Markt // Schweiz
Geglücktes Spiel ohne vertraute Regeln
Nachdem der Schweizer Fahrradhandel seit 2017 alljährlich seinen Umsatzrekord des Vorjahres übertroffen hatte, glaubte die Branche nicht mehr so recht daran, dass ihr dieses Kunststück 2020 nochmals gelingen würde. Irgendwann, so die Annahme, müsste die Nachfrage doch mal gesättigt sein. Insgeheim hofften viele Branchenteilnehmer sogar, dass sich der Markt etwas beruhigen würde. Das alljährliche zweistellige Umsatzwachstum hatte viel Hektik ins Tagesgeschäft gebracht. Ein stabiler bis moderat wachsender Umsatz hätte es dem Handel und seinen Lieferanten erlaubt, etwas Luft zu holen und den eigenen Betrieb wieder mal auf Vordermann zu bringen. Im kleinteilig organisierten Schweizer Fahrradhandel fehlten zuletzt die Ressourcen, um das Geschäft strategisch und organisatorisch an die neuen Marktverhältnisse anzupassen.
Große Unterschiede während des Lockdowns
Doch es kam ganz anders: Schon während der ersten Wochen des Jahres brummte das Geschäft tüchtig. Milde Temperaturen im Januar und Februar sorgten dafür, dass die branchenübliche Winterpause in vielen Betrieben nicht stattfand. So kam es, dass die herannahenden Herausforderungen der Corona-Pandemie kaum wahrgenommen wurden. Als die Schweizer Behörden dann Mitte März den Lockdown verhängten, waren die wenigsten Fahrradgeschäfte darauf vorbereitet. Dass Fahrradwerkstätten offen bleiben durften, wurde zu Beginn des Lockdowns lediglich als schwacher Trost gewertet, denn mit Werkstattarbeit erzielt der Schweizer Fahrradhandel nicht einmal ein Fünftel seines Umsatzes, und die Monate März bis Mai tragen entscheidend bei zum Verkaufserfolg der gesamten Saison.
Tatsächlich bremste der Lockdown in den ersten Wochen den Fahrradhandel tüchtig aus. In einer repräsentativen Umfrage von dynaMot und dem Zweirad-Gewerbeverband 2rad Schweiz klagten rund 85 % der Fachhändler über rückläufige Verkaufsumsätze. In zwei von fünf Geschäften brach auch der Serviceumsatz spürbar ein. Dabei zeigten sich große Unterschiede zwischen den Sprachregionen: Händler in der französischsprachigen Schweiz litten etwa doppelt bis dreimal so stark unter den Folgen der Corona-Pandemie wie ihre Kollegen in der deutschsprachigen Schweiz. Dies, weil die Romandie auch wesentlich mehr Krankheitsfälle verzeichnete und die Bevölkerung entsprechend vorsichtiger und zurückhaltender war.
Digitalisierung und Flexibilität zahlen sich aus
Nach dem ersten Schrecken arrangierten sich große Teile der Schweizer Bevölkerung aber recht schnell mit den verordneten Maßnahmen. Sie kehrten auch recht rasch wieder zurück auf das Fahrrad und nahmen das eingeschränkte Angebot der Fahrradgeschäfte in Anspruch. Mehr noch: Die Corona-Schutzmaßnahmen führten zu einem regelrechten Boom. Dieser begann sich bereits während des Lockdowns abzuzeichnen. Nicht nur die Nachfrage nach Reparaturen stieg ab Ostern markant an, sondern auch eine große Lust auf neue Fahrräder, E-Bikes, Zubehör und Ersatzteilen machte sich bemerkbar. Wer online Präsenz markierte, profitierte besonders davon: Versender und Multichannel-Anbieter verzeichneten in der zweiten Hälfte des Lockdowns einen enormen Zuwachs. Die Schweizer Marktgröße Veloplus beispielsweise berichtete Ende April im Firmenblog über viermal mehr Bestellungen im eigenen Onlineshop als im Vorjahr. Verschiedene stationäre Fachgeschäftebewiesen zudem Einfallsreichtum, um trotz geschlossener Verkaufsräume die Nachfrage bedienen zu können. Dies reichte von ausführlicher Telefon- und Videoberatung über Heimlieferung bis zu speziellen Abholzonen außerhalb des Ladenlokals für auf Distanz bestellte Ware. Hierbei zahlte sich aus, dass der Fahrradfachhandel in der Schweiz immer noch über ein dichtes Netz von kleinen, inhabergeführten Geschäften verfügt. Diese konnten flexibel auf Kundenanfragen reagieren und mit bekannten Stammkunden aus dem Dorf oder dem Quartier auch mal auf Vertrauensbasis einen Handel abwickeln.
