Trends - Fahrradtrends aus Entwicklersicht
Der Funke ist übergesprungen
Wenn es darum geht, ob auf der jüngsten Eurobike genügend Innovationen gezeigt wurden, dann scheiden sich die Geister bei der Antwort. Das Spektrum der Antworten ist recht breit. Eine häufigere Wahrnehmung lautet, dass die echten Neuheiten vor allem bei den Komponenten zu finden waren und nicht so sehr bei den Fahrrädern. Zumindest Gregor Dauth, Design Direktor bei Artefakt, einem der großen Design- und Entwicklungsstudios für Fahrräder in Deutschland, hat sich nicht gelangweilt bei der Schau der Fahrradneuheiten. »Ich fand es wieder sehr inspirierend, die gebotene Vielfalt zu sehen.« Von einer Designkrise mag er nicht sprechen. »Es gab mit Sicherheit auch eine Eurobike in der Vergangenheit, wo es nicht viel Neues zu sehen gab. Diesen Eindruck hatte ich dieses Jahr nicht. Neue Antriebsarten, neue Konnektivitätslösungen, all das gab es zuhauf. Ich finde, es wurde der Köcher aufgemacht. Der Funke ist übergesprungen von Friedrichshafen nach Frankfurt. Als Produktdesigner ist man im Fahrradbusiness ja immer zwei Jahre vorneweg. Aber selbst dann gab es spannende Dinge, die man gesehen hat.« Als Beispiel nennt er etwa eine neue Materialvielfalt, die nun tatsächlich den Markt erobern könnte. »Neue Materialitäten machen es etwas interessanter. Es war relativ lange eingefahren auf Aluminium und Carbon. Mit diesen neuen Materialien von Spritzguss bis Bambus wird das noch interessanter und wichtiger werden.« Die Stichpunkte, die er zusätzlich nennt, sind Nachhaltigkeit, Produktion in Europa und kurze Wege. »Die ganzen Varianten im Cargo-Bereich sind extrem spannend. Da ist einiges ins Rollen gekommen, da ist sicher noch mehr Luft nach oben.«
Dass die Luft nach oben nicht schon ausgereizt ist, hat auch mit den Lieferketten zu tun, die immer noch die Arbeit von Designagenturen und Fahrradentwicklern belasten und verändern. Alex Thusbass, Managing Director bei Kiska Munich GmbH, entwickelt für die Marken von Pierer E-Bikes das Mobilitätsportfolio der Zukunft.
Er beobachtet, dass gegenwärtig die Vorlaufzeiten immer noch sehr groß sind. »Aktuell ist es so, dass die Supply Chain sämtliche Planungen obsolet macht. Es hat damit zu tun, dass Innovation gerade relativ schwer ist, wenn deine größte Aufgabe ist, die Lieferketten in irgendeiner Form sicherzustellen.« Die derzeitigen Engpässe führen dazu, dass der Markt wenig risikofreudig ist. »Was man zuletzt im E-Bike- und E-MTB-Bereich gesehen hat, war eine unglaubliche Angleichung. Hohe Designqualität, ja, aber auch sehr starke Einebnung der Produktcharaktere. Das heißt, dass die meisten Hersteller gerade auf Nummer sicher gehen.
Als wesentliche Treiber der weiteren Fahrradentwicklung werden die Segmente urbane Mobilität und Cargo gesehen.
Das wird auch 2023 noch so weitergehen. Bis wir wieder größere Schritte sehen, wird es noch eine Weile dauern, weil bis dahin alle auf Nummer sicher spielen müssen.«
Das ist für den Handel nicht die schlechteste Aussicht. Die Ware, die aktuell in den Markt hineinrollt, wird angesichts ungewisser werdender Nachfrage auch über eine Saison hinaus aktuell und gut verkäuflich sein, falls denn mal wieder tatsächlich ein Überhang an Ware vorhanden sein sollte. Laut Thusbass kein Zufall, sondern ein Hintergedanke der Hersteller, »der sicher auch notwendig ist. Seien wir ehrlich: Nur durch ein Farb-Update wird das Fahrrad nicht zu einem neuen Produkt. Das hat lange gut funktioniert, aber dadurch, dass die Entwicklungszyklen länger geworden sind, werden sich auch die Produktzyklen deutlich verlängern. Und das ist auch sinnvoll.« Wenn Produkte nicht mehr eine so kurze visuelle Halbwertzeit haben, dann tue das den Lieferketten und dem Handel gut. »Auf 18 Monate im Voraus zu entwickeln – das gibt es einfach nicht mehr.«
Längere Vorlaufzeiten gehören zu den Gründen, warum viele versuchen, sichere Wege zu beschreiten. Dazu gehört auch, Modelle durchlaufen zu lassen, um den Handel zu entlasten. »Es wird aber auch ein ›danach‹ geben und dann geht das Rennen plötzlich ganz anders los, weil der Differenzierungsdruck riesengroß wird«, sieht Thusbass. Wenn alle das gleiche Produkt anbieten, dann bleibt bei einem Überangebot am Ende nur noch der Preis als Differenzierungsmerkmal. Das wäre eine Situation, die alle vermeiden wollen.
