Unterwegs auf der Spezialradmesse 2016:
In der Nische ist Bewegung – auf zwei, drei und sogar vier Rädern
Früher war das Spezialrad vor allem das Liegezweirad. Hinzu kamen die klassischen Reha-Gefährte und Tandems, das eine oder andere Faltrad. Letzteres ist gefühlt gerade dabei, aus der Nische zu fallen in die Welt des Normalrads – die derzeitige Entwicklung zum Pendeln mit öffentlichen Verkehrsmitteln macht das Faltrad vor allem in Großstädten zum oft gesehenen und begehrten Mobilitätsrenner.
Das Liegezweirad hingegen wurde vor einigen Jahren vom Trike fast komplett zur Seite geschoben.
Und vielleicht geht das Lastenrad in vielen seiner Schattierungen auch gerade den Weg von der Nische in die Normalität – nur wesentlich schneller als das Faltrad.
Revolutionen standen 2016 jedenfalls keine an. Modellpflege und Optimierung ist angesagt, die Elektrifizierung ist im Spezialradbereich ohnehin weit fortgeschritten. Holger Haedeke, der für dieses Jahr die Aufgabe des Pressesprechers von Spezi-Veranstalter Hardy Siebecke übernommen hat, erklärt: „Wichtig wird derzeit vor allem Komfort. Erhöhtes Sitzen auf dem Trike. Die Nachfrage nach dem Lastenrad ist ungebrochen.“ Der Kurzlieger dagegen, vor zwanzig Jahren der Favorit auf der Nischerennbahn, führt kaum mehr ein Schattendasein.
Logistik a la Ikea
Aber es gibt sie noch: Die Neuheiten im Bereich Liegerad-Einspurer. Die Basler Wolf-Brüder sind in der Schweiz schon lange im Fahrradbereich unterwegs. „Ein Rad für Touren, mit viel Komfort, aber möglichst simpel“, soll das Wolf & Wolf sein. So ist das Sitzgestell Teil des Rahmens, entsprechend verwindungssteif gibt sich das Gestühl. Die Beinlänge ist, wie am Kurzlieger meist, per Teleskop-Vorderbau einstellbar. Der Rahmen selbst ist in drei Größen erhältlich. Um Gewicht und Komplexität zu sparen, wird auf Federung verzichtet, stattdessen komme etwas breitere Reifen – vorn 20, hinten 28 Zoll, zum Einsatz. Auch Lenkerendschalter sind gewichtssparend. Zeltbeutel und Wasserflaschen finden unter dem Sitz Platz. Gebremst wird per Scheibe. Um der Kette den Weg nach hinten frei zu machen, hat das Rad eine Einarmgabel. Die Verarbeitung, die die zwei Schweizer abliefern, wirkt tadellos, das ganze Design sehr stimmig. Voll ausgestattet mit Schutzblechen und Batterielicht wiegt das Rad knapp 15 Kilogramm. Erster Fahreindruck: Sehr laufruhig und fahrstabil, dank der breiten Reifen auch nicht unkomfortabel. Ungewöhnlich auch der Vertriebsweg: Der Kunde bekommt einen Bausatz, den er sich selbst komplettieren muss. Steuerlager und Hauptlager sind vormontiert, die Züge und Leitungen abgelängt. Mutig.
Vom Auto lernen heißt Velomobile bauen
Die Firma Alligt des Niederländers Leo Visscher vertreibt Velomobile von Alleweder, WAW oder Sunrider – letzteres ist seine eigene Marke. Zu sehen war auf der Spezi ein neuer Prototyp eines Vierrad-Velomobil mit relativ großem Kofferraum im Heck. Der Optik wegen bekam es von der Spezi-Mannschaft den Namen Pickup. „Der größere Kofferraum ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg, das Velomobil für die Autogesellschaft verständlich zu machen“, meint Visscher. Überhaupt geht es ihm bei seinen Rädern darum, die Akzeptanz des Velomobils weiter auszubauen. "Ein Grund für die vier Räder ist auch die Autoähnlichkeit", meint er. "Es ist in der Wahrnehmung der Autofahrer ein enormer Unterschied, auf wie vielen Rädern ich unterwegs bin. Die Bereitschaft des Autofahrers, den Mehrspurer als gleichwertigen Verkehrsteilnehmer zu sehen, ist deutlich größer als beim Einspurer, sagt Visscher. „Deshalb möcht ich die Räder auch nicht verdecken, wie das oft bei anderen Velomobilen der Fall ist“. Die Karosserie des Pickup ist selbsttragend. Das Hinterbausystem besteht aus Alu- und Carbon-Armen, die Heckfederung baut auf zwei Mountainbike-Federbeinen auf. Im Zwischengetriebe sitzt ein Boschmotor mit 250 Watt. Circa 80 Kilogramm wiegt das Pickup, „ein Gefährt zwischen Fahrrad und Auto“, betont Visscher.