Das Produkt der Stunde
So richtig los mit dem Ansturm auf den Fahrradhandel ging es aber erst, als Mitte Mai die Läden wieder öffnen durften. Die Gründe dafür sind vielfältig, lassen sich aber unter der Folgerung zusammenfassen, dass der Fahrradhandel der Schweizer Bevölkerung das Produkt der Stunde bot: Räder mit und ohne Motor wurden begeistert aufgenommen als Alternative zum öffentlichen Verkehr sowie als Alternativen für Freizeit und Sport, die erlaubt und mit geringem Gesundheitsrisiko gepflegt werden konnten. Das weiterhin freundliche, milde Wetter während des ganzen Frühjahrs befeuerte die Nachfrage zusätzlich. Gemäß Messungen der ETH Zürich stieg der Fahrradverkehr in der Schweiz im Frühjahr zwischenzeitlich um bis zu 200 Prozent an, und er blieb bis in den Herbst hinein deutlich über den Vorjahreswerten, trotz kühlerem und nasserem Wetter im September und Oktober.
Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hatten auch die geschlossenen Grenzen. Einerseits brachte dies dem Schweizer Handel einige Zehntausend Kunden zurück in die Geschäfte, die sich ansonsten als Einkaufstouristen in den Nachbarländern mit neuen Rädern versorgt hätten. Andererseits legten viele Schweizer ihre Ferienpläne ins Inland um, und das Fahrrad erschien ihnen dabei eine attraktive Alternative. »Ein neues E-Bike war dieses Jahr oft die Alternative zur Kabine auf dem Kreuzfahrtschiff«, bringt es Hansruedi Maier vom Winterthurer Fachgeschäft Velomaier auf den Punkt. Ab einem gewissen Moment entwickelte der Boom zudem eine Eigendynamik: Nicht wenige Kunden dürften Interesse an einem neuen Fahrrad oder E-Bike entwickelt haben, weil zahlreiche Medien über Wochen von der steigenden Popularität von Fahrrädern und Elektrofahrrädern berichteten.
Leere Lager wegen Lieferengpässen
Bei aller Freude über die rege Nachfrage nach ihren Produkten und Dienstleistungen bereitete der Boom der Schweizer Fahrradbranche auch einigen Kummer. Zu den Herausforderungen, die das Corona-Virus mit sich brachte, gehörte der nochmals überproportional angestiegene Arbeitsaufwand. Zum einen verursachte die Pandemie diesen ganz direkt, weil Schutzmaßnahmen sowohl im Handel wie auch in den Schweizer Montagebetrieben die Arbeitseffizienz schmälerten. Zum andern sorgte die Pandemie dafür, dass die Lieferketten zwischenzeitlich fast komplett zusammenbrachen und der Nachschub gerade dann fehlte, als die Nachfrage im Einzelhandel nach oben schoss.
Ein Blick in die Schweizer Zollstatistik veranschaulicht dies: Mit einem Marktanteil von fast 40 Prozent ist China der bedeutendste Lieferant von Fahrrädern im Schweizer Markt. Im Februar, normalerweise dem Monat mit der höchsten Fahrradanlieferung, brachen die Importe aus China um über 70 Prozent ein gegenüber dem Vorjahr. Auch in den drei folgenden Monaten blieben die Lieferungen rund 40 Prozent unter dem Vorjahresschnitt. Obwohl ab Mai deutlich mehr Räder aus Fernost und alternativen Bezugsquellen aus Europa importiert wurden, konnte dieses Minus nicht mehr wettgemacht werden. Der Rückgang der chinesischen Importe während der ersten Corona-Welle ist ziemlich genau gleich groß wie der Rückgang der gesamten Fahrradimporte im Schweizer Markt am Ende der statistischen Importsaison 2020. Obwohl die Nachfrage boomte, sanken die Einfuhren um 6.6 Prozent auf 332.000 Fahrräder, den tiefsten Wert seit mehr als 20 Jahren.
E-Bikes trotz Lieferengpässen auf Allzeithoch
Nicht ganz so dramatisch wirkte sich die Corona-Krise auf die Importe von E-Bikes aus. Zwar gingen hier zwischenzeitlich im März und April die gesamten Einfuhren auch um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Da aber die Mehrheit der Pedelecs für den Schweizer Markt in der EU gebaut werden, konnten die Löcher schneller wieder gestopft werden. Am Ende der statistischen Importsaison konnte bei den Einfuhren von E-Bikes ein stattliches Plus von knapp 9 Prozent verzeichnet werden. Zusammen mit der nach wie vor bedeutsamen Inlandsproduktion von Pedelecs bei Marken wie Flyer, Komenda, Tour de Suisse und Stromer überstieg 2020 die Marktanlieferung erstmals die Zahl von 200.000 Stück.
