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Ein Vordenker, der aneckt
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Portrait - Hannes Neupert

Ein Vordenker, der aneckt

Hannes Neupert eckt an und provoziert. Doch hinter den lauten Worten, die oft leise vorgetragen werden, steckt ein Vordenker der E-Bike-Szene, der viele aktuelle ­Entwicklungen schon vor langer Zeit vorhergesehen hat.

Hannes Neupert spricht leise, wenn er so am Besprechungstisch sitzt. Man müsste meinen, er sei ein schüchterner Mensch. Wenn man ihn zum ersten Mal trifft, wirkt er zurückhaltend, sein äußeres Erscheinungsbild im rostfarbenen Pullover über dem hellblauen Hemd unauffällig. Doch Neupert haut gerne einen raus, provoziert, sendet Botschaften, die andere Marktteilnehmer piesacken. Hannes Neupert mag von Natur aus kein Charismatiker sein, aber er brennt für seine Mission und geht sicher, dass seine Botschaft ankommt. Es stört ihn nicht, wenn eine Mitarbeiterin aus Platzmangel beim Gespräch mit am Konferenztisch sitzt und ihrer Arbeit nachgeht, ganz im Gegenteil. Neupert spricht: über sich, über seine Ziele, über das große Ganze. Sein Blick wandert zum Aufnahmegerät, als wollte er sichergehen, dass nicht nur der Reporter im Raum, sondern auch die Welt da draußen seine Denkanstöße mitbekommt. Neupert mag leise sprechen, aber seine Worte sollen ihr Ziel erreichen.
Besuch bei Hannes Neupert, 42, den viele als wichtigsten Missionar der Elektrofahrradbranche zumindest in Deutschland beschreiben. Nach eigener, aber nie bestrittener Aussage war er es, der 1992 die erste deutschsprachige Marktübersicht über Elektrofahrräder veröffentlichte. Rod Keech, ein Veteran der Autoindustrie und heute Vorsitzender des Hybridtechnologieunternehmens Nexxtdrive, sieht in Neupert den »größten Evangelisten unserer Branche«. Seit mehr als zwei Jahrzehnten widmet sich Neupert nicht nur dem Test neuer elektrisch angetriebener Fahrräder, sondern treibt als Vorsitzender von Extra­Energy e.V. »die Verbreitung und nachhaltige Entwicklung von Leicht-Elektro-Fahrzeugen« voran, wie es in der Selbstdarstellung des Vereins heißt. Neupert ist ein international gefragter Fachmann, sein Netzwerk ist global, engmaschig und prominent. Er leitet und arbeitet in Expertengremien, die sich mit der Standardisierung der neuen Technologien beschäftigen.
Er jettet um die Welt, um seine Mission voranzutreiben.

