Handel - Sicherheit und Gesundheit
Gesund in die Werkstatt und wieder hinaus
Für das Jahr 2020 meldete der Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK-DV), dass Mitarbeitende in den Betrieben durchschnittlich 18,2 Tage arbeitsunfähig waren (sogenannte AU-Tage). Trotz Corona ging der Wert damit im Vergleich zu 2019 (18,4 AU-Tage) leicht zurück. Freude mag trotzdem nicht aufkommen, denn die Kurve steigt, über mehrere Jahre betrachtet, stetig an: 2010 lag der Wert noch bei 13,9 AU-Tagen pro Person.
Die Gefährdungsbeurteilung ist Pflicht
»Um das Personal zu schützen, ist der Arbeitgeber seit 1996 durch das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, durch eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen und der damit verbundenen Gefährdungen eigenständig die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten mithilfe einer Gefährdungsbeurteilung abzuleiten«, erläutert Lea Deimel, Pressereferentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Zu beurteilen sind unter anderem die Gestaltung und die Einrichtung der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes, mögliche physikalische, chemische und biologische Einwirkungen, die Art und der Einsatz der Arbeitsmittel, vor allem der Arbeitsstoffe, Maschinen, Geräte und Anlagen, die Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren, die Arbeitsprozesse und Arbeitszeit, die Frage nach der ausreichenden Qualifikation sowie die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz (vgl. auch § 5 Abs. 3 ArbSchG). Zur Gefährdungsbeurteilung gehört auch, Maßnahmen gegen festgestellte Gefährdungen in die Wege zu leiten. Diese müssen dann auf ihren Nutzen hin überprüft und die Gefährdungsbeurteilung fortgeschrieben werden. Ziel ist, präventiv Arbeitsunfällen und belastenden Faktoren im Betrieb entgegenzuwirken.
Bei dieser Mobilisationsübung für das Handgelenk faltet man die Hände und führt eine Achter-Bewegung aus. »Im Laufe der Übung sollte das Tempo und die Richtung gewechselt werden«, so die Bewegungsfachkraft der AOK Bayern Maximilian Zöller.
Maximilian Zöller zeigt die präventive, muskuläre »Handstrecker-Übung«, die gegen den sogenannten Tennis- oder Golfellenbogen hilft. Sie dauert nur zehn Sekunden: Zwei Sekunden lang geht man in die Übung, sechs Sekunden lang hält man sie auf einem spürbaren, aber nicht schmerzhaftem Level, abschließend geht man zwei Sekunden lang behutsam aus der Übung raus.
Analog zur »Handstrecker-Übung« wird die »Handbeuger-Übung« ausgeführt.
Die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BG HM), die für Fahrradwerkstätten zuständig ist, unterstützt mit einer ganzen Reihe von Arbeitsblättern bei der Gefährdungsbeurteilung (vgl. Kasten). Sie rät auch, folgende für eine Fahrradwerkstatt typische Punkte besonders in den Blick zu nehmen: die Möglichkeit eines Brandes (E-Bike-Akkus) und elektrischen Schlages, die körperlichen Belastungen durch das Heben und Tragen, die Zwangshaltungen, den Faktor Lärm, die Gefahr von Stürzen, Ausrutschen, Stolpern und Umknicken und den Umgang mit Gefahrstoffen. »Für jedes Öl, jedes Schmier- und Pflegemittel muss ein Datenblatt zur Gefährdungsbeurteilung vorliegen. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. In den Formularen ist zum Beispiel nachlesbar, wie man sich verhält, sollte man etwas in die Augen bekommen bzw. verschluckt haben«, erläutert Uwe Wöll, Geschäftsführer der VSF Service GmbH, eine Maßgabe der professionellen Gefährdungsbeurteilung.
