Portrait - Dynamo
Dynamo sorgt für Lichtblicke
Es ist einer der ersten grauen Novembertage des Jahres. Eine Gruppe jugendlicher Schüler drängt sich in den Verkaufsraum des Fahrradladens. Einige haben Kameras um den Hals. Die Jugendlichen sind für ein Schulprojekt in den Münchner Osten gekommen. Das Objekt ihres Interesses: der Dynamo Fahrradservice. Etwa 800 Besucher im Jahr interessieren sich für die Arbeit der außergewöhnlichen Fahrradwerkstatt. Die Räumlichkeiten vom Fahrradservice Dynamo befinden sich am Rande des Werksviertels, das unweit des Ostbahnhofs gelegen und mitten im Umbruch ist. Bis 1996 wurden auf einem Großteil des Geländes noch Knödel geformt. So lange, bis Pfanni seine Produktionsstätte von München nach Mecklenburg-Vorpommern verlagerte. Danach wurde das Gelände für kulturelle Betriebe und das Nachtleben geöffnet. In den nächsten Jahren sollen hier etwa 1.200 neue Wohnungen und bis zu 10.000 Arbeitsplätze entstehen.
»Das ist gut für uns«, prophezeit Anette Eggart, die Geschäftsführerin des Fahrradservice Dynamo, während sie vom Besprechungsraum aus dem Fenster hinaus den Blick über die Baustellen des Werksviertels schweifen lässt. Sie hofft auf mehr Laufkundschaft. Dann befindet sich der Fahrradladen nämlich mitten im Geschehen.
Dieses Bild lässt sich symbolisch auch auf die Mitarbeiter des Fahrradservice Dynamo übertragen, denn diese arbeiten sich hier vom Rande der Gesellschaft zurück ins soziale Geschehen. Die meisten von ihnen gehörten, bevor sie zum Fahrradservice Dynamo kamen, zu den etwa 824.000 Langzeitarbeitslosen in Deutschland. Viele davon führten persönliche Belastungen in schwierige Lebenssituationen: psychische Probleme, Suchtverhalten, körperliche Einschränkungen, Schulden oder die Tatsache, dass sie »einfach nur« alleinerziehend sind. Im Bürokratendeutsch handele es sich bei all diesen Menschen um Personen mit sogenannten Vermittlungshemmnissen, erklärt die Chefin. Mit ihren Problematiken haben sie Schwierigkeiten, im ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Anstellung beim Fahrradservice Dynamo bedeutet für sie eine neue Chance. »Vielleicht die letzte«, wie Anette Eggart bemerkt. Die Arbeit hier ist für ihre Mitarbeiter sozusagen ein Plan B. Und auch Plan B für die Räder, denn die meisten sind Spenden, auf die nach Durchlaufen der Werkstatt ein zweites Leben wartet.
Stabilisieren und Qualifizieren
Der Dynamo Fahrradservice Biss e.V., so der vollständige Name des Betriebs, ist ein anerkannter gemeinnütziger Verein. Er gehört zu den mehr als 40 sozialen Betrieben, die es in München gibt. Vor 30 Jahren ins Leben gerufen, haben es sich die Gründer zum Ziel gesetzt, die soziale, berufliche und allgemeine Bildung von benachteiligten und von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen zu fördern. Bereits damals hat man sich bewusst für diese zeitlose Art von Mobilität entschieden. Man konnte dennoch nicht wissen, dass der Klimawandel und technische Entwicklungen wie das E-Bike das Fahrrad zu einem zukunftsträchtigen Verkehrsmittel machen würden. Das Team, das zu Beginn aus lediglich einem Zweiradmechaniker und einem Anleiter bestand, ist mittlerweile auf eine kleine Mannschaft von zehn Personen angewachsen. Zu diesem Kern fester Angestellter hinzu kommen etwa 30 Mitarbeiter, die sich in Qualifizierungsmaßnahmen befinden. Diese können sich in verschiedenen Bereichen einbringen: von der Reparaturwerkstatt und den Verkauf über Recycling/Wertstoffentsorgung und Lagerverwaltung bis hin zum Bürobereich. Natürlich ist in der Werkstatt auch feinmechanisches Geschick gefragt. Wenn sich hier jemand besonders gut anstellt, kann derjenige auch noch eine Ausbildung zum Zweiradmechatroniker oder Fahrradmonteur anschließen. Diese dauert dann zwei bis drei Jahre und wird mit dem Gesellenbrief beendet. Den ein oder anderen begleitet das Dynamo-Team sogar durch die Meisterausbildung.