Global unterwegs, lokal verankert

Neupert ist viel unterwegs auf hek­tischen Messen wie der Eurobike oder der Internationalen Automobil Ausstellung, er kennt die Industriestandorte und High-Tech-Forschungsstandorte, die Kongressmetropolen nur zu gut. Tanna, der Ort, in dem Neupert mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebt, bietet dazu einen Kontrast. Wer in diesen Ort im südöstlichen Thüringen kommt, sieht vor allem Bäume und leere Straßen. »Stadt Tanna grüßt ihre Gäste« steht auf einem Schild, eingerahmt von Werbeplätzen der örtlichen Wirtschaft: Bau, Sanitär, Fußböden. Der Ort schrumpft seit Jahren, weniger als 4.000 Einwohner sind geblieben. Auch die Bahn macht hier nicht mehr halt. Hier sitzt der Verein ExtraEnergy, hier testet eine Tochtergesellschaft jedes Jahr zweimal die neuen Elektromodelle und viele Prototypen, hier beraten Hannes Neupert und seine Mitstreiter darüber, wie man das Thema E-Mobilität lebhaft voranbringen kann.
Dass der Verein hier sitzt, liegt am Familienerbe Neuperts. Sein Vater wuchs hier auf. Neuperts flüchteten dann aber nach Westen. Ihr Betrieb wurde verstaatlicht und in ein Betonkombinat eingegliedert, das Abdeckungen von Kabeltrassen herstellte. Nach dem Ende der DDR wurde das Eigentum rückübertragen und die Familie zog etappenweise zurück nach Tanna. Heute lagert hier, in einer kühlen Halle, die größte E-Fahrradsammlung der Welt: Etwa 1.200 Exponate aus fünf Jahrzehnten hat Neupert zusammengetragen, ein Dorado für Tüftler, ­Nostalgiker, Technikfreaks und Patentanwälte. Lange Zeit verpflichtete sich jeder Hersteller mit Einsendung zum Test, sein Rad für die Nachwelt bei ­ExtraEnergy zu lassen. Heute müssen die Geräte zur Nachvollziehbarkeit und für den Vergleich von Testergebnissen zwar laut Vertrag meist nur noch ein Jahr in Tanna bleiben – doch Neuperts Sammlung wächst weiter. »Die Her­steller sind froh, dass wir diese Arbeit machen«, sagt er, »sie hätten die Dinger früher sicher entsorgt und freuen sich heute, wenn wir ihnen ihre alten Modelle für eine Weile zurückleihen. Was wir machen, ist richtige Museumsarbeit für die Nachwelt.«
Der Rückblick auf technische Entwicklungen ist wichtig, um zu begreifen, wo Hannes Neupert herkommt, wie er in das Thema Elektromobilität hineinwuchs. Mit Stolz zeigt er Exponate, an denen er als Kind und als junger Mann selbst mitgewirkt hatte: Solar­­mobile, Pedelecs, das Solarluftschiff Lotte, das 1993 an der World Solar Challenge in Australien teilnahm. In seinem Betätigungsfeld war Neupert ein Frühstarter. 1973 kam er in Stuttgart zur Welt, neun Jahre später las er von Hans Tholstrup, dem Vorreiter der Solarfahrzeugszene. »Ich fand das grandios, mich interessierten Fahrräder, also habe ich sofort angefangen, ein Solarfahrrad zu bauen.« Neupert sagt das, als wäre es selbstverständlich, dass ein Neunjäh­riger anfängt, aus Schrott und Fund­stücken ein Vehikel zu basteln, das sich mithilfe des Sonnenlichts fortbewegt.

Früh übt sich

Der Frühstarter Neupert tauchte als Jugendlicher in die Solar- und Elektromobilszene seiner schwäbischen ­Heimat ein. Viele seiner heutigen Mitstreiter lernte er damals kennen. Er mischte mit in den Entwicklerteams, nahm an Solarfahrzeugrennen in der Schweiz, Spanien, Japan, den USA, Australien und in Deutschland teil. Neupert erinnert sich, wie er als mit Abstand Jüngster neben Ingenieuren von Daimler und Porsche frickelte – eine Lehre fürs Leben. Neben dem Unterricht an einer Waldorfschule in Stuttgart wirkte er auch am Institut für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen an der Uni Stuttgart am ersten Solarluftschiff der Welt mit. Dessen Australienflug 1993 habe er initiiert, sagt Neupert. Bereits 1992 hatte Neupert eine erste Marktübersicht über elektrisch angetriebene Fahrräder veröffentlicht, mit dem damals kompletten internationalen Angebot: Hercules Electra, Diamant Cityblitz und Schachner Solar Bike sowie drei Prototypen. Dieser Überblick war die Grundlage für den Verein ExtraEnergy und Neuperts Wirken in den vergangenen mehr als zwei Jahrzehnten. Während seines Zivildienstes bekam er dann genug Freiraum, den ersten Elektrofahrradtest anzugehen. Parallel organisierte er einen inter­nationalen Fachkongress und eine Sonderausstellung auf der Intercycle 1995 in Köln.
Neupert ist bekannt dafür, dass er mit seiner Arbeit auf Gegenwind stößt, ihn manchmal auch provoziert. Das war schon damals so. Zunächst veröffentlichte er den Test in einem Öko­magazin, dann aber auch gekürzt im Vereinsorgan des ADFC, das damals »Radfahren« hieß. Neupert war eigentlich überzeugtes ADFC-Mitglied, doch die Reaktionen ließen ihn umdenken. »Es gab einen Schuhkarton voll Schmähbriefe. Nichts davon war konstruktive Kritik, es war alles Prinzipienreiterei«, erinnert sich Neupert. Er trat aus dem ADFC aus. Damals, so sagt er, hätten die Mitglieder der Fahrradlobby »sich besser fühlen wollen als andere Menschen, beispielsweise Autofahrer, und das nur, weil sie aus eigener Muskelkraft ein Rad fahren«, sagt Neupert. Jeder kennt die Vorurteile gegen Pedelecs: Das sei was für Kranke, Omas, nichts für sportliche Männer. Neupert war immer anderer Meinung. So sehr er die Effizienz des muskelbetriebenen Fahrrads bewunderte, so sehr widmete er sich dem Glauben daran, dass mit dem Elektromotor eine höhere ­Effizienzstufe erreichbar sei.
Der studierte Industriedesigner, der seine Diplomprüfung nie ablegte, möchte Denkmuster durchbrechen. Er weiß, dass die Menschen sich erregen, auch wenn er in leiser Stimme spricht, denn er kratzt an Gewissheiten, etwa mit seiner Überzeugung, dass Pedelecs so viel effizienter sein können als herkömmliche Fahrräder. Neupert ist vorsichtig geworden, denn er weiß, dass die Menschen ungern – wie er sagt – ganz nüchterne Analysen hören; etwa diese hier: »Fahrradfahren hat keinen guten ökologischen Footprint, weil wir uns so energie-ineffizient ernähren. Wenn vier Leute parallel Fahrrad fahren und dazu wie heute üblich viel Fleisch essen, wäre es energetisch gesehen besser für die Welt, wenn sie in einem SUV fahren und so für die Fortbewegung absolut gesehen weniger CO2 emittieren würden.«

