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Markt - Herbsttrends

Ganzjährig im Trend

Die Radbranche hat ein Top-Jahr hinter sich.
Zeit zum Verschnaufen bleibt aber nicht.
Wichtige Trends bringen neuen Entwicklungsdruck für Hersteller und Händler, damit die Menschen auch im Herbst auf dem Rad sitzen bleiben.

Nightblade

Das ablaufende Jahr war anstrengend. Die Radbranche hatte zu kämpfen, überraschenderweise vor allem und nun schon seit vielen Monaten mit einer Nachfrage der Konsumenten, die alles Dagewesene in den Schatten stellte. Wer sich bei den Händlern umhört, hört oft dasselbe:
Es gab keine Zeit zum Durchschnaufen, zum Blick über das Tagesgeschäft hinaus. Doch damit der Erfolg von heute keine Eintagsfliege bleibt und das Radfahren für mehr Menschen zu einer Ganzjahresbeschäftigung wird, darf man nicht verpassen, auf die Trends zu schauen, die den Markt in den nächsten Monaten, Saisons und über Jahre bewegen werden. Fahrrad-Vordenker und Entwickler Alex Thusbass, der bei Haibike den Markt beeinflusste und mit dem »Bike Center« die Digitalisierung im Handel vorantrieb, beobachtet: »Die Fahrradhändler müssen sich dringend weiterentwickeln. Aktuell sind jedoch viele so mit dem Verkauf beschäftigt, dass sie kaum zu wichtigen Updates ihrer Shops oder Kanäle kommen und somit Gefahr laufen, wichtige Entwicklungen zu verpassen.«

Allerdings wären sie gut beraten, ihren Blick auf das große Ganze zu richten, denn der Fahrradmarkt in Deutschland durchläuft einen Wandel, den Thusbass – fast schon hegelianisch – in Phasen unterteilt. Die ersten beiden sind bereits in den Büchern: Die Elektrifizierung, dann die Emotionalisierung des Fahrrads. Jetzt gerade erleben wir, so Thusbass, die Phase drei, die der Urbanisierung. Menschen, die in Corona-Bedingungen aufs Rad umgestiegen sind, werden neue Ansprüche an ihre oft hochwertige Mobilität haben. Die Robustheit und Widerstandskraft der Produkte werden deutlich steigen, das glaubt nicht nur der Münchner mit Blick auf die kommenden Saisons. Aus Low-Interest Produkten wie etwa Schutzblechen werden wichtige Aspekte, damit sich das Fahrrad weiterentwickeln kann.

Herbstchancen nutzen

Die Entwicklungschancen für »Bio-Bikes« und elektrifizierte Räder kann man gut erfassen, wenn der Blick in jene Jahreszeit geht, in der der Handel klassischerweise Luft holt: in die dunklen, nassen Monate. »In der dritten und vierten Jahreszeit sind es sicherlich die Schutzbleche, die die Leute auch bei nicht so tollem Wetter aufs Rad bringen und auch gerade Pendler, welche ganzjährig auf dem Weg zur Arbeit das Rad nutzen«, beobachtet Sarah Baukmann von SKS Germany. Die Spezialisten aus dem Sauerland setzen deswegen auf Weiterentwicklung an diesem in der Regel eher unspektakulären Bestandteil der Räder. Ein Hingucker ist etwa das Nightblade, eine Kombination aus Radschutz und StVZO-konformer Beleuchtung am Hinterrad. Der Rückstrahler lässt sich leicht herausnehmen und per USB laden.

Auch bei Schwalbe in Reichshof gibt es gerade für die ungemütliche Zeit neue Entwicklungen. Man habe, schreibt Doris Klytta, die Palette an Winter- und Ganzjahresreifen um einige neue Größen erweitert. »Ein großes Potenzial, gerade im Bereich Pendler, sehen wir darüber hinaus bei den so genannten SUV-Bikes«, also sportlichen, besonders vielseitigen E-Bikes mit Schutzblech und Licht im Straßenverkehr. Hier kommt Schwalbe mit neuen Reifen für die Saison 2021. Explizit auf diese sogenannten »SUV-Bikes« zugeschnitten sind Modelle wie Johnny Watts, ein Allrounder-Reifen in zehn Versionen.