Dennoch sind die Maßnahmen des Betriebs nicht für jeden etwas. Etwa die Hälfte der Teilnehmer an den Qualifizierungsprogrammen bricht ab. Nicht jeder schafft es, sich an den Tagesrhythmus zu gewöhnen. Einige fallen auch in Suchtverhalten zurück. Deswegen gibt es strenge Betriebsregeln. »Wer sich nicht daranhält, muss wieder gehen«, betont die Geschäftsführerin. Und fügt, etwas weniger streng, hinzu: »Am Ende des Tages sind die Mitarbeiter dankbar, es ist in deren eigenem Sinn.« Denn wer die Maßnahme durchzieht, hat gute Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt: »Wer bei uns abschließt, wird auch zu 99,9% weitervermittelt.«
Das Ziel ist die Vermittlung in eine sozialversicherungspflichtige Anstellung am ersten Arbeitsmarkt. An der Wand des Besprechungsraums hängen die Erfolgsgeschichten in Bilderrahmen: Neben einem Foto des Mitarbeiters sind dort Name, Art und Dauer der Ausbildung vermerkt. Wegen dieser Menschen macht Anette Eggart ihren Job so gerne. »Das ist sehr, sehr befriedigend und sinnstiftend, wenn sie schauen, welche Leute sie aus so einer Krisensituation heraus begleiten können. Wem sie Hilfestellung geben können, um wieder auf die Beine zu kommen.« Die heute 48-Jährige arbeitete als Geschäftsführerin bei einem Medienunternehmen, als sie auf die Stellenanzeige vom Fahrradservice Dynamo in der Süddeutschen Zeitung aufmerksam wurde. Bis heute hat sie ihre Entscheidung zum Jobwechsel nicht bereut.
Mit dem Tintenfisch zu mehr Selbstbewusstsein
Stefan Andl ist einer dieser Menschen, denen das Team von Dynamo e.V. wieder auf die Beine geholfen hat. Er arbeitete 29 Jahre als Bäcker und Konditor im familieneigenen Betrieb. Doch dann bekam er Herzprobleme, musste sechsmal wiederbelebt werden. Ein Gutachter, zu dem ihn das Jobcenter schickte, stellte fest, dass er seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben könne. Den Fahrradservice Dynamo e.V. entdeckte Stefan Andl zufällig durch eine Annonce in der Straßenzeitung Biss, die eng mit Dynamo kooperiert. Zunächst arbeitete er in der Werkstatt, bis er zum Projekt Pulpo kam. »Hier habe ich das Selbstbewusstsein wieder gelernt. Der Kundenumgang war am Anfang die Hölle für mich, mittlerweile weiß ich, wie man mit den Kunden umgeht«, erklärt er seine Arbeit als Verkäufer der Produkte aus Fahrradschläuchen. Und fügt bescheiden hinzu: »Man hat festgestellt, dass ich eine Begabung als Verkäufer habe.«
»Pulpo – abgefahren in München« ist ein Gemeinschaftsprojekt von drei sozialen Betrieben in München. Dafür recyceln Mitarbeiter vom Fahrradservice Dynamo alte Fahrradschläuche und geben diese weiter an das Netzwerk Geburt und Familie, wo sie nach Vorlagen der Künstlerin Naomi Lawrence zu außergewöhnlichen Taschen und Accessoires verarbeitet werden. Manchmal kommen auch weitere Fahrradteile zum Einsatz, wie etwa ein Zahnkranz, Naben oder Innenlager, aus denen individuelle Lampen gebaut werden. Aus ursprünglich vier Produkten sind mittlerweile 30 geworden. Verkauft werden die Einzelstücke in den eigenen Läden, Partnergeschäften in München und auch bei Veranstaltungen wie dem Tollwood, dem Streetlifefestival oder der Reisemesse f.re.e. Für den Verkauf außer Haus haben die Mitarbeiter eine spezielle Rikscha gebaut, die als rollende Ausstellungsfläche dient. Die Schläuche, Hauptbestandteil der meisten Pulpo-Artikel, würden ansonsten in der thermischen Entsorgung landen, die kostenpflichtig ist. Außerdem sieht Dynamo diese Art der Entsorgung auch aus Umweltschutzgründen kritisch. So etwas wollte der Verein nicht mitmachen und rief als Konsequenz 2014 das Projekt Pulpo ins Leben. Die Münchner Straßenzeitung Biss übernimmt für die Mitarbeiter des Pulpo-Projekts eine Job-Patenschaft von 5000 Euro jährlich.
