Report – Räder für Lieferdienste
Die bringen‘s!
Die Lieferdienste, die Speisen oder Kochzutaten an die Haustüre liefern, sind heute in aller Munde. Es wimmelt in größeren Städten von E-Radfahrern und -fahrerinnen mit würfelförmigen Rucksäcken oder Gepäckboxen, bedruckt mit den entsprechenden Namenszügen. Für die Fahrradbranche ist daran besonders interessant, wo die Räder für diese Unternehmen herkommen. Wie sich herausstellt, ist der Markt für Zustellräder dynamisch und bisweilen sogar chaotisch. Verlässliche Zahlen sind schwierig bis gar nicht zu bekommen, manche Unternehmen hatten nicht einmal Zeit für ein Gespräch. Was sich doch in Erfahrung bringen ließ, war allerdings sehr aufschlussreich.
Corona als Steigbügelhalter
»Wir kommen jetzt in den fünfstelligen Bereich«, sagt Luis Orsini-Rosenberg auf die Frage, wie viele Räder er in Umlauf gebracht hat. Er ist Mitgründer und CEO von GetHenry, einem Bereitsteller und Servicedienstleister für Lieferflotten. Seit 2018 hatte er versucht, Hotels E-Bikes zur Vermietung zur Verfügung zu stellen. Spätestens Corona vereitelte diesen Plan. Doch Restaurants und Imbisse waren plötzlich sehr interessiert an Zustellfahrzeugen. Der Zufall wollte es, dass Orsini-Rosenberg etwas später den Gründer von Gorillas kennenlernte, Kagan Sümer. Das expandierende Unternehmen schob GetHenry deutlich an. Bis zu 15 Lieferfirmen zählt man heute zu den Kunden, sie sind derzeit in 33 Städten in Deutschland, Italien und Österreich unterwegs.
Derzeit fährt man zweigleisig: Seit Gründung des Unternehmens setzt GetHenry auf Räder von externen Herstellern, bei denen auf Wunsch Laufräder, Träger und Ständer umgerüstet werden. RadPower ist momentan der wichtigste Partner, das Modell RadRunner 2 das bei Gorillas am meisten eingesetzte Lieferrad. Die Optik des Rads ist an Mopeds aus den 70er-Jahren angelehnt. Der Nabenmotor im Hinterrad liefert 250 Watt, der Akku hinter dem Sitzrohr wird mit 48 Volt betrieben und soll etwa 50 Kilometer Reichweite bieten. Das muss für eine Schicht reichen. Die Ein-Gang-Nabe soll der Robustheit zuträglich sein. Laut Orsini-Rosenberg floss bei den niederländischen Machern von RadPower die Erfahrung von Kurieren in die Entwicklung der Räder ein. Interessant ist dabei die Preisgestaltung: Um die 110 Euro pro Monat kostet ein E-Bike, für Kuriere subventionierte 80 Euro.
Das zweite Gleis ist die eigene Produktion. »Wegen der bekannten Lieferschwierigkeiten in vielen Branchen ist das derzeit schwierig«, erklärt Orsini-Rosenberg, »aber wir arbeiten daran«. Wenig Gewicht steht im Mittelpunkt der E-Bike-Entwicklung. GetHenry will die die vorhandene Robustheit und das Packvolumen nach Food, Einkaufslieferdiensten und Paketlieferung spezifizieren. Finanziert wird von jeher über Venture-Capital-Gesellschaften, Darlehensgeber und Leasing-Partner.
In der Vermietung der Räder, die meist in Jahres- oder Mehrjahresverträgen geregelt ist, sind viele Service-Leistungen enthalten: Finanzierung der Flotte, Versicherung, Wartung über Servicepartner vor Ort und auch das Branding der Räder in der jeweiligen Kunden-CI wird angeboten. Ein wichtiger Bestandteil ist die Software des Systems. Sie zeigt den Standort des E-Bikes, klärt, ob und wann eine Inspektion fällig ist, gibt Auskunft über die Reparatur-Historie eines Rads und mehr.
Zum Bike-Lieferanten für verschiedene Lieferdienste wurde Econic One aus Bulgarien ganz unverhofft.
