Interview mit Carlo van de Weijer
Die Mobilität der Zukunft
Carlo van de Weijer spricht klare Worte, wenn es um die Verkehrswende geht. Das Auto ist nicht wegzudenken, der stationäre Handel wird signifikant leiden und die Städte nutzen die Chancen nicht, die sich Ihnen gerade bieten.
Alle sprechen von der großen Mobilitätswende. Carlo van de Weijer hat eine ganz eigene Meinung dazu. Welche?
Carlo van de Weijer: Viele sagen, dass die Zukunft in der autonomen Mobilität liegt, dass alle Autos connected sind, dass Sharing den Markt dominiert und wir keine eigenen Autos mehr besitzen. Wenn man einen TED-Vortrag über die Zukunft der Mobilität anschaut, ist es fast immer das. Da bin ich ganz anderer Meinung. Ich habe lange bei TomTom gearbeitet und kenne das Thema autonome Mobilität auch von Innen. Nach meiner Meinung ist das völlig selbstfahrende Auto eine ganz komplizierte Lösung auf der Suche nach einem Problem. Das ist auch ein Grund, warum ich das Fahrrad als so wichtiges Element in der zukünftigen Mobilität sehe. Wir kommen nicht vom Auto los, dafür ist es zu wichtig. Aber das Fahrrad kann da noch viel mehr machen.
Wie sehen die Holländer das Thema grundsätzlich? Ihr seid die Fahrradnation Nummer 1.
Van de Weijer: Ja, das sind wir, waren wir aber nicht vor 40 Jahren. Damals waren nur Autos in den Städten. Das war so wie in Istanbul, Athen oder Kairo. Die ganzen Städte waren voll von geparkten Autos. Irgendwas ist passiert, dass sich das so entwickelt hat. Natürlich sind wir ein flaches Land und wir sind nicht das wärmste Land der Welt. Das sind schon zwei Faktoren, um das Fahrrad populär zu machen.
Wie hat Holland das geschafft? War das eher restriktiv, in dem man das Autofahren immer schwerer gemacht hat?
Van de Weijer: Es ist ganz schwierig zu sagen, was das Wichtigste war. Es ging von den Hippies aus. Und ein wichtiges Thema war, dass so viele Kinder im Verkehr gestorben sind. Da gab es eine Gruppe, die hieß frech: „Stopp den Kindermord“. Das klang eher nach Abtreibungsgegnern. Die haben gefragt, weshalb wir uns damit abgefunden haben, dass so viele Kinder im Verkehr sterben.
Gleichzeitig gab es Pläne, um eine Autobahn quer durch Amsterdam zu bauen. Das kam alles zu gleicher Zeit und da hat sich die öffentliche Meinung geändert. Viele andere Städte haben damals stark auf Nahverkehr gesetzt. In Holland mehr auf Fahrrad. Und das hat offensichtlich geholfen.
Und jetzt hat die Pandemie natürlich dazu beigetragen, dass sich das auch in anderen Ländern schnell entwickelt. Corona ist ein temporäres Phänomen. Es wird sich nicht alles ändern, aber wir kommen auch nicht dahin zurück, wo wir vorher waren. Einige der Trends waren ja schon da und wurden durch die Pandemie nur beschleunigt. Und das ist einer: Dass wir mehr Raum machen für Personen statt für Verkehr.
Liegt das auch daran, dass viele in der Corona-Zeit das Fahrrad als Freizeitspaß für sich entdeckt haben. Übernehmen die das in den Alltag?
Van de Weijer: Genau. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir haben tatsächlich inzwischen ein Problem mit zu vielen Fahrrädern. Die Fahrräder sind ausverkauft, vor allem Rennräder. Wir haben da Luxusprobleme. Fahrrad ist das neue Toilettenpapier.
Ich denke, es sind zwei oder drei Sachen, die da zeitlich zusammenkommen. Der Nahverkehr ist nicht besonders komfortabel und in Zeiten von Corona auch nicht sicher. Dadurch gewinnen die individuellen Alternativen. Und was auch passiert ist, dass der Mensch erkennt, dass er seit prähistorischen Zeiten darauf programmiert ist, etwa eine Stunde am Tag mobil zu sein, sich zu bewegen. Das war aus Sicht der Evolution offensichtlich das Optimale.