Die aktuelle Angleichung werde also kein Dauerzustand werden. »2023 wird ein Schicksalsjahr der Fahrradindustrie werden. Jetzt ist die Zeit, die Grundlagen zu legen, um danach schnell aus der Kurve zu kommen und die Meter zu machen, die dem Rest vielleicht fehlen.« Wenn man jetzt abwarte, würde es später, wenn es zu einem höchstwahrscheinlichen Konsolidierungsprozess kommt, absehbar zu spät sein, um noch aufzuholen. »Man muss jetzt säen, um 2025 ernten zu können. Durch die Probleme der Supply Chain ist es nötig, jetzt zu handeln, um dann ein Portfolio beieinanderzuhaben.«
Komponentenhersteller sind häufig Markttreiber
Um ein attraktives Fahrradsortiment zeigen zu können, gehört auch das Zusammenspiel mit den Komponentenherstellern dazu. Oft ist nicht so klar, wer bei der Weiterentwicklung von Fahrradmobilität eigentlich die Hosen anhat. Komponentenhersteller oder Fahrradhersteller? »Das befruchtet sich permanent gegenseitig«, lautet die Beobachtung von Dauth. »Während der Entwicklung werden Meinungen eingeholt und Impulse gegeben, das geht in beide Richtungen. Man hat da schon ein Verständnis von einer gewissen Gemeinsamkeit, es ist trotz einer gewissen Konkurrenz zu sehen, dass man das Thema gemeinsam vorantreiben will.«
Thusbass sieht dennoch, dass die Rolle der Komponentenanbieter oft unterschätzt wird. »Wir haben einmal Spezifikationstabellen gemacht und festgestellt, dass 93 Prozent der Komponenten von Drittparteien kommen und nur 7 Prozent vom Fahrradhersteller selbst stammen. Es gibt natürlich Ausnahmen, aber in der Regel ist es so, dass die eingesetzten Komponenten ganz stark von der Lieferantenseite getrieben werden. Viele Fahrradhersteller sind eher Spezifikationsweltmeister als Entwicklungsweltmeister.« Für ihn ist das ein Verhältnis, das sich in den nächsten Jahren verschieben könnte. »Da spielen derzeit ein paar Dinge ineinander. Das Verkaufen eines Markenalbums von der Spezifikationsliste könnte sich tatsächlich verändern, wegen der Schwierigkeiten in der Supply Chain. Gewisse Must-have-Komponenten sind so schwer verfügbar, dass Hersteller auf Alternativen umsteigen. In diesem Zuge werden Hersteller diese anderen Marken nicht so prominent darstellen.«
Von der ersten Skizze bis zum fertigen Produkt ist es ein weiter Weg, wie es hier am Beispiel des Husqvarna MC6 zu sehen ist.