Damit konnte die hohe Nachfrage aber nur unbefriedigend abgedeckt werden. Zwar konnte mit Lagerüberhängen aus dem Vorjahr die Spitze gebrochen werden. 2019 hatten Händler und Importeure großzügig eingekauft. Erleichtert wurde ihnen das durch die wachsende Zahl von Durchläufer-Modellen bei zahlreichen Herstellern. Diese fanden 2020 auch ohne Preisnachlässe hervorragenden Absatz. Trotzdem wirkten vor allem im Juni und Juli manche Verkaufsflächen von Fahrradhändlern und Fachmärkten wie geplündert. Teilweise waren nur noch etwa 10 Prozent der Räder verfügbar, die sonst zu dieser Jahreszeit angeboten werden konnten. Wer sich auf eine bestimmte Marke oder ein Modell mit einer bestimmten Spezifikation festlegte, ging oft leer aus und wurde auf die ersten Lieferungen des Modelljahres 2021 vertröstet. Außerordentlich gefragt waren 2020 in der Schweiz einmal mehr E-Bikes in den Kategorien City, Trekking und Mountain. Zudem setzte sich das Nachfragewachstum auch bei Rennrädern fort, was ein Zeichen dafür ist, dass Radfahren bei vielen Schweizerinnen und Schweizern während der Corona-Krise als alternatives Fitnessprogramm an Bedeutung gewann. Eher überraschend verkauften Fachhändler auch wieder sehr gut klassische Mountainbike-Hardtails und Alltagsräder in den mittleren Preisklassen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass durch die Corona-Krise wieder Leute zurück auf das Fahrrad fanden, die sich über viele Jahre keines mehr geleistet hatten. Bei ihrer Wahl orientierten sie sich an ihrem letzten Fahrradkauf und entschieden sich für vertraute Modelle und Preisklassen. So kam es, dass der die Schweizer Fahrradbranche trotz Lieferengpässen zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Einzelhandelsumsatz von deutlich über 2 Milliarden Franken Umsatz erzielte. Brancheninsider prognostizieren ein Wachstum von 25 bis 30 Prozent für die gesamte Saison gegenüber 2019. Man kann nur spekulieren, was noch mehr möglich gewesen wäre ohne die Versorgungslücken.
Gefüllte Kassen für dringliche Investitionen
Mühe bereiteten dem Fahrradhandel aber nicht nur die prekären Lieferverhältnisse. Auch strukturelle Versäumnisse der letzten Jahre machten sich während der Corona-Krise und des darauffolgenden Fahrradbooms bemerkbar. So spürten beispielsweise zahlreiche Händler schmerzhaft, dass sie die Digitalisierung Ihres Geschäfts vernachlässigt hatten. Während sich unzählige Kunden online über das Fahrradangebot informieren wollten, verfügten im Frühjahr 2020 nicht einmal 10 Prozent der Schweizer Fahrradfachgeschäfte über einen Webshop oder ein Online-Schaufenster, in dem sie ihr aktuell verfügbares Warenangebot präsentieren. Und in den ServiceWerkstätten machte sich der Kapazitätsmangel noch schmerzhafter bemerkbar als bereits in den Vorjahren. Zum einen fehlt es vielen Fachgeschäften schlichtweg am Platz in den Werkstätten, um der seit Jahren steigenden Nachfrage nach Reparaturarbeiten gerecht zu werden. Viele Schweizer Händler arbeiten in kleinen, alten Liegenschaften mit sehr begrenzten Erweiterungsmöglichkeiten. Die durchschnittliche Größe des Schweizer Fahrradfachgeschäfts von rund 210 Quadratmetern verdeutlicht dies. Doch selbst wenn der Platz für eine größere Werkstatt vorhanden wäre, könnten viele Händler nicht mehr Kunden bedienen. Grund dafür ist der akute Personalmangel. In der Werkstattumfrage von dynaMot und 2rad Schweiz gab kurz vor dem Start der Saison 2020 jedes dritte Geschäft an, dass es für die Werkstatt noch Mitarbeiter suchte. Hier rächt sich, dass der Beruf in den letzten Jahren an Attraktivität eingebüßt hat. Viele gelernte Mechaniker sind wegen des tiefen Lohnniveaus, mangelnder Perspektiven und langer, hektischer Arbeitswochen während der Fahrradsaison in andere Branchen abgewandert.
Die Saison 2020 hat in diesen Bereichen aber Händlern die Augen geöffnet und verdeutlicht, dass Investitionen in die Werkstatt und die Digitalisierung gut angelegtes Geld sind. Mit den Erträgen des überraschend erfolgreichen Geschäftsjahres haben nun viele Branchenteilnehmer die Möglichkeit, diese Bereiche zu stärken. //
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