Und jetzt, wo sehr viele Menschen zuhause arbeiten, haben sie das Bedürfnis, sich eine Stunde zu bewegen. Sie haben dabei kein konkretes Ziel. Die Mobilität selbst ist das Ziel. Und da es fast keine Autos in den Städten gibt, ist das Fahrradfahren auch sehr angenehm geworden.
Das ist ein sehr großer Schritt, denn man entdeckt jetzt, dass man so auch mobil sein kann. Und ich denke nicht, dass man den Raum wieder zurückgeben wird.
Klassische Argumente die gegen eine solche Verkehrswende ins Feld geführt werden, sind zum Beispiel, dass der Einzelhandel kaputt geht, wenn keine Autos mehr in die Städte kommen.
Van de Wejer: Die Menschen, die das sagen, haben ein bisschen recht. Vor allem in kleinen Städten und Dörfern, hat man oft gesehen, dass wenn die Autos weg sind, geht auch das Leben raus. Das Auto komplett wegdenken ist auch ein zu gefährlicher Schritt.
Aber was die Leute nicht haben wollen, ist, dass das Auto im Blickfeld ist. Wir müssen einen Weg finden, damit das Auto aus dem Blickfeld verschwindet. Viele Menschen sagen ja, dass wir in Zukunft keine Parkgaragen mehr brauchen, weil das autonom fahrende Auto ja nicht parken muss. Das wird nicht passieren.
Das Auto ist für viele ein mobiler Teil ihres Hauses. Das darf man nicht unterschätzen. Das ist immer noch so.
Aber es hat sich auch bewiesen, dass sich neue Möglichkeiten ergeben, wenn wir an das Auto rangehen. Die Lebensqualität in den Städten steigt. Vor allem für Restaurants und Cafés. Beim Handel stimmt das Argument. Das Auto muss in der Nähe sein, damit man es nutzen kann. Das kann man nicht ignorieren. Da funktioniert auch Park-and-ride nur selten. Die Brüche in der Modalität bedeuten immer Komfortverlust. Ich kenne sehr wenige, gelungene Park-and-ride-Konzepte.
Also könnte man die Fahrzeuge innerhalb von 200 oder 300 Metern parken und die Menschen laufen dann. Nur kann man das viel besser machen, als es heute meistens gemacht wird.
Die Idee ist also ein innerer Ring von Parkhäusern, die fast unsichtbar sind. Und der Kernbereich bleibt frei. Es gibt keinen Parkplatzsuchverkehr mehr.
Van de Weijer: Von Onstreet- nach Offstreet-Parking. Das ist eine wichtige Sache, die man international inzwischen oft sieht. Und das ist eigentlich nie ein Schritt zurück.
Dann brauchen wir mehr Nahverkehr. Allerdings korrelieren Autos und Nahverkehr nicht wirklich miteinander. Wenn man in den Nahverkehr investiert fahren kaum Menschen weniger Auto. Fahrrad und Nahverkehr aber auch Fahrrad und Auto haben diese Korrelation. Wenn man mehr in Fahrradinfrastruktur investiert, geht der Autoverkehr zurück. Da spielt die Individualität eine sehr große Rolle. Das ist eine der großen Qualitäten der Fahrräder, dass sie zu beiden Seiten als Ersatz wirken.
Beim Nahverkehr ist das auch eine gute Sache, denn der ist für die Gemeinden sehr teuer. Der Nahverkehr kostet 20 bis 60 Cent pro Passagier-Kilometer. Da braucht man immer Steuerzuschüsse. Das Auto ist über das ganze Land gesehen ziemlich kostenneutral. Den Kosten für die Infrastruktur und dem gesellschaftlichen Schaden stehen die Steuereinnahmen gegenüber. Das Fahrrad dagegen bringt Geld. Die Menschen bleiben gesünder und das ist ein Gewinn für die Gesellschaft.
Aber die Radfahrer bezahlen keine Steuern, das kann dem Staat doch nicht gefallen.