Quereinsteiger aus dem Osten
Mit selbst produzierten Rädern in das Flottengeschäft eingestiegen ist Eljoybike vor zwei Jahren. 2014 von Galin Bonev in Varna am Schwarzen Meer gegründet, baute man E-Bikes, die optisch am westeuropäischen Markt orientiert waren. In den letzten Jahren stellte man entsprechend auf integrierte Akkus um. Die Alu-Rahmen werden in Bulgarien und anderen europäischen Ländern hergestellt. »Zu den Aktivitäten im Flottengeschäft kam es, weil Vladimir Davtchev, Gründer von BGMenue, dem ersten bulgarischen Lieferdienst, 2020 ein Rad von Eljoy gesehen hatte und sich regelrecht verliebte«, erzählt Iskra Daskalova, Brand Managerin von Econic One, die offizielle Erfolgsstory. »Er testete das E-Bike für seinen Bringservice und nahm die Räder von der neu gegründeten Eljoy, jetzt unter dem Label Econic One, als festen Partner für BGMenue und dessen Muttergesellschaft Just Eat Takeaway. Letztere ist heute auch die Hauptinvestorin in das Flottengeschäft der Marke. Aber das Geschäft ist enorm schnelllebig und steht im harten Wettbewerb. In Deutschland konnten sich manche Lieferando-Konkurrenten 2021 teilweise nur Wochen auf dem Markt halten.
Die Räder von Econic One werden an die Flottenpartner verkauft, nicht vermietet. »Sie sind alle mit einem GPS-Modul ausgestattet, unter anderem, um den aktuellen Standort jedes Rads abzubilden. Dazu gibt es eine Handy-App. Mit dem Hauptabnehmer Takeaway, in Deutschland vertreten durch Lieferando, gibt es auch Wartungsverträge«, so Daskalova, »die Wartungsarbeiten werden von Werkstätten vor Ort ausgeführt.« Man lege Wert auf möglichst wartungsarme E-Bikes, daher sind Heckmotor und Riemenantrieb Standard, ebenso wie der tiefe Durchstieg für mehr Komfort der Zusteller. »Die Zustellräder sind von den Komponenten her robuster als Räder für die Endverbraucher. In Zukunft haben sie ein Smart Lock, das das E-Bike verschließt und wieder aufschließt, sobald sich der Fahrer nähert. Das wird auch für private Kundschaft angeboten werden.« In sehr naher Zukunft soll auch hier das Internet of Things in voller Breite in die Rahmen Einzug halten und eine Vielfalt an Services ermöglichen, vom Software-Update bis hin zur Kontrolle des Inspektionsbedarfs. Die Elektronik wird von Enjoy selbst gewartet, mechanische Wartung und Reparaturen übernehmen Partnerhändler vor Ort. Versicherungen dagegen inkludiert man nur bei Privatkunden und -Kundinnen, nicht bei Flottenpartnern. 2021 wurden 3000 Räder gebaut, dieses Jahr sollen es satte 10.000 werden. Um die 20 Millionen Euro sollen von unterschiedlichen Seiten dazu investiert werden. »Wir wollen in beiden Märkten wachsen«, so die Brand Managerin, »die Märkte werden definitiv weiter florieren«.
Der Mehrwert des Fachhandels
Einen etwas anderen Zugang zum Flottengeschäft hat man bei Riese & Müller. Sehr häufig läuft hier die Anfrage nach Business-Rädern über den Fachhandel. »Da gibt es natürlich die Anfragen für die Sharing-Flotte der Kommune, aber auch den Supermarkt, der Lastenräder integrieren will«, erklärt Philipp Rüppel, beim Hersteller zuständig für den im letzten Sommer geschaffenen Geschäftsbereich Riese & Müller Business. Der Tiefeinsteiger Nevo mit City-Ausstattung wird hierbei häufiger nachgefragt als die eigentlichen Lastenräder. Eine feste Partnerschaft verbindet Riese & Müller mit Alnatura. Die Bio-Supermarktkette hat in Darmstadt und Umgebung Lastenräder für einen Lieferservice gekauft. Sie stellt diese Räder über eine Online-Plattform auch als Leihräder drei Tage lang zur Verfügung. »Momentan sind da etwa 30 Räder eingebunden«, so Rüppel.
Riese & Müller hat sowohl »normale« als auch Cargobikes in seiner Business-Abteilung.
