Große Veränderungen bei der Biketec AG:
Flyer schreibt am dritten Kapitel
Es ist noch nicht so lange her, da war Flyer nicht nur eine Marke, sondern quasi bereits ein Synonym für besonders hochwertige und zuverlässige Premium-E-Bikes. Doch die Tage dieser Alleinstellung sind gezählt: Hochwertig, zuverlässig und Premium können andere E-Bike-Anbieter inzwischen auch recht gut. Und auch den Anspruch oder zumindest das Ziel, Marktführer in der Liga über 3000 EUR zu sein, erheben inzwischen auch andere Unternehmen.
Vor diesem Hintergrund wurden vor etwas mehr als einem Jahr einige grundlegende Weichen bei Flyer-Anbieter gestellt: Mit der Ernst Göhner Stiftung wurde ein neuer Mehrheitseigner an Bord geholt, der nicht nur mit seiner sozialen Ausrichtung zum Flyer-Anbieter passt, sondern darüber hinaus auch neues Kapital und Management-Knowhow ins Unternehmen brachte. Zum Beispiel in Person von Simon Lehmann, der den Chefsessel von Biketec-Mitgründer Kurt Schär übernahm.
Dass der neue Flyer-Frontmann ein völliger Branchen-Quereinsteiger ist, der Management-Erfahrungen vor allem aus der Logistik- und der Tourismusbranche mitbrachte, mag dabei kein Nachteil gewesen sein. Jedenfalls zeigte sich der neue Chef bei Flyer bislang nicht sehr zimperlich bei der Lösung einiger Probleme, wie etwa der Aufkündigung der langjährigen (teuren) Zusammenarbeit mit dem Vermietdienstleister Movelo.
Und Probleme gab es seit seinem Antritt bei Flyer wohl einige zu lösen: „Die letzten 12 Monate waren von großen Veränderungen, aber auch von großen Schwierigkeiten geprägt“, erzählte der Flyer-CEO vor wenigen Tagen vor versammelter Fachpresse. „Ohne die Lieferschwierigkeiten hätte Biketec im letzten Jahr bis zu 30 Prozent mehr E-Bikes verkaufen können“, so Lehmann weiter.
Doch damit der Herausforderungen nicht genug: „Ich werde diesen Tag nie mehr vergessen“, sagt Lehmann und meint den 15. Januar 2015, als die Schweizer Bundesbank den Mindestkurs der eidgenössischen Währung gegenüber dem Euro aufgab. „Wir waren auf einem guten Weg, die Firma neu aufzustellen“, erinnert sich der Flyer-Frontmann. Bis dann quasi über Nacht die wirtschaftlichen Grundlagen des E-Bike-Herstellers, der rund 75 % seines Umsatzes mit Kunden im Euro-Raum erzielt, unter neue Vorzeichen gestellt wurden.
Als Reaktion auf den Bundesbank-Entscheid erhöhte Flyer seine Preise im EU-Ausland um 10 %, während die Händlereinkaufspreise im Schweizer Heimatmarkt pauschal um 400 Franken gesenkt wurden. Gleichzeitig wurden im Unternehmen einige Anstrengungen unternommen, um Kosten zu senken. So wurde zum Beispiel die Wochenarbeitszeit im Flyer-Werk von 42,5 auf 45 Stunden erhöht. Im Gegenzug mussten keine Stellen infolge der Euro-Krise abgebaut werden.
Das dritte Kapitel
Nach der Gründung und der unbestrittenen großen Aufbauleistung von Kurt Schär sehe der neue Frontmann Lehmann seine Aufgabe nun darin, bei Flyer „das dritte Kapitel der Firma zu schreiben“. „Früher wurden uns die E-Bikes bereits an der Werksrampe aus den Händen gerissen. Das ist heute vorbei. Es muss eine neue Phase kommen, um als Unternehmen zu bestehen“, erklärt Lehmann.