Dies sind Details, die Fahrräder peu-à-peu qualitativ verbessern. Spricht man mit Dirk Zedler, dem einflussreichen Fahrradsachverständigen aus Ludwigsburg, dann schwingt allerdings schon Enttäuschung mit. »Es gibt für die Radbranche eine historische Chance, in der sie, mit gefüllten Kassen infolge der Pandemie, voll in Weiterentwicklung investieren kann.« Doch allzu oft, diagnostiziert der Branchenkenner Zedler, erschöpfe sich dieser Prozess in Stückwerk, aber eben kaum in integrierten Lösungen, um das Fahrrad als Gesamtprodukt zu verbessern. »Die große Herausforderung ist allerdings, über das Zusammenstellen von Einzelteilen an einem Rahmen aus eigenem Design hinauszudenken und neue Wege einzuschlagen«, findet Zedler. Beim Blick auf das, was auf deutschen Straßen herumrolle, sehe man auch bei den E-Bikes »kaum Konzepte, die über ein elektrifiziertes Fahrrad hinausgehen.«
Das wird man bei Riese & Müller vermutlich nicht auf sich beziehen. So arbeiten die Südhessen seit vielen Jahren eben gemeinsam mit Schwalbe an den Reifen für schwere, ganzjährig einsetzbare E-Bikes. »Die Reifen und Bremsen werden für diese Art Mobilität immer wichtiger«, erklärt Gründer und Geschäftsführer Heiko Müller die Kooperation mit Schwalbe, daher arbeite man gemeinsam mit dem Spezialisten aus dem Bergischen an Gummimischungen für mehr Fahrkomfort und Sicherheit etwa für schwere Lastenräder. Müller stimmt zu, dass künftige Trends im Markt durch Kooperationen getrieben werden, das zeigt Riese & Müller etwa auch bei der Zusammenarbeit zum Thema Licht mit Supernova. »In Zukunft wird es darum gehen, frühzeitig in der Entwicklung zusammenzuarbeiten, damit sich das Fahrrad als Verkehrsmittel weiterentwickeln kann.«

Lastenräder gelten als Treiber für die ganzjährige Nutzung von Fahrrädern. Bei Riese & Müller wählen die Kunden immer stärker die bequeme und kostspielige GX-Option mit breiteren Reifen und mehr Federung. Kunden geben Geld aus, aber haben eben auch Ansprüche. Wer in ein solches Gefährt investiert, möchte es nicht im November einmotten. Ganzjährige Nutzung ist denn auch für Riese & Müller wichtig. »Hier spielt insbesondere das Licht eine große Rolle«, sagt Heiko Müller. Deswegen setze sein Unternehmen auf Auf- und Abblendlicht bei immer mehr Modellen. Das passt zur Beobachtung von Dirk Zedler, der auf die Autoindustrie verweist. Schon in der Vorentwicklung ist dort das Lichtkonzept zentral. Diese Art der Entwicklung von Fahrzeugen aus einem Guss werde auch die Radbranche in Zukunft prägen. Integrierte Fahrzeuge, durchgezogene Konzepte, all das sieht man aber nur selten im Markt. Klar, es gibt Van Moof, es gibt Cowboy, aber prägend ist das bislang nicht für den Gesamtmarkt. Orientierung an der Autoindustrie, das hört man häufig bei den Gesprächen über längerfristige Trends. Riese & Müller etwa erwartet ABS als wichtiges Thema und setzt auf eine Sturzerkennung und Werkstatt-Terminhinweise aus der App.

Ein Kokon für die Pendler

Es ist bislang nur ein kleiner Teil der Radfahrer auf den Straßen, der auf den hochwertigen Cargo-Bikes und verwandten Gefährten unterwegs ist. Aber Alex Thusbass sieht für die Zukunft eine andere Nutzung in der Masse: Die Cargo-Bikes mit Raum für mehr als einen Passagier seien Wegbereiter, von da sei es »nur ein kleiner Schritt für geschlossene Fahrgastzellen. Der resultierende Wetterschutz wird ebenso ein großer Trend werden wie das ›Cocooning‹: der perfekt inszenierte Innenraum, mit allen digitalen Annehmlichkeiten.« Mit Cocooning ist etwas gemeint, das Menschen seit Langem in ihren Autos hält. Hinterm Lenker, im Warmen, abgeschirmt und mit Radio fühlt man sich wohl. Außerdem werden mehr Fahrradtypen und eben nicht nur die klassischen Fahrräder bequeme Möglichkeiten zum Transport bieten müssen. »Innerstädtische Mobilität hat immer mit Transport zu tun«, sagt Thusbass, hier gebe es für den Fahrradmarkt viel zu tun.