350 Cargobikes zählt die Flotte in der Schweiz, die über den Sharing-Anbieter Carvelotogo unterwegs ist. »Wir legen hier besonderes Augenmerk auf die Robustheit, da sind teilweise Heavy-Duty-Bauteile verbaut«, erklärt Rüppel. »Auch das Branding für den jeweiligen Kunden übernehmen wir. Bei den Cargobikes bieten sich dafür etwa die Seitenflächen der Boxen an. »Ein Großteil der Businesskunden-Projekte geht vom Fachhandel aus. Der übernimmt dann auch den Service der Räder.«
Für kleinere Unternehmen gibt es das Projekt Rent. Hier können beispielsweise Restaurants drei Monate lang günstig ein Packster Rent testen. Transportfläche, -volumen und die Diebstahlsicherheit sind mit einigem Zubehör auf Lieferdienste hin spezifiziert. Nach drei Monaten mit einer Miete von sechs Euro täglich kann das Rad vergünstigt gekauft oder an den Händler zurückgegeben werden.
»Wir haben den Eindruck, unser Potenzial in Sachen Businesskunden ist noch lange nicht ausgeschöpft«, bilanziert Rüppel. »Die Projektanfragen werden mehr und das Thema nimmt Fahrt auf. Immer mehr Unternehmen denken darüber nach, Mitarbeiter aufs Rad zu setzen.« Der Flaschenhals zu mehr Geschäft liege in den Herausforderungen, mit denen Händler konfrontiert werden. Für manchen Werkstattbetreiber ist die Wartung einer Flotte ein zeitliches Problem. »Da liegt für uns noch sehr viel Potenzial begraben«, so der Leiter der Business-Abteilung. Im Geschäftsjahr 2020/21 ist im Flottenbereich »eine kleine vierstellige Zahl an Rädern« verkauft worden.
Viel Lärm um viel Geld
Essenslieferdienste machen derweil weiter Schlagzeilen mit ihren Wachstumsraten, dem Medienrummel und auch manchem Streik um bessere Löhne. Wo der Wettbewerb hart ist, wirkt sich das auf Arbeitsbedingungen und Arbeitsgerät aus. Die Preiskämpfe dürften sich sicher auch darin ausdrücken, wie teuer Zustellerfahrzeuge sind. Dazu kommen die bekannten Lieferschwierigkeiten der Komponentenhersteller. Wer überhaupt Räder liefern kann, kann hier derzeit gut verdienen, muss aber selbst sehr flexibel sein. Das lockt auch ferne Unternehmen an. Der australische Hersteller Zoomo, gegründet von Mida Nana und Michael Johnson, ist in seinem Heimatland, in den USA, und mittlerweile auch in Großbritannien und Frankreich stark vertreten. Alles Geld werde derzeit in die Expansion gesteckt. Die Zoomo-Basic-E-Bikes mit Dreigangschaltung und Frontmotor können gemietet (in Großbritannien für etwa 50 Pfund die Woche) oder gekauft werden (2100 Pfund). Mit neuem Kapital in Höhe von 60 Millionen US-Dollar will man auch im deutschen Markt groß einsteigen, wie letzten November gemeldet wurde. Mittlerweile sucht der Anbieter in deutschen Großstädten laut Anzeige eigene »Fahrradmechaniker«.
Eine Exklusivität der Partnerschaften zwischen Fahrrad- und Essenslieferant gibt es übrigens in den meisten Ländern nicht. So schnell und unvorhersagbar, wie das Liefer-Business reagiert, müssen auch die nötigen Räder aufgetrieben werden. So flexibel ist kein fester Anbieter derzeit.
Bei Swapfiets bekommen Privatkunden dieselben Modelle wie die Flotten. Service ist jeweils inklusive.
Cordon Bleu auf blauen Reifen
Das niederländische Unternehmen Swapfiets ist mit seinen Rad-Abos seit 2018 überaus erfolgreich (s. velobiz.de-Magazin 01-02/2019). Seit 2019 wird auch im B2B-Bereich kräftig angeschoben. Heute bringen unter anderem Flink, Takeaway und Gorillas das Essen dank Swapfiets-Abos. Dazu gehören nach Onno Huyghe, dem Chief Commercial Officer, neben den großen Lebensmittellieferanten einige unabhängige Geschäfte und Restaurants. Sie sind mit denselben Rädern wie für die Privatkunden unterwegs, vor allem mit dem Modell Power 7. Mittlerweile zählt man europaweit über 260.000 blaue Vorderreifen. Die Business-Abos bringen davon etwa fünf Prozent auf die Straße, also etwa 13.000. »Ein Drittel davon sind Lieferdienste«, so Huyghe. »Diese Unternehmen haben in der Regel Pools unserer Räder an ihren Standorten, aus denen sich die Kuriere bedienen. Darüber hinaus bieten wir unsere E-Bikes für Lieferdienste auch einzelnen Kurieren über das spezielle Heavy-Use-Abonnement an.« Die Versicherung und oft auch vorbeugende Wartungsarbeiten sowie zusätzliche Batterien sind darin enthalten. Huyghe sieht noch kein Ende der Liefer-Fahnenstange: Tendenziell könne jede Lieferung auf der letzten Meile mit einem Fahrrad erledigt werden.