Spinner oder Vordenker?

Neupert galt viele Jahre lang in ­weiten Kreisen als Spinner. Dass Elektro­räder den Mainstream erreichen ­werden, hatte er schon vor zwei Jahrzehnten gepredigt, inspiriert von frühen Erfolgen japanischer Hersteller. Doch seine einst belächelten Prognosen gelten heute als realistisch, die Welt hat zu seinen Visionen zumindest ein wenig aufgeschlossen. Um die Entwicklung voranzutreiben, haben Neupert und sein Team selbst viele Kilometer zurückgelegt. In Japan gesehen und für den deutschen Markt umgesetzt hat ExtraEnergy einen Testparcours für Elektroräder, mit dem man seit 1997 zwischen 40 und 120 Veranstaltungstage im Jahr abreißt. »Man muss mit den Geräten zu den Menschen kommen und darf nicht im Handel darauf warten, dass sie sich für Pedelecs interessieren«, glaubt Neupert. Für diese Arbeit an der Bekehrung der Massen zur E-Mobilität lobt auch Siegfried Neuberger, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands, den Vereinschef von ExtraEnergy.
Angeeckt ist Neupert auch in jüngster Zeit immer wieder. Die Automobilmesse IAA bezeichnete sein Verein in einer Pressemitteilung als »Pedelec-Messe«, weil ExtraEnergy während der IAA auf 4.000 Quadratmetern Fläche Pedelecs präsentierte. In Autofahrern, und eben nicht nur im Kundenkreis des Fahrradhandels, sieht Neupert die eigentliche Zielgruppe für leichte Elektrofahrzeuge. Während man etwa auf der Eurobike viel gehört hat über den Boom der E-Bikes, kontert Neupert mit Biss: »Für mich hat der Elektrofahrradmarkt noch nicht richtig angefangen, ich bin gelangweilt von der Entwicklungsgeschwindigkeit.« Das sieht man naturgemäß in der Branche nicht so. Siegfried Neuberger hält Neuperts offensive Marktprognosen für kontraproduktiv: »Wir sind der Auffassung, dass das derzeitige ‚gesunde‘ und nachhaltige Wachstum des Marktes sowohl für die Produktentwicklung als auch für die Branche gut ist. Wir sollten nicht zu euphorisch sein und alle branchenfremden Importeure von ­Billigprodukten mit unseren Erfolgsmeldungen aufwecken.«
So wie Neupert vor zwei Jahrzehnten mit der Muskelfahrradlobby in Streit geriet, so triezt er heute die Fahrradhersteller. Er erzählt, wie sie lange Zeit seine Bemühungen als »Lachnummer« abtaten, doch dann irgendwann entdeckten, dass sich mit Elektrofahrrädern leichter Umsatz erzielen lässt als mit normalen Fahr­rädern. Doch aus Neuperts Sicht ist das Geschäft mit Pedelecs heute nur »Geschäftemacherei auf Kosten der Umwelt und der Kunden«, Stichwort: Batterielebensdauer; Stichwort: Kompatibilität der Komponenten.