Den überzeugten Radlern bietet Vaude schon seit Langem Möglichkeiten, ihre Mobilität ganzjährig per Pedal zu meistern. »Vielleicht waren wir manchmal sogar zu früh dran«, sagt Gernot Moser, Head of Sales Bike Sports beim Unternehmen aus Tett­nang. Schon 2017 veranstaltete Vaude eine Testaktion, um Ganzjahresradfahren erlebbar zu machen. »Das Thema Bekleidung wird fürs Radfahren allgemein eine wichtige Rolle spielen, weswegen die Händler hier ihre Beratungskompetenz nicht vergessen dürfen. Ohne Beratung verkaufen sich Textilien schwer.« Die Radbekleidung bestehe aus Funktionsmaterialien, biete versteckte Features und habe unterschiedliche Einsatzzwecke. »Hier sollten die Händler ihre Kompetenz aufbauen, denn auch in Zukunft werden Kunden die richtige Kleidung fürs Fahrradfahren benötigen«, argumentiert Moser, »Wenn der Radfachhandel diese Kompetenz abgibt, werden andere Händler diese Lücke füllen.«

Überhaupt der Handel: Hier werde sich einiges tun in den kommenden Jahren. »Ich denke, dass der Händler beim Fahrrad eine ähnliche Rolle spielen muss, wie es im Autohandel der Fall ist«, sagt Heiko Müller. Inakzeptabel sei beispielsweise eine pauschale Wartezeit, die nicht berücksichtigt, welchen Servicebedarf ein Konsument hat. Händler müssten insgesamt Teil einer digitalen Kette werden und vor allem daran mitwirken, dass die Kunden ihre Mobilität erhalten.
Viele Gesprächspartner identifizieren die Mobilität und nicht so sehr das Produkt als zentrales Thema der Zukunft. Es gehe nicht mehr darum, Räder zu verkaufen, sagt Dirk Zedler, »sondern um Erlebnisse, die dazu führen, dass die Kunden auf dem Rad bleiben.« Auch Alex Thusbass fordert vom Handel, »Partner für Mobilität« zu sein. Überdies werde die Rolle des örtlichen Händlers mit dem Wert der Räder relevant bleiben.

Ökologie als Konsumfaktor

Blickt man weiter in die Zukunft, dann ist Raum für Visionen. Canyon sorgte jüngst mit der Studie eines neuen Fahrzeugtypus für Aufsehen. Keine Spinnerei sei das, hört man, sondern ein wichtiger Blick in die Zukunft der Fahrradbranche. In fünf bis sieben Jahren erwartet Alex Thusbass ganz neue Arten von E-Bikes, in die man sich womöglich auch hineinsetzen wird. Das wäre die letzte Phase in der von Thusbass gegliederten historischen Stufenentwicklung. Das Potenzial für diese weitreichenden Entwicklungen sähen aber in der Industrie nur wenige. Vorhandene, graduelle Erweiterungen wie die Kleidung und partielle Schutzverkleidung helfen, das E-Bike als »Ganzjahresvehikel« zu etablieren, reichen aber sicher nicht, um die breite Masse auch im Winter aufs Rad zu bekommen.
Ein Thema, das ganz sicher bleiben wird und jetzt schon wichtig ist: Ökologie. Darauf sollten Händler eingestellt sein. Die Klimadiskussion beeinflusst Konsumentscheidungen. Vaude setzt mit Erfolg auf dieses Thema. »Wir werden das in den kommenden Jahren konsequent weiterverfolgen. Wir stellen spätestens seit Fridays for Future fest, dass Kunden hier bewusste Entscheidungen treffen. Hier steigt die Nachfrage«, beobachtet Gernot Moser. »Wir haben viele Händler bei uns, die wir zum Thema Nachhaltigkeit schulen. In den Geschäften gibt es zunehmend Kunden, die genau über dieses Thema zur Konsumentscheidung kommen.« Ins Produkt umgesetzt bedeutet das etwa, dass Vaude zur Saison 21/22 auf Recycled Softshells umstellt.
Öko, bequem, elektrisch und urban: Es gibt viele Anknüpfungspunkte für Kundengespräche und Produktentwicklungen. Vor allem ist der Druck zum Weitergehen groß, selbst wenn es aktuell in der Kasse klingelt. Das gilt schon für die nahe Zukunft. Heiko Müller von Riese & Müller bringt es auf den Punkt: Corona habe die Innovationsfreude der Branche nicht eingeschränkt. »Im Gegenteil. Wir erwarten nicht nur eine sehr heiße Saison 2021, sondern haben auch beinahe ungestört an den Neuerungen für die folgende Saison entwickelt.« Man dürfe sich jetzt nicht ausruhen. »In der aktuellen Phase kann man am Markt keine Pause einlegen, das wäre fahrlässig.«

9. Oktober 2020 von Tim Farin

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