»Es handelt sich hier um einen sehr dynamischen Markt.«Onno Huyghe, CCO Swapfiets
Unter dem Konzerndach erfolgreich
Wer in diesem Geschäft erfolgreich sein will, braucht Kapital oder starke Investoren. Das sagt auch Shahram Rezasade von Dockr, mittlerweile eine 100-prozentige Tochter von PON.bike. Die Niederländer haben vor einem Jahr drei Millionen Euro in Dockr investiert. Der direkte Draht zur Konzernschwester Urban Arrow unter der wohlhabenden Mutter PON.bike ist dabei ein großer Vorteil. So meint der Deutschland-CEO: »Der Markt für E-Lieferfahrzeuge, vor allem E-Lastenräder, ist erst am Anfang. Aber ich glaube wegen der Kapitalintensität des Marktes nicht, dass noch viele Mitbewerber hinzukommen.« Dazu kommen die derzeitigen Lieferschwierigkeiten. »Nicht einmal wir, die wir aus dem Konzern heraus so gute Verfügbarkeit haben, können so viel liefern, wie wir wollten.« Und der Bedarf wäre da: »Die Telekom etwa hat derzeit 33.000 Sprinter im Einsatz, mit denen sie die Wartungskästen anfahren. Wenn sie nur 10 Prozent davon durch Cargobikes ersetzten, was sie gerne tun würden, hat der Markt ein Problem. Das kann keiner liefern!«
Nicht nur die Vorinvestition in Hardware, auch die Dienstleistungen zu den Rädern verlangten nach hohen Investitionen, erklärt Rezasade. Dockr bietet derzeit nur Lastenräder an, von denen soll eine vierstellige Stückzahl in Umlauf sein. Nicht nur schnelle Zweirad-, sondern auch dreirädrige Modelle kommen zum Einsatz. »Das Rad kommt immer mit Full-Service-Abo. Schaden, Diebstahl, Schnellreparatur und Swap, also temporärer Ersatz bei einer längeren Reparatur.« Genutzt werden die Cargobikes zum Teil von Flink und Gorillas, dann mit Gorillas-eigenen Lieferboxen, aber auch von Supermarktketten, die online bestellte Ware ausliefern. Ein neuer, wachsender Bereich ist die Nutzung bei Scooter-Verleihern wie Tier. Sie fahren mit den Lastenrädern die Cities ab, um die Scooter zu warten und Batterien zu tauschen. Zum Angebot von Dockr gehört auch umfangreiches Zubehör, das von Unterteilungen für die Lieferboxen etwa, die sichere Food-Lieferungen gewährleisten, bis zu Schaumstofffächern für die Akkus der E-Scooter reicht. Bald soll es Active-Cooling-Einsätze geben, sodass gleichzeitig heiße und gekühlte Lebensmittel transportiert werden können.
Trikes mit von Dockr ausgestatteten Boxen transportieren Tausch-Akkus für Scooter.
»Anfragen gibt es aus ganz unerwarteten Bereichen« so Rezasade. Er zählt Wäschetransporte zu Wäschereien auf oder Tauchschulen, die das Equipment von der Zentrale an den Strand bringen, »viele Kundenwünsche kennt man ja noch gar nicht.« Enorm dürfte das Potenzial bei Handwerkern sein. Sie können auch mal den Azubi mit dem Rad für eine einfache Aufgabe vorbeischicken. Dazu braucht man keinen Fahrer mit Führerschein, »ein riesiger Vorteil gegenüber dem Auto.« Dass alle Anbieter mit der grünen, sprich weitgehend CO2-freien Zulieferung argumentieren, versteht sich von selbst. Wichtiger ist aber die Beobachtung, dass dieses Feld noch ganz am Anfang steht. Was bisher von Spezialisten bearbeitet wurde, könnte schon bald auch für weitere Teile der Fahrradindustrie von Interesse sein.
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