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Vivavelo-Kongress:

In Krisenzeiten im Dialog

Gestern stand die Landesvertretung Nordrhein-Westfalens in Berlin ganz im Zeichen der Fahrradwirtschaft. Der Vivavelo-Kongress mit parlamentarischem Abend zeigt, wie gut die Interessensvertretung der Branche mittlerweile organisiert ist. Es gab positive Stimmungszeichen, aber auch klar erkennbare Aufgaben für die Zukunft.

Mehr als 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Fahrradbranche und der Politik kamen beim Vivavelo-Kongress und dem anschließenden parlamentarischen Abend in Berlin zusammen. Dabei gab es neben strategischen Überlegungen zu aktuellen Herausforderungen und einem kritischen Blick auf vergangene und aktuelle Krisen auch positive Neuigkeiten aus der Politik. Die Branche sucht neue Impulse, um die Erfolgsgeschichte mit 29,3 Milliarden Euro Umsatz in Handel, Produktion und Dienstleistungen und fast einer halben Million Arbeitsplätzen, die am Wirtschaftsfaktor Fahrrad hängen, fortzuschreiben.

Einen Wermutstropfen mussten die austragenden Verbände gleich zu Beginn der Veranstaltung hinnehmen, zeigten sich aber betont verständnisvoll. Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck konnte aufgrund einer Corona-Erkrankung nicht am Geschehen in der NRW-Landesvertretung teilnehmen, meldet sich aber in einer Mitteilung der Verbände zu Wort: „Die Fahrradbranche schafft nicht nur Arbeitsplätze, sondern spielt auch eine herausragende Rolle in der Verkehrs- und Energiewende. E-Bikes, gerade als Lastenräder, sind neben E-Autos der Inbegriff der anstehenden Elektrifizierung des Verkehrs. Und Deutschland ist heute ein zentraler Innovationsstandort und Leitmarkt für E-Bikes in ganz Europa. Während der Legislatur haben wir viele Initiativen in Gang gesetzt, die gezeigt haben: die Verkehrswende ist im Gange, und zwar jetzt. Und dazu gehören Fahrräder. Dabei geht es nicht darum Fahrräder und Autos gegeneinander auszuspielen. Beides brauchen wir für die Mobilität. Aber insbesondere die Infrastruktur muss dem gestiegenen Fahrradverkehr Raum geben, damit die Menschen sicher zur Arbeit, zum Einkaufen oder zur Schule kommen.“

Lastenrad-Prämie wird fortgesetzt

Als Vertreter Habecks stand schließlich Bernhard Kluttig, Abteilungsleiter für Industriepolitik in Habecks Ministerium, auf der Bühne im Europasaal. Der selbsternannte „Heavy User“ des Sport- und Fortbewegungsmittels Fahrrad brachte ein offenes Ohr für die Branche und positive Neuigkeiten mit zum Event. Die Kaufprämie für gewerbliche E-Lastenräder wird ab Oktober 2024 neu auferlegt und bis 2027 verstetigt. Die Anschaffung wird mit maximal 25 Prozent gefördert. Neu ist die maximale Fördersumme, die von 2500 auf 3500 Euro steigen wird.

Von links: Burkhard Stork (ZIV), Wasilis von Rauch (Zukunft Fahrrad), Bernhard Kluttig (Abteilungsleiter Industriepoltik Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz) und Uwe Wöll (VSF)
Die Neuauflage der Förderung stieß auf Applaus seitens der Branche. Natürlich wurden der Tag und Abend in Berlin auch dafür genutzt, neue Forderungen an die Politik zu formulieren und bestehende Forderungen aufrechtzuerhalten. Uwe Wöll, Geschäftsführer Verbund Service und Fahrrad: „Fachkräfte für die Branche zu gewinnen und zu sichern, ist eines der wichtigsten Handlungsfelder in den kommenden Jahren. Hier gilt es, sich als Branche für neue Zielgruppen zu öffnen und aktiv zu werben. Sei es, mehr Mitarbeiterinnen und Führungskräfte zu gewinnen, Schulabgänger für eine Laufbahn in der Branche zu begeistern oder Geflüchtete zu integrieren. Im Zuge der Umwälzungen in der gesamten Mobilitätswirtschaft, beispielsweise in der Autoindustrie, geht es auch darum, Branchenwechsler aufzunehmen.“