Schön schnittig
Besonders viel Wert auf Velomobil-Design legt man bei CyclesJV-Fenjoux. Das Unternehmen sitzt im Rennsport-Ort Le Mans und was liegt näher, als das zum Imageträger zu machen – auch optisch. So war das Rad von Joël Vincent, das auf drei schmal bereiften 26-Zöllern rollt, ein heiß begehrtes Testgefährt. Die JV-Räder sollen im Rennsport wie für den Alltag Freude machen.
Auch für kleine Menschen
Ergonomie-Botschafterin Juliane Neuss wartet dagegen mit Bodenständigerem auf: Ihr Hometrainer für Kleinwüchsige ist sicher eine Nische in der Nische – aber eine lange erwartete. „Auch Kleinwüchsige haben nach einer Erkrankung oder Verletzung einen Anspruch auf Reha“, erklärt sie, „aber das richtige Reha-Produkt fehlt häufig.“ Die Geometrie des Hometrainers von Junik – so der Name von Neuss’ Unternehmen, das mittlerweile in Clausthal-Zellerfeld sitzt, folgt ihren eigenen ergonomischen Vorgaben, den Rahmen lässt sie im Auftrag schweißen. Bestückt ist er mit einer Shimano-Achtfachnabe und weiteren Standard-Komponenten aus dem Fahrradbereich. Ganz wichtig war ihr, dass die Rolle von Elite, die der Reha-Patient antreibt, fast lautlos läuft. Um die 1.800 Euro muss man für das Indoor-Rad hinlegen.
Trike goes Reha
Die Entwicklung ist offensichtlich: Trike-Hersteller entdecken immer mehr den Reha-Sektor. Während Hase Bikes schon immer die Standbeine Reha und Fun für sich verbuchen konnte und mit diesen sehr gut fuhr und fährt, kamen mit dem Trike-Trend neue Hersteller hinzu – vor allem von der sportlichen und touristischen Schiene. Unter den größeren sind das vor allem HP Velotechnik und Icletta. HP hat die neue oder auch zusätzliche Richtung vor Jahren bereits eingeläutet und bietet neben einem höheren Komfort-Sitz zahlreiche Produkte für den Reha-Bereich an – von der Aufstehhilfe bis hin zum höheren Trike-Sitz und erweiterte die Produktpalette um Medizinprodukte
(velobiz.de berichtete)
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Auf der Spezi 2016 nun zeigte Icletta erstmals den Seat Riser – ein Modul, das dem Tourentrike ICE Adventure eine Sitzhöhe von 45 anstatt der 35 Zentimetern spendiert – mit mehr Übersicht im Straßenverkehr und einfacheres Setzen und Aufstehen. 229,- Euro wird das auch nachrüstbare Teleskoprohr mit Sitzaufnahme kosten. Natürlich kann auch mit Seat Riser der Winkel der Sitzlehne verstellt werden.
Der Motor wandert nach vorn
Reha-Spezialisten statten schon länger ihre Räder mit Pedelec-Systemen aus oder rüsten sie nach. Jetzt entdeckt die Branche nach dem Heck- und Frontmotor auch den Tretlagermotor, wie es Hase Bikes im Tandem Pino bereits vormachte. Anthrotech entwickelte einen Ausleger für den Brose-Motor. Über den Batteriespezialisten BMZ wird das komplette Paket geliefert: der Motor mit 50 Nm Drehmoment, ein speziell angepasster Akku mit satten 15,5 Ah Kapazität (bei 36 Volt: 558 Wh Leistung) und die Peripherie. Das Anthrotech Trike bleibt ansonsten weitgehend unverändert. In der Grundversion mit Sram Dualdrive und 24 Gängen kommt das Pedelec auf rund 5.100 Euro. Natürlich ist auch Rohloff- oder Nuvinci-Ausstattung möglich. Möglich ist auch Fünfgang-Version mit Rückwärtsgang.
Der neue Schachner-Mittelmotor dagegen kommt am Zox Trike zum Einsatz. Das Heckgefederte Rad (Elastomer) mit „Stoßfänger-Optik“ ist vor allem für eine komfortorientierte Klientel auf Kurz- und Mittelstrecken interessant. Da passt entsprechend gut, dass es den neuen Schachner-Mittelmotor auch mit Rücktrittbremse gibt. Schlicht aber gut ist auch der Bediensatellit am Lenkergriff. Das Display ist relativ groß und gut ablesbar. Alternativ kann man auch ein in die Lenkerbedieneinheit integriertes kleines Display wählen. Praktisch und einfach: Hier werden Funktionen, zum Beispiel die Unterstützungsstufe, durch den Drehgriff angewählt. Mit etwa 5.300 Euro für das Komplettrad ist man dabei.