Die Sache mit dem Geld
Überhaupt ist man bei Dynamo froh über die Zusammenarbeit mit Biss e.V. Die Abkürzung der Straßenzeitung steht für »Bürger in sozialen Schwierigkeiten«, denn auch hier sind vom Leben Benachteiligte als Verkäufer beschäftigt. Die Struktur von Biss e.V. mit einer Stiftung im Hintergrund erlaubt es, dass Gelder auch mal für Sonderleistungen ausgegeben werden können. Davon können auch die Mitarbeiter von Dynamo profitieren. Sei es, wenn einer der Mitarbeiter ein neues Bett braucht oder wenn ein aufwändiger und teurer Zahnarztbesuch ansteht. Denn schlechte Zähne sind in der heutigen Zeit ein schlechtes Aushängeschild und verbessern die Chancen in späteren Bewerbungsgesprächen nicht gerade, gibt Anette Eggart zu bedenken. Aus dem Topf von Fördergeldern und Zuschüssen, die Dynamo jedes Jahr von Neuem beantragt, kann sie solche Ausgaben nicht bezahlen: »Da muss ich einen Verwendungsnachweis vorlegen. Es wird bis auf den letzten Cent dokumentiert, dass ich die Zuschüsse in die Qualifizierung von langzeitarbeitslosen Menschen stecke.« Die bayrische Landeshauptstadt subventioniert etwa 351.000 Euro jährlich über das Münchner Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramm (MBQ), was in die Finanzierung des Kernpersonals (Anleiter) fließt. Die Einzelfinanzierung der Lohnkosten der Beschäftigten erfolgt durch das Jobcenter München. Zwar gibt es für die Finanzierung der Sachkosten ergänzende Hilfen durch den Bezirk Oberbayern, das Integrationsamt und zweckgebundene Spenden, allerdings spielen hier auch die eigenen Erlöse eine wichtige Rolle. Der Teil, der selbst erwirtschaftet werden muss, entspricht in etwa den 351.000 Euro, die die Stadt München subventioniert.
Meisterfachbetrieb mit Meisterqualität
Eben weil sich der Betrieb auch rechnen muss, bekommt der Kunde bei Dynamo nichts geschenkt. Ein gebrauchtes Alltagsrad kostet in der Regel zwischen 100 und 180 Euro. Bei einem Rennrad, wie das gut erhaltene der Marke Focus, das gerade im Laden steht, können es auch schon einmal 480 Euro sein. Das sind Preise, wie sie auf dem Markt üblich sind. »Der Service muss stimmen«, erklärt Anette Eggart. Und das tut er auch, denn der Fahrradservice Dynamo ist ein Meisterfachbetrieb. Qualität wird hier großgeschrieben. Die Geschäftsführerin legt großen Wert darauf, dass der Betrieb trotz allem kein Therapiezentrum ist: »Unser Hauptthema ist die Arbeit.« Und die gehen die Mitarbeiter professionell an.
Die Fahrräder – Alträder von Privatpersonen, Hausverwaltungen und Wertstoffhöfen – werden zunächst im Keller des Ladens eingelagert und vorsortiert. Etwa 800 Räder bekommt Dynamo innerhalb eines Jahres. Wenn das Altrad dann aus dem Lager geholt wird, wird es von einem Mitarbeiter komplett demontiert. Dabei stellen sich etliche Fragen: Welches Teil muss ersetzt werden? Wo muss ein neues Teil eingebaut werden? Wie wird das, was nicht mehr verwendet werden kann, fachgerecht entsorgt? Zum Wiederaufbau des Rads werden die Mitarbeiter im hauseigenen, gut sortierten Ersatzteillager fündig. Dieses enthält einige Schätze, auf die so mancher Zweiradmechaniker neidisch wäre. An jedem Rad, das die Werkstatt durchläuft, hängt ein Produktionsblatt, das dokumentiert, was an dem Rad gemacht wurde. Bis zu 500 Gebrauchträder verlassen im Jahr das Geschäft. Hinzu kommen noch rund 2500 Reparaturen von Kundenfahrrädern.
Dynamo hat sich schon einen Namen in München gemacht. Die meisten Kunden werden durch Mundpropaganda in den Laden gelockt. Einige kommen sogar aus weiter entfernten Stadtteilen mit ihren Rädern, um den sozialen Betrieb zu unterstützen. In einer Stadt, in der die Agentur für Arbeit im November 2018 7613 Langzeitarbeitslose zählte, kann ein sozialer Betrieb wie Dynamo ein rettender Strohhalm sein. Danach greifen muss der in Not Geratene jedoch selbst. Wie Stefan Andl sagt: »Es liegt ja immer an einem selber, ob man etwas aus sich machen will.«
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