Fragile Lage

An seinem Besprechungstisch in Tanna blickt Neupert auf die Welt, ganz leise redet er, aber doch bestimmt. Er finde es erstaunlich, dass die Rad­branche gar nicht merke, wie fragil ihre Lage sei. »Es könnte gut sein, dass bald jemand auf den Plan tritt, der eine ganz andere Art hat, Elektrofahrräder zu bauen – jeden Tag, rund um die Uhr, mit individuellen Spezifikationen im Viertelminutentakt.« Einer wie Elon Musk könne das machen, ein Visionär wie der Gründer von Tesla, der gefeierten Elektroautofirma. Oder aber die Automobilzulieferindustrie, die – so sieht es Neupert – schon heute den Fahrradmarkt in Deutschland domi­niere. Neupert spricht von Alltags­mühlen, von Mutlosigkeit und Berührungsängsten, von einem Mangel an Vorstellungskraft bei den meisten Herstellern – auch davon, dass ihre Qualifikationen nicht reichten, um in der Welt vernetzter E-Mobilität wegweisende Produkte zu entwickeln. Die ­Beispiele, die er nennt, sind zahlreich.
Hannes Neupert denkt in großen Schritten, und dazu gehört auch die Arbeit an den Details. Seit Jahren engagiert er sich für die Standardisierung von Schnittstellen in Elektro-Leicht-fahrzeugen, bei den Batterien und der Ladeinfrastruktur. Er arbeitet in nationalen und internationalen Fachgremien, um dieses Thema voranzutreiben und den Markt für größere Entwicklungen zu ebnen. Von den eingeschriebenen Fahrradherstellern sehe er in diesen Funktionen fast nie jemanden, »man hat keine Zeit für die Zukunft«, sagt Neupert. Ein Zuschussgeschäft sei die Arbeit an Standards, sagt Neupert, der für sein privates Einkommen das gesammelte Know-how in Beraterprojekten einsetzt. Er arbeitete als »unabhängiger Berater« für Unternehmen, die er in einer langen Liste aufzählt: »Daimler, Bosch, Brose, Rehau, BMW, Volkswagen, Sanyo, Panasonic, Siemens, Scheffler und Marquardt, nur um einige zu nennen.« Er habe sie mitunter an die Hand genommen, sagt Neupert, damit sie in die Elektromobilität einstiegen. Er sagt, sein eigenes Wirken und das ­seiner Kollegen sei »grob Schuld« daran, dass der Markt für Elektrofahrräder in Deutschland sich so
gut ­entwickelt hat.
Hannes Neupert, ein gläubiger Mensch, sieht sein Handeln in einem größeren Zusammenhang – und er tut das schon, seit er als Kind an seinem ersten Solarfahrrad schraubte. Er wolle den Luxus, im reichen Deutschland zu leben, dafür nutzen, der Welt etwas zu geben. Er ist beeindruckt von japanischen Konzernen, bei denen nicht der Gewinn über allem steht, sondern das Ziel der Firma. Er glaubt, dass das LeichtElektro-Fahrzeug und besonders das Pedelec die Lösung für viele Mobilitätsprobleme der Menschheit bringen kann, was dann auch Wohlstand bedeute, etwa, wenn ein Bauer seine Ernte selbst zum Markt in die nächste Stadt bringen kann. Neupert hofft, dass eines Tages die Parität zwischen Bevölkerung und E-Rädern möglich ist – wie bei Mobiltelefonen seit wenigen Jahren. Neupert sagt, er wolle mit dieser Entwicklung nicht selbst Geld verdienen, kein Imperium aufbauen, das er seinen Kindern vererbt. Der Mann mit den exzellenten Kontakten, der leise spricht und dabei aufscheucht, hat noch viel vor: »Ich möchte als Schmiermittel für Beschleunigung dienen, da habe ich persönlich die höchste Effizienz.«

21. Oktober 2015 von Tim Farin

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