Turbulente Zeiten:
Der schnelle Sprung von Warenengpässen zu übervollen Lagern
Ein Blick zurück: Das Fahrrad und insbesondere das E-Bike gehörten in den Pandemiejahren zu den unbestrittenen Gewinnern. Während die Nachfrage enorm hoch war, konnte die Industrie mit der Produktion nicht Schritt halten. Und weil die Warenversorgung in den Jahren 2020 und 2021 schleppend war, setzten Fachhändler wie Importeure auf eine weitere Erhöhung ihrer Vororder. Dadurch sah sich die Industrie noch größeren Rückstanden an Bestellungen gegenüber, und die Lieferzeiten stiegen weiter an.
Dann kam die Kehrtwende: Russland überfiel die Ukraine und provozierte in der Folge eine Energiekrise. Als Folge des Kriegs in der Ukraine stieg die Inflation markant an, während die Konsumentenstimmung absackte und größere Anschaffungen hinausgeschoben wurden.
Stornierungswelle traf Produzenten in Fernost
Jedoch konnte die Industrie - egal ob in Europa oder in Asien - ihre Produktion nicht annähernd so schnell herunterfahren, wie die Konjunktur in den wichtigsten Absatzmärkten auf Talfahrt ging. Der Vergleich mit einem Öltanker drängt sich auf, bei dem weder Vollbremsungen noch schnelle Kurskorrekturen möglich sind. Im Juli, als sich die Branche bei der Premiere der Eurobike in Frankfurt am Main noch selbst feierte, setzten offenbar bereits die Stornierungen großer Marken bei ihren Produzenten in Asien ein. In der Summe fielen so, wie Brancheninsider vorrechnen, kurzfristig über 2 Millionen Einheiten aus den Orderbüchern.
Brancheninsider gehen davon aus, dass Ware für ein volles Jahr entlang der ganzen Wertschöpfungskette auf Lager liegt.
Angesichts der hohen Lagerbestände bei Fachhändlern wie Importeuren in den Zielmärkten, hätte es keinen Sinn gemacht, auch dieses Kontigent noch in den Markt zu drücken. Das hätte nur die Tendenz zu ruinösen Rabattschlachten und zum Verlust von Margen weiter befeuert. Wegen der kurzfristigen Stornierungen sitzen nun aber nicht nur die Fachhändler in den Absatzmärkten, sondern auch die asiatischen Produzenten auf beunruhigend hohen Lagerbeständen. Das ist bei Gütern, die nicht klar einem Modelljahr zuzurechnen sind, noch weniger problematisch. Richtig hart trifft es die Assemblage-Betriebe, welche Komponenten und Teile einkaufen, die Rahmen lackieren und mit Aufklebern versehen und Fahrräder wie E-Bikes nach Spezifikation aufbauen.
Außerordentliche Situation erfordert außerordentliche Maßnahmen
Brancheninsider gingen vor wenigen Wochen bei Interviews in Taiwan davon aus, dass Ware für ein volles Jahr entlang der ganzen Wertschöpfungskette auf Lager liegt und dass sich die Situation daher nicht vor Ende 2023 bessern dürfte. Wegen steigender Zinsen und Mieten sowie höherer Heiz- und Stromkosten drohen gar Liquiditätsengpässe, die einige Marktteilnehmer in die Knie zwingen könnten. Das mag nach den Rekordjahren 2020 und 2021 seltsam klingen, ist aber eine bittere Realität. Einen einfachen Ausweg aus dieser Zwickmühle gibt es nicht. Eine radikale Idee wäre es, im Interesse aller Marktteilnehmer darüber nachzudenken, das Modelljahr 2024 komplett zu streichen, um Wertverluste der Lagerware zu minimieren. Ob die Branche dazu bereit ist?
Laurens van Rooijen, Redakteur der Schweizer Fachzeitung Cyclinfo und freier Mitarbeiter von velobiz.de , weilte von 6. bis 21. November in Taiwan, um sich ein Bild von der Lage der dortigen Fahrradindustrie nach fast drei Pandemiejahren zu machen. Auf vollen Touren lief dabei keine der 14 binnen einer Woche besuchten Fabriken - dafür waren die Lager mit fertiger Ware umso voller. Ein umfangreicher Bericht zu dieser für die Branche höchst unerfreulichen Lage ist in der soeben erschienenen Ausgabe von Velobiz.de-Magazin zu lesen.
Das Thema hat jedoch auch schon die Tagesmedien erreicht. In der Schweiz wurde kürzlich ein mehrminütiger Beitrag zu diesem Thema beim SRF gesendet.
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