Dazu komme die Entwicklung des Fahrradmarktes generell, die eine Verschiebung des Kundenfokus erleichtern könnte: »Was man auf der Eurobike unglaublich gut sehen konnte, ist die Entwicklung im Urban-Mobility-Bereich, wo Kunden ihr Mobilitätsbedürfnis befriedigen wollen und die einzelnen Komponenten nicht mehr die gleiche Rolle spielen wie in anderen Segmenten. Man steht Kundinnen und Kunden gegenüber, die sich nicht für den Komponentenmix interessieren, sondern für Lösungen.«
Zu den Lösungen gehört für Artefakt-Designer Dauth auch das Thema Integration. »Ich glaube auf jeden Fall, dass die ganze Systemintegration kommen wird. Es muss funktionieren und darf für die Endkunden die Sache nicht komplexer machen. Dinge wie eine Schloss-Funktion, die bei Annäherung funktioniert, sodass nicht mehr das Smartphone aus der Tasche gezogen werden muss, sind Features, die das Leben leichter machen. Daran müssen diese Entwicklungen gemessen werden: dass sie das Fahrradleben leichter und sicherer machen.«
Bei den damit verbundenen strategischen Fragen ist für die Branche eine Menge mitzudenken, was nicht unmittelbar mit den Produkten zu tun hat. Er werde die Gretchenfrage sein, ob man ein proprietäres System mit angeschlossenem Service hat, wie es etwa VanMoof versucht, oder ein offenes System, das fahrradfachhandelsoffen ist mit entsprechend generischen Produkten, ist Thusbass überzeugt. Es gibt auch eine Mitte, die gerade für Cargo und Urban Mobility relevant ist. »Die Produktentwicklung hat immer mit dem Business-Modell zu tun, das dahintersteht. Und das ist immer ganz stark an den Service gekoppelt, den man dann mitentwickelt.«
»Cargo- und Urban-Bikes werden sich in den nächsten Jahren stark verändern.«
Alex Thusbass, Kiska Munich GmbH
Ob B2B oder B2C entscheide darüber, welche Art von Servicepaket geknüpft werden müsse. Für viele, gerade neue Anbieter, gebe es hier noch keine gute Antwort, gleichwohl ist sie überaus wichtig: »Wenn man das Service-Konzept nicht sofort mit dem Business-Modell mitentwickelt, also das Produkt nicht auf den Service abgestimmt ist, dann fährt man das Ganze gegen die Wand«, erläutert Thusbass.
Bunte Vielfalt auf der Eurobike
Doch wie werden die Räder der Zukunft nun konkret aussehen? Wo sind die größten Entwicklungen in der Zukunft zu erwarten? Thusbass sieht die größten Veränderungen in den schon heute heiß diskutierten Segmenten. »Das Cargobike in all seinen Spielarten wird den Markt am stärksten vor sich hertreiben«, ist er überzeugt. Das liege auch daran, dass die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen sei. »Cargo- und Urban-Bikes werden sich in den nächsten Jahren stark verändern. Da werden wir Unisex- und Unisize-Räder sehen, wir werden eine ganz andere Sitzposition sehen, etwa mit Sitzbänken statt Sätteln. Die kurzen, ebenen Strecken in urbanem Umfeld benötigen nicht die gleichen ergonomisch perfekten Sitzpositionen. Konvenienz und schnelles Auf- und Absteigen werden viel wichtiger werden, als die letzten Prozente aus der Sitzposition herauszuholen. Das wird einfach der Motor übernehmen. Es wird Sitzpositionen geben, wo der klassische Fahrradfahrer die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Aber für das Stop-and-go in der Stadt ist es eben perfekt.« Thusbass kann sich eine Entwicklungsrichtung wie bei Ruff Cycles vorstellen, aber weniger lifestylig, sondern pragmatischer. Das Longtail könnte zudem irgendwann als mehrsitziges Urban-Bike verstanden werden. »Die Archetypen werden sich noch mal deutlich durchmischen. Wenn wir in fünf oder sieben Jahren wieder auf der Eurobike stehen, werden wir uns die Augen reiben, wie sich die Archetypen so stark verändert haben und wir immer glaubten, dass 28 Zoll mit Sattel und Höhenverstellung das Maß der Dinge wäre.«
Das Fahrrad selbst wird aber nicht allein entscheidend für den Erfolg der Branche sein, ist sich Gregor Dauth sicher. Für ihn ist die größte Herausforderung bei der Entwicklung der Branche »die Sicherheit im Straßenverkehr. Das Gefühl, sich sicher bewegen zu können, etwa mit Kindern oder für ältere Leute, muss auch gegeben sein. Das sind die Sachen, die darauf einwirken, dass noch mehr Menschen auf das Fahrrad steigen. Sie sind heute genauso wichtig wie das eigentliche Produkt. Gerade in Städten hakt es da an jeder Ecke.«
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