Van de Weijer: Das ist die kurzfristige Betrachtung. Für die Gesamtwirtschaft ist es besser, weil man gesünder bleibt. Und damit ist es natürlich auch für das Steuersystem gut. Der Fahrradkilometer bringt pro Person zwischen 5 und 15 Cent, weil man gesünder bleibt, weniger oft ins Krankenhaus muss und bei der Arbeit seltener ausfällt. Der gesamte Radverkehr kostet dagegen nur 3 bis 5 Cent pro gefahrenem Kilometer an Infrastruktur.
Das Problem ist aber, dass die Kosten für den Radverkehr bei den Gemeinden liegen, während die Ersparnisse im Gesundheitssystem ankommen, also bei der Regierung.
Zweites Argument gegen das Verbannen von Autos aus den Innenstädten ist der soziale Aspekt. Menschen vom Land haben gar nicht die Möglichkeit, aufs Auto zu verzichten. Sie werden rausgedrängt.
Van de Weijer: Ich lebe auf dem Dorf und da geht es nicht ohne Auto. Aber das ist auch kein großes Problem, finde ich. Viele Leute können sich nicht leisten, kein Auto zu haben. Und das Auto wird immer billiger, vor allem das Elektroauto. Das private Leasing wird zurzeit so subventioniert, dass es 100 Euro im Monat kostet. Ohne Subventionen wären es 200. Das wird in Zukunft schnell billiger werden.
Warum? Bei der Batterieherstellung werden in großen Mengen seltene Rohstoffe verarbeitet.
Van de Weijer: Lithium ist nicht selten. Das gibt es genug und die Herkunftsländer sind einigermaßen stabil. Außerdem lässt es sich gut recyceln. Kobalt ist ein Problem, aber man arbeitet ja gerade an Batterien, die kein Kobalt brauchen. Aber das Minen-Problem, das wir mit Kobalt haben, ist jetzt schon viel kleiner, als das, was wir bei der Ölproduktion haben. Gerade ist wieder ein Öl-Unfall auf Mauritius passiert. Und da ist die Kette schon durchoptimiert. Das steht ja bei den Batterien noch bevor. Und dann gilt die klassische Skalierung: Wenn man doppelt so viel produziert, sinkt der Preis um 20 Prozent.
2013 haben wir noch 1000 Dollar für die Kilowattstunde bezahlt. Heute stehen wir bei 150. Und das geht weiter bis auf 70 Dollar.
Zurück zum Fahrrad. Der aktuelle E-Bike-Boom macht wirklich ein Problem. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Fahrräder passen nicht mehr zueinander. Wie geht man damit um?
Van de Weijer: Das ist die Million-Euro-Frage. Man sagt, das wären Luxusprobleme, aber es sind echte Probleme. Wir haben fast mehr Unfallopfer in Holland durch Fahrradunfälle, als durch Autos.
Oft wird das mit den älteren Menschen in Verbindung gebracht, die die Geschwindigkeit nicht beherrschen. Das stimmt vielleicht, aber die fahren eben auch viel mehr als früher, gerade weil es E-Bikes gibt. Sie erlangen eine ganz neue Lebensqualität dadurch. Will man das regulieren? Wenn Helmpflicht eingeführt wird, sinkt die Menge der Radfahrer sofort.
Und tatsächlich sind die älteren Menschen dadurch auch gesünder. Sie kommen fast an die Stunde täglicher Mobilität hin, von der ich vorhin sprach. Die sind so viel glücklicher und gesünder. Will man das wieder aufgeben? Und übrigens: Pro gefahrenem Kilometer ist das Radfahren sicherer geworden. Wir fahren eben viel mehr.
Was wir brauchen sind mehr Fahrstreifen, breitere Fahrstreifen. Unterm Strich ist es viel billiger das Fahrradfahren zu stimulieren als den Nahverkehr. So sicher ist der Nahverkehr übrigens auch nicht. Pro Passagierkilometer gibt es in Holland gleich viel Tote wie beim Autoverkehr.
Die Elektro-Unterstützung bringt tatsächlich etwas mehr Gefahr. Aber auf der anderen Seite bringt es wieder mehr Räder auf die Straße, denn die Reichweite steigt im Quadrat im Vergleich zum klassischen Rad.