Maßnahmen gegen körperliche Belastungen
»Die AOK Bayern hat hinsichtlich der Häufigkeit der AU-Tage in der Fahrradbranche festgestellt, dass hinter den Atemwegserkrankungen, die die Statistik anführen, gleich die Muskel-Skelett-Erkrankungen [MSE] folgen«, führt Maximilian Zöller, Bewegungsfachkraft bei der AOK Bayern in München, für den Fahrradfachhandel aus. »Die Zahlen beziehen sich zwar auf erwerbstätige Versicherte der AOK Bayern, sind aber wohl bundesweit ähnlich. Legt man den Fokus dann auf die Dauer der Krankheit bis zur Genesung, übernehmen die MSE die Spitzenposition. Unmittelbar dahinter folgt die Kategorie ›Verletzungen am Arbeitsplatz‹.«
»In der Fahrradbranche handelt es sich dabei meist um kleine Handverletzungen, Schnitt- und Stichwunden sowie kleine Quetschungen«, berichtet Wöll vom VSF aus seiner Erfahrung. Dirk Zedler, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger und Geschäftsführer von »Zedler – Institut für Fahrradtechnik und -Sicherheit GmbH«, ergänzt: »Rissverletzungen oder Abschürfungen entstehen durch die Krampen an Kartons oder scharfkantige Kettenräder etc. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Gefahr bei Probefahrten im Straßenverkehr.«
Doch noch einmal zurück zu den Muskel-Skelett-Erkrankungen durch Fehlhaltungen: »Die Möglichkeiten der Prävention sind hier vielfältig. Beratung und Schulungen gehören genauso dazu wie arbeitsplatzbezogene Maßnahmen«, erklärt Lea Deimel von der BAuA. Typisch für die Werkstattarbeit sind zum Beispiel Rückenbeschwerden aufgrund von Zwangshaltungen und Beschwerden in Händen und Armen aufgrund von Klopfen, Hämmern, Drehen und Drücken. Maximilian Zöller von der bayerischen AOK plädiert hier für Übungen, die über den Tag verteilt direkt am Arbeitsplatz ausgeführt werden können. So schlägt er zum Beispiel gegen Beschwerden im Handgelenk Mobilisations- und muskuläre Übungen (vgl. Fotos) vor. »Um die Übungen zur Routine werden zu lassen, empfehle ich, den Timer im Handy so einzustellen, dass er regelmäßig an die Übungseinheiten erinnert. Hält man konsequent eine Woche durch, zeigt sich oft schon eine Wirkung. Stellt man dann noch fest ›So anstrengend war’s gar nicht!‹, sollte die Routine bereits eingetreten sein.«
Verantwortungsbewusste Händlerinnen und Händler statten ihre Werkstatt so aus, dass körperliche Belastungen vermieden werden. »Eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, zum Beispiel durch höhenverstellbare Montagetische, ist wohl der beste Schutz vor Muskel-Skelett-Erkrankungen«, erläutert die Bewegungsfachkraft Maximilian Zöller. Der Sachverständige Zedler sieht in »höhenverstellbaren Schraubstöcken und Zentrierständern sowie voreingestellten Drehmomentschlüsseln in direkter Griffnähe« weitere präventive Maßnahmen. Für die Arbeit an Transporträdern hält er »Hebebühnen, wie im Motorradbereich üblich, für notwendig.«
Wirbelsäulengerechtes Heben, Halten, Tragen, Ziehen und Schieben erzielt man am besten mithilfe von Kreuzgurten oder Tragewesten. »Die Gewichte der E-Bikes liegen im Schnitt bei 23 bis 35 kg. Das ist für den Rücken eine andere Belastung als die 15 kg eines Fahrrads ohne E-Antrieb«, begründet Uwe Wöll diese Notwendigkeit. »Auch die Transporträder haben die Arbeit sehr verändert. Die körperlichen Belastungen sind wirklich größer, nahezu alle Einzelbauteile sind schwerer geworden. Man bräuchte mithin eine dritte Hand«, ergänzt Dirk Zedler. Angelieferte Fahrräder bringt man für die Montage mit einem sogenannten Plattentransportwagen in die Werkstatt. »Das Herausheben aus dem Karton sollte man dann aber zu zweit machen«, appelliert Zedler an das Werkstattteam.
»Sicher lohnt es sich auch, das andere Equipment in der Werkstatt zu überprüfen. Manches ist vielleicht nicht mehr zeitgemäß und kann durch ergonomisch Wertvolleres ausgetauscht werden. Nach der Anschaffung ist es allerdings wichtig, dass das Werkstattteam dieses auch zum Schutz der physischen Gesundheit nutzt«, so Zöller von der AOK Bayern weiter. So könnten »komfortable Fußmatten, die ermüdungsfreies Stehen über den Tag erlauben, ausreichendes und ausgewogenes Licht sowie Planungstools für die Steuerung der Werkstattaufträge« den Arbeitsalltag erträglicher machen, stützt Uwe Wöll vom VSF die AOK-These. »Jeder Mitarbeiter sollte auch eine persönliche Sicherheitsausstattung (PSA) erhalten. Dazu gehören Schutzbrille, Gehörschutz und Handschuhe, aber auch der Fahrradhelm für die Probefahrt. Der durchaus feine, aber entscheidende Unterschied liegt hier bei dem Wort ›persönlich‹. Damit ist explizit nicht gemeint, dass sich die gesamte Werkstatt einen Gehörschutz und eine Schutzbrille teilt. Auch eine Augendusche ist Pflicht, neben dem selbstverständlichen Erste-Hilfe-Kasten.«
Maßnahmen gegen psychische Belastungen
Neben den körperlichen nehmen auch psychische Belastungen in der Werkstatt seit Jahren zu. Deren Beurteilung bereitet jedoch vielen Betrieben noch Kopfzerbrechen, da es sich um »ein vielschichtiges und vergleichsweise junges Handlungsfeld« handelt, wie die BAuA feststellt. Den Einstieg erleichtern hier die Beratungs- und Unterstützungsangebote der Unfallversicherungsträger und Arbeitsschutzbehörden.