Als einer der ersten Schritte in dieser neuen Phase wurde der Variantenreichtum der Marke Flyer reduziert. „Als ich bei Flyer angetreten bin, gab es 2500 verschiedene Modellvarianten. Das ist für ein Unternehmen der nackte Horror“, sagt Lehmann. Die Lieferengpässe der letzten Jahre seien zu einem wesentlichen Teil diesem „Horror“ geschuldet gewesen.
Neben der Straffung des Programms wurde auch der Produktzyklus um vier Monate nach vorne verschoben. Damit will Flyer künftig flexibler auf Marktbedürfnisse reagieren können.
Und last but not least wird im Unternehmen gerade auf die kaufmännische Software SAP umgestellt. Ab 1. Mai soll das neue System in Betrieb gehen. Bei der Biketec AG verspricht man sich dadurch mehr Transparenz und mehr Struktur bei allen betrieblichen Abläufen. „Planung ist das A und O“, begründet der ehemalige Logistiker Lehmann die SAP-Einführung im Unternehmen.
Ehrgeizige Ziele
Nachdem in den vergangenen Monaten im Unternehmen verschiedene Baustellen behoben wurden, wendet man bei den Flyer-Machern den Blick nun auch wieder nach vorne. Das Ziel ist dabei klar definiert: Im E-Bike-Segment über 3000 EUR wollen sich die Schweizer als Marktführer nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch in Deutschland, Österreich und den Niederlanden positionieren. Darüber hinaus werden auch neue Märkte ins Auge gefasst, wobei hier weltweit neue Partnerschaften in Südkorea und Australien gegenwärtig einiges Potenzial besitzen würden, während in Europa vor allem Italien, Frankreich und Skandinavien vielversprechend seien.
Das Ziel der Marktführerschaft erfordert aber nicht zuletzt auch, dass Flyer bei seinen Produkten wieder mehr Alleinstellungsmerkmale herausarbeitet. Dessen ist man sich bei den Schweizern durchaus bewusst. Die Verantwortung, die Weichen in der Modellpalette neu zu stellen, fällt vor allem an Chef-Techniker Ivica Durdevic, der sein Team für Forschung, Entwicklung und Design in den letzten Monaten auf die doppelte Größe ausgebaut hat. Der Schwabe mit kroatischen Wurzeln, der Anfang 2013 von der E-Bike-Sparte von Bosch zu Flyer gewechselt war, hat eine klare Vorstellung, wie die Marke Flyer künftig auftreten soll: Seine Vision ist eine Marke, die zwar eine breite Palette von ganz unterschiedlichen E-Bike-Anwendungen anbietet, deren Modelle aber, ähnlich der Modelle einer Premium-Automarke, dennoch immer auf den ersten Blick als ein Flyer zu erkennen sein sollen. Gleichzeitig weiß Durdevic, dass für dieses Ziel noch einige Arbeit vor ihm und seinem Team liegt: „Im Moment ist die Markenwahrnehmung noch eher diffus.“ Für die Zukunft verspricht der Flyer-Entwickler eine „starke und klare Positionierung der Marke“. Eingelöst werden soll dieses Versprechen im nächsten Modelljahr beispielsweise mit einer besseren Integration von Akku und Cockpit. „Es wird künftig ein wieder erkennbares Flyer-Cockpit geben“, erklärt Durdevic und beschreibt die künftigen Leitlinien der Marke mit „Leichtbau, Design und Nutzererlebnis“. Gleichzeitig soll die Modellpalette klar in die drei Segmente Tour, Urban und Mountain strukturiert werden.
E-Bikes für alle Lebenslagen
Den größten Umsatzanteil bei Flyer hat mit 77 % gegenwärtig noch das Touren-Segment. Auch wenn bei den Schweizern niemand in Frage stellt, dass mit den Modellen der T- und C-Linie auch künftig wohl der meiste Umsatz erzielt werden wird, soll die Bedeutung der anderen Segmente Mountain (gegenwärtig 8 % Umsatzanteil) und Urban (10 %) ausgebaut werden.