Letztendlich wird Mobilität eine Schlacht um Verkehrsraum. Wie viele Menschen kann man auf einem Quadratmeter bewegen? Da verliert das Auto natürlich komplett. Das ist so ineffizient, auch wenn es autonom, elektrisch oder was auch immer ist. Mit Fahrrädern kann man mehr Menschen transportieren, als mit einer U-Bahn. Bis zu 15000 Menschen in der Stunde pro Fahrstreifen.
War Bike-Sharing nicht genau mit dem Ansatz angetreten das Fahrrad auch Menschen zugänglich zu machen, die wenig Rad fahren? Das hat nicht wirklich geklappt.
Van de Weijer: Bike-Sharing gibt es in zwei Varianten, mit fester Station und ohne. Mit fester Station ist Bike-Sharing einfach zu teuer. Das hat ja ein Balance-Problem. Man muss die Räder immer wieder neu verteilen. Die Nebenkosten belaufen sich auf 700 bis 800 Dollar pro Fahrrad pro Jahr.
Die Variante ohne feste Standorte hat ein großes Problem mit der Disziplin der Menschen. Wenn es nicht das eigene Fahrrad ist, sucht man keinen guten Parkplatz und geht nicht sorgfältig damit um. Die Qualität vieler Sharing-Bikes war zudem so schlecht, dass sie nach wenigen Monaten kaputt waren. Das funktioniert nicht.
Die E-Scooter haben das gleiche Problem. Die bringen fast nichts. Drei Probleme: Im Durchschnitt sind sie nach vier bis fünf Monaten kaputt. Wenn man den CO2-Fussabdruck der Herstellung betrachtet ist es besser, einen BMW X5 zu fahren.
Und man braucht in Praxis so viele davon, dass sie im Durchschnitt nur 1,4 Mal pro Tag benutzt werden. Rechnen Sie das mal zusammen. Das lohnt sich nicht. Das wird innerhalb von zwei Jahren verschwinden.
Und es gibt auch für die Behörden keinen Grund, das zu stimulieren. Etwa 50 Prozent der Fahrten ersetzen das Laufen, 30 Prozent den Nahverkehr und nur ein winziger Teil ersetzt das Auto. Das bringt nichts.
E-Scooter, bei denen man sich setzen kann, so wie Mopeds, das kann funktionieren. Ich habe selbst zwei Monate einen gehabt und habe kurze Wege zum Einkaufen damit ersetzt. Das hätte ich mit dem Fahrrad nicht getan. Und auch in der Stadt seht man mit solchen E-Vespas positive Resultate Das ist ein geschlossener Business-Case.
Man sollte stimulieren, dass die Leute sich selbst ein Fahrrad kaufen. Die Menschen achten darauf viel besser. Es gibt zwar dann die gleichen Parkprobleme wie in Holland, aber das sind Luxusprobleme, auf die man stolz sein kann.
Wenn sich Carlo van der Weijer eine Innovation für die nachhaltige Mobilität für Holland wünschen könnte. Was wäre das?
Van de Weijer: Ich denke, wir könnten das Fahrrad noch viel sicherer machen. Wir können zum Beispiel die Pedalunterstützung abhängig machen von Gefahr. Daran arbeiten wir selbst gerade. Da fließen viele Parameter ein wie der Ort, die Verkehrslage, andere Verkehrsteilnehmer, die Ampeln.
Weniger futuristisch wäre eine implizit sichere Infrastruktur. Auf Straßen, wo bis 30 Km/h gefahren werden, reicht der Fahrstreifen. Bei höheren Geschwindigkeiten braucht man separate Fahrspuren. Das würde in Holland etwa 10 bis 15 Milliarden kosten. Das ist so viel, wie wir in zwei Jahren als Subventionen in den Nahverkehr geben.
Die implizit sichere Infrastruktur, kombiniert mit dem etwas intelligenteren Fahrrad ergeben für mich das beste Sicherheitssystem.
Das Interview führte Frank Puscher. Mehr Input zur Verkehrswende liefert Carlo van der Weijer am 01. September während der Bike Biz Revolution der Eurobike.
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