Im Fahrradfachhandel ist die aktuelle Arbeitsverdichtung ein wichtiger Auslöser für psychische Belastungen. Doch auch über Jahre immer wiederkehrende monotone Arbeitsabläufe greifen die Psyche an. Abwechslungsreiche Arbeitsprozesse wirken dem entgegen. Bei der Übertragung neuer Aufgaben ist wichtig, dass diese vollständig und zielgerichtet erklärt werden. Dabei sollten Händlerinnen und Händler eine dauerhafte Unter- beziehungsweise Überforderung vermeiden und Verantwortungsgrenzen klar formulieren. Gleichzeitig braucht das Werkstattpersonal Spielräume, was das Arbeitspensum, die Reihenfolge der Arbeitsschritte, die Auswahl der Arbeitsmittel und -verfahren angeht.
Angespannte soziale Beziehungen am Arbeitsplatz sind ein heikles Thema und beeinflussen nicht nur die Psyche der Betroffenen. 2018 ergab eine Befragung des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der BAuA, dass im Durchschnitt nur ein Drittel der Beschäftigten von Vorgesetzten regelmäßig Lob und Anerkennung erfährt. Das »Handbuch Gefährdungsbeurteilung« der BAuA kennt aber noch schwerwiegendere Auslöser für eine angegriffene Psyche: ein destruktives Führungsverhalten, häufige und schwere Konflikte und Streitigkeiten, verbale Aggressionen, Mobbing, soziale Ausgrenzung, Diskriminierung oder sexuelle Belästigung.
Demgegenüber schützt ein menschenwürdiger, sozialer Umgang nicht nur die Gesundheit jedes Einzelnen, sondern stärkt diese auch. Strukturelle Veränderungen fördern oft das kollegiale Miteinander. Eine Selbstreflexion der Händlerinnen und Händler als Arbeitgeber, die Förderung eines wertschätzenden Betriebsklimas, die Etablierung eines systematischen Konfliktmanagements, Dienstvereinbarungen, Schulungen, regelmäßige Teambesprechungen mit Feedback-Möglichkeit, die Implementierung kooperativer Arbeitsstrukturen, die Beteiligung der Beschäftigten bei wichtigen innerbetrieblichen Entscheidungen, wertschätzende Rückmeldungen sowie präventive Maßnahmen hinsichtlich Übergriffen jeglicher Art sind Beispiele dafür.
Sonderfall »Corona«
»Richtig Druck auf die Werkstätten ist noch mal durch den Boom 2020 aufgrund von Corona entstanden. Wenn vor den Toren des Betriebes Menschen mit nachvollziehbaren Erwartungen stehen, die zum Teil nicht erfüllt werden können, ist das für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter belastend und stressig«, schildert Uwe Wöll die aktuelle Lage. Aber auch die Sorge vor einer Ansteckung mit dem Virus und die eingeschränkten sozialen Kontakte gewährten der Psyche in den letzten beiden Jahren kaum noch Erholungsphasen. Das Bündnis »Offensive Psychische Gesundheit«, das Ende Oktober 2020 aufgrund von Corona gegründet wurde, um auf psychische Belastungen wie Stress und Trauer aufmerksam zu machen, veröffentlichte inzwischen einen professionellen und überaus hilfreichen Gesprächsleitfaden für all diejenigen, die meinen, im Team Kolleginnen oder Kollegen zu haben, die unter psychischen Problemen leiden, aber nicht wissen, wie sie das Thema ansprechen können (vgl. inqa.de/DE/vernetzen/offensive-psychische-gesundheit/offen-darueber-sprechen.html).
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