Gelötet wird häufig – schließlich ist nirgends der Motorisierungsanteil so hoch wie bei Fahrrädern für Menschen mit Handicap. Dann braucht vielleicht jemand einen anderen Lenker, und schon reicht die Kabellänge nicht mehr aus.
»Aber manchmal können wir so einfach helfen«, sagt Schiffer. Die Menschen wissen zum Beispiel nicht, dass es so etwas wie ein Pendelpedal gibt. Man montiert das, und der Mensch kann wieder richtig Rad fahren!
Gleitender Übergang
Beim Freiburger Händler »Fahrradspezialitäten« war die Orientierung zum Reha-Bereich ein »gleitender Übergang«: »Der Reha-Bereich hat sich geradezu eingeschlichen«, erklärt Dominik Langer, der neben dem Ladengeschäft in Freiburg auch eines in Konstanz betreibt. »Seit 13 Jahren verkaufen wir klassische Liegeräder, dann kamen nach und nach immer mehr Liegedreiräder dazu. Über die Firma Hase kamen wir dann schließlich auch in den Reha-Bereich.« Der macht etwa ein Drittel des Umsatzes aus, ein weiteres Drittel sind »normale« Liegeräder, außerdem verkauft er viele Lastenräder und ähnliches. Normale Räder hat man in Freiburg schließlich ganz sein lassen – »Der Platzbedarf für Reha ist sehr groß, und die Beratungszeit ist einfach zu unterschiedlich.« Der Umsatzbringer ist – an den Stückzahlen gemessen – sowieso Reha: »In dem Bereich ist fast immer Motor angesagt, dann geht es bei 5000 EUR ja erst los – bis 9000 EUR und mehr.« So richtig vorausplanbar ist das Geschäft aber nicht, so Langer. »Der größte Teil im Erwachsenenbereich sind Schlaganfallpatienten; dieser Teil bleibt relativ konstant.« Bei den Kindern, deren Fahrräder von den Kassen unterstützt oder übernommen werden, ist die Sache anders. »Da muss man von Jahr zu Jahr gucken – man hat manchmal den Eindruck, da wird in der Krankenkasse je nach Budgetlage entschieden«, meint Langer mit etwas Ironie. Ein Standortvorteil: In sein zweites Geschäft in Konstanz kommen sehr viele kaufkräftige Kunden aus der Schweiz, die lieber als die Deutschen in ein hochpreisiges Fahrrad investieren.
Nachhaltigen Erfolg erarbeiten
»Im Großen und Ganzen ist es kein großes Hexenwerk. Man kann Verträge mit Sanitätshäusern machen, um den Grundrabatt zu sichern. Mit den Krankenkassen funktioniert das für mich nicht, da geht’s um die ganz normale Fahrradmarge – auch wenn das andere Händler vielleicht anders sehen.« Die Workshops der Firmen sind laut Langer sehr gut geeignet, gute Ergebnisse mit deren Produkten zu erreichen. Allerdings: Auch er bekräftigt, dass es absolut wichtig ist, keine Vorbehalte zu haben. »Da muss man schon mal ein Bein in die Hand nehmen und aufs Pedal setzen, das muss schon drin sein!« Und: »Ein Radladen läuft von selbst – im Reha-Bereich muss ich immer dranbleiben, zum Beispiel Kontakt zu Schulen für Körperbehinderte halten und in Sachen Werbung selbst aktiv werden.«
Dem Internet die Stirn bieten
Rudi Demuth von der Radlalm im oberbayerischen Großkarolinenfeld bei Rosenheim ist seit Jahren präqualifiziert. Ein großes Argument ist für ihn: Mit seinem Angebot und seinen Kompetenzen hebt er sich deutlich von den Mitbewerbern ab. »Und die Vergleichbarkeit mit dem Internet ist damit auch vorbei«, sagt er. Seit 2012 gibt es bei ihm immer mehr Spezialräder, mit den Mountain- und Citybikes, den »Normalrädern«, sei man zu sehr dem Wettbewerb mit den Großen, den Discountern und dem Internet ausgesetzt. Bei ihm war die Öffnung zur Nische Spezial- und Reha-Rad eine bewusste Entscheidung. Von den 200 Quadratmetern Fläche nimmt der Spezialradbereich nun gut die Hälfte in Anspruch. Auf namhafte Marken wie Icletta, Anthrotech, oder auch die beiden genannten Marktführer legt er Wert. »Aber auch mit der Website kann man dann viel mehr anfangen, bekräftigt er.« Das Internet kann natürlich bei einem Nischenprodukt, das nur wenige Händler vorrätig haben, das andererseits aber für einen bestimmten Kundenstamm besonders begehrt ist, sehr effizient genutzt werden.
Viel Einsatz – viel Zufriedenheit?
Wen man auch fragt: Ein ruhiges, von sich aus laufendes Geschäft ist in der Reha-Branche für den Fahrradhändler wohl nicht zu finden. Aber eines, das bei motiviertem Einsatz die Mitbewerber ausklammert und auch auf Dauer Erfolg erwarten lässt. Nach Einschätzung von Insidern wächst der Reha-Teil der Fahrradbranche. Doch man sollte auch überlegen, worauf man sich einlässt: »Die Einstiegs-Hürden werden immer höher, man muss sich schon intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Es wird schwieriger, direkt mit dem Krankenkassen abzurechnen; vermehrt wird hierbei nach einer speziellen Software verlangt«, erklärt Stephan Moldenhauer, Vertriebsleiter beim Hersteller Hase Bikes. »Wir haben andererseits auch gerne Sanitätshäuser als Partner, die in Sachen Mobilität heute weiterdenken, Kompetenzen in puncto Fahrradtechnik haben und Geschäftsbeziehungen auf Augenhöhe schätzen.« Bei allen diesen Überlegungen sollte man einen positiven Faktor – den jeder Befragte nennt – nicht außer Acht lassen: Es ist sehr befriedigend, Menschen wieder zu eigener Mobilität zu verhelfen. Und genau das kann man sehr gut, wenn man im Reha-Bereich arbeitet.
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