Der Anspruch, als E-Bike-Spezialist möglichst alle Anwendungsbereiche abzudecken, hat bei Flyer jedenfalls auch unter neuer Führung noch Gültigkeit. Und wird vielleicht sogar mit mehr Konsequenz gelebt: „Als wir uns das MTB-Segment angesehen haben, sagten wir uns: Wenn MTB dann richtig“, erklärt Ivica Durdevic. Das Ergebnis kann die Fachwelt bereits im aktuellen Modelljahr mit der sehr gelungenen Modelllinie Uproc sehen, deren Fahrwerkstechnik aus der Feder von Suspension-Spezialist Timo Wölk stammt. Das Ziel im aufstrebenden E-MTB-Markt ist klar definiert: „Wir wollen zumindest unter die Top-3 der E-MTB-Anbieter“, sagt Durdevic.
Auch in anderen Produktsegmenten sieht der Flyer-Entwickler noch Handlungsbedarf: „In unserer Modellpalette hat es noch Platz“. Auf Durdevics Wunschliste steht dabei das Thema Cargo relativ weit oben, aber auch schnelle E-Bikes und Falträder.
Mit der vorher beschriebenen Straffung der Modellvielfalt stehen diese Ziele übrigens nicht im Widerspruch: Gerade durch die Reduzierung der Variantenvielfalt schafft Flyer auch wieder Freiräume, um neue Modelllinien zu entwickeln.
Treue zu Panasonic
Auch wenn bei Flyer gegenwärtig viele Strukturen hinterfragt werden, steht die langjährige Partnerschaft mit Antriebslieferant Panasonic nicht zur Debatte. „Wir arbeiten seit 12 Jahren mit Panasonic und werden dies auch weiterhin tun“, bekräftigte CEO Lehmann gegenüber der Fachpresse. Flyer sei der größte E-Bike-Kunde von Panasonic und besitze damit auch viel Mitsprache bei der weiteren Entwicklung neuer Antriebssysteme. Gleichzeitig sollen sich auch bei Panasonic einige Dinge zum positiven geändert haben. Jedenfalls sei die Zusammenarbeit mit den Japanern inzwischen deutlich einfacher, heißt es bei Flyer. Und am technischen Entwicklungspotenzial des langjährigen Partners herrscht offenbar auch kein Zweifel: „Die Akkutechnologien von Panasonic-Mutter Sanyo werden beispielsweise auch von Tesla verbaut. Von neuen Entwicklungen auf diesem Gebiet profitieren auch wir“, erklärt Lehmann.
Blick geht nach vorne
Bei Flyer hat man also viele gute Gründe, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Das Vororder-Niveau für 2015 liege deutlich über dem Vorjahr. Und dank optimierter Prozesse will man die höhere Nachfrage heuer auch tatsächlich bedienen können. Für 2015 kalkuliert Flyer jedenfalls mit einem Umsatzwachstum von rund 10 %. Gleichzeitig werden die Strukturen im Unternehmen weiter optimiert: „Die nachhaltige Unternehmensführung ist unsere oberste Priorität“, bekräftigt Flyer-Frontmann Lehmann.
Gleichzeitig unterstreicht der neue Flyer-Chef die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit den Partnern im Fachhandel. Von dem Gedanken, künftig die Marke auch im Direktvertrieb an den Verbraucher zu bringen, distanziert sich Lehmann jedenfalls deutlich: „Jedes Flyer muss physisch dem Endkunden übergeben werden“. Das sei nur im Fachhandel möglich. Zudem bestelle der typische Flyer-Kunde nicht online.
Dennoch mahnt Lehmann: „Der Fachhandel hat die Power des Internets noch nicht verstanden.“ Das Internet sei ein „Enabler“, so Lehmann im Neudeutsch und meint damit, dass online viele Kaufentscheidungen angebahnt werden. „Sich davor als Händler zu verstecken, ist eine Utopie“, so Lehmann.
Deshalb will Flyer künftig auch das Thema E-Commerce vorantreiben. Aber nicht gegen, sondern mit dem Fachhandel.
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