Das Trike als Showbike
Wie sehr das Trike sich mittlerweile diversifiziert, zeigt auch das neue Rad des polnischen Herstellers Matix. Entstanden ist das Show-Gefährt aus dem Fatbike derselben Firma – einem Rad, das man getrost das SUV im Trike-Bereich nennen kann. 26-Zoll große Weißwandreifen im Cruiser-Stil mit drei Zoll Breite machen den besonderen Charme des Lifestyle-Trikes aus. Eine sehr aufwendige und voluminös wirkende Fahrwerkskonstruktion – für dieses Asphalt-Rad vielleicht etwas überkandidelt – lockt Technik-Freaks. Trotz der enormen Pneus ist der Wendekreis sehr klein. Wer flott vorankommen will, sollte die Variante mit Bafang-Heckmotor wählen – ansonsten dürfte das Gefährt schon wegen den recht voluminösen und schweren Reifen sehr gute Beine brauchen. In der gezeigten Variante sind etwa 5.000 Euro mit Motor fällig, für die Einstiegsversion um die 2.700. Individualisierungen sind möglich.
Leichtes für Youngsters
Noch eine Nischennische: Menschen mit 1,40 bis 1,60 Metern Körpergröße haben es schwer, wirklich passendes Rad zu finden, stellte Oliver Nekola fest. Dabei ist ziemlich egal, ob es sich um Jugendliche oder kleine Erwachsene handelt. Zwar gibt es Rahmenhöhen die annähernd passen, doch die Geometrie ist dann oft vom „großen“ Rad, sprich – Handling und Laufkultur sind nicht entsprechend optimiert. Das Oberrohr ist zu lang, das Tretlager sitzt meist zu hoch, sodass man bei richtig angepasster Sitzhöhe auch auf Zehenspitzen den Boden kaum erreicht. So entwickelte Nekola ein Rad, das dem gerecht wird: 26-Zoll-Räder, ein Meter kurzer Radstand, kurzes Oberrohr, 152er Kurbeln. Statt Drehschaltgriffen werden Daumenschalter verbaut, weil vor allem Jugendliche Drehgriffe bei Nässe oft nur noch schlecht bedienen können. Auch auf Gewicht wird geachtet, zum Beispiel wird ein Alu-Lenker verbaut, kein Stahl-Pendant, wie oft bei Jugendrädern. Voll ausgestattete No-Frill-Räder von Nekolas Unternehmen HPV-Parts wiegen wie das gezeigte gut 13 Kilogramm. Natürlich wird individuell aufgebaut.
Business as usual?
Sonntagabend kommen die offiziellen Zahlen: Um die 10.000 Fans und Spezi-Liebhaber sollen es wieder gewesen sein, die die drei Spezi-Hallen, das Frei- und das E-Bike-Testgelände besucht oder sich Vorträge angehört hatten. Bei einer Messe, die vor allem vom Spaß am Ausprobieren lebt, ein sehr erstaunliches Ergebnis – waren doch der Samstag absolut verregnet und das komplette Wochenende bitterkalt.
Die 104 Aussteller – 13 Prozent weniger als im Vorjahr – waren auf jeden Fall zufrieden. Die Hallenstände konnten sich – auch wegen der ungastlichen Witterung – am Samstagvormittag vor Andrang kaum retten. Aber: „Die Leute kamen fast grundsätzlich vorinformiert und wussten genau, was sie wollten“, bestätigte Silvia Piontek vom Hase Bikes-Stand: „Vor allem das Tandem Pino und da die neue Version mit Steps-Mittelmotor war bei uns sehr gefragt.“
Ähnlich nahm man es auch bei HP Velotechnik wahr, neben Hase der Branchenführer. „Die Trikes, und da vor allem die komfortablen Versionen mit großer Sitzhöhe, wurden viel nachgefragt. Das Trike hat mit seiner einfachen Bedienung den Einsteigerbonus, den das Liegezweirad nicht bieten kann.“
Wie aufwendig ein Messetermin für einen gefragten Hersteller ist, zeigt schon, dass sich an diesen beiden größten Ständen zusammen etwa 30 Mitarbeiter tummelten, die um die 80 Räder für Präsentation wie Probefahrten mitgebracht hatten.
Die meisten befragtem Besucher schimpften zwar auf das miese Wetter; der ein- oder andere wollte seine Möglichkeiten zum Testfahren deshalb auch nicht ganz ausreizen. Im Großen und Ganzen waren sie aber auch zufrieden mit der 21ten Spezialradmesse. Sonst wären sie wohl nicht genauso zahlreich gekommen wie an den sonnigen, warmen Aprilwochenenden der früheren Jahre …
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