Was die Branche braucht

Als aktuelles Handlungsfeld identifizierten die Verbände weiter den Mobility Transition Pathway, für den bis Anfang dieses Monats Stellungnahmen von Unternehmen eingereicht werden konnten (velobiz.de berichtete) . Dazu ZIV-Geschäftsführer Burkhard Stork: „Wir stehen bereit für einen Dialog der Bundesregierung mit den Verbänden der Fahrradwirtschaft, um über die Umsetzung von Maßnahmenvorschläge auf deutscher Ebene voranzubringen. Die Aufgaben sind vielfältig: Fachkräftesicherung, Digitalisierung, Cluster-Bildung, Aufbau der Batterie-Wertschöpfungskette oder Re-Shoring.“

Auch wenn die diesjährige Vivavelo-Ausgabe einen starken Fokus auf wirtschaftspolitische Fragen setzte, steht für die Beteiligten außer Frage, dass die Radverkehrsförderung indirekt auch die Wirtschaft wegweisend voranbringen könne. Wasilis von Rauch, Geschäftsführer Zukunft Fahrrad: „Mit dem Nationalen Radverkehrsplan hat die Bundesregierung bereits eine im Koalitionsvertrag verankerte Strategie für das Fahrradland Deutschland 2030 beschlossen. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es endlich einen verbindlichen Aktionsplan mit deutlich mehr Investitionen in Radwege und Fahrradparken. Gute Fahrradinfrastruktur ist noch immer die beste Förderung für die Fahrradwirtschaft. Darüber hinaus kann sich die Bundesregierung ein Beispiel an der EU-Kommission und Frankreich nehmen: Die Fahrradwirtschaft gehört in die Industriestrategie der Bundesregierung und in die regionalen Transformationsnetzwerke. Wer die Mobilitätswirtschaft transformieren will, kommt an der Fahrradwirtschaft nicht vorbei.”

Verbände Hand in Hand

Der Vivavelo-Kongress und parlamentarische Abend wurde von den Verbänden VSF, Zukunft Fahrrad und ZIV Hand in Hand organisiert. Die nächste Ausgabe des Kongresses ist auf 2026 terminiert. Die Zusammenarbeit der drei Verbände scheint sich als Erfolgskonzept zu erweisen. Die Kommunikation zum Fahrrad und seiner Branche trifft unter den Abgeordneten tendenziell immer öfter auf offene Ohren und einen direkten Austausch. Beispielsweise waren trotz Habecks Abwesenheit mehrere Vertreter des Wirtschaftsministeriums vor Ort. Burkhard Stork betont, dass die gemeinsame Stimme dann erhoben wird, wenn es sich lohnt. Wenn drei Briefe ihre Adressaten mehr nerven können, würden die Verbände dennoch drei verschiedene verfassen, erklärte der ZIV-Geschäftsführer.

Oliver Krischer, Minister für Umwelt, Naturschutz und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, lobte in einer Videobotschaft das Engagement seitens der Unternehmen, zum Beispiel in der AGFS. Über 50.000 Arbeitsplätze gingen allein in seinem Bundesland auf das Konto der Fahrradwirtschaft, so Krischer. Die Branche habe in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Entwicklung und Qualitätssteigerung gezeigt.
Das Kongressprogramm von Vivavelo bestand aus einem bunten Mix aus Keynotes, Diskussionen und Breakout-Sessions zu den Themen Nachhaltigkeit, Fachkräften und Diversität, Cargobikes und Digitalisierung und einem Poetry Slam.

Viel Gesprächsbedarf gibt es in der Fahrradbranche, wie hier in der Breakout-Session zu Innovation und Skalierung von Cargobikes.

Maren Urner, Bestsellerautorin, Neurowissenschaftlerin und Professorin für nachhaltige Transformation stimmte die Gehirne der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer Keynote darauf ein, sich zu verändern. Statt auf Angst und Unsicherheit zu hören, müsse man Lagerdenken überwinden. Statt sich dem Hang zum Negativen hinzugeben, müsse man für etwas plädieren und nicht gegen etwas. Die Branche braucht neue Geschichten und könne im gemeinsamen Gespräch Resilienz aufbauen, so fasste Urner ihren Vortrag über die Eigenarten des menschlichen Gehirns zusammen.

Aufbauend darauf gab auch Nicolas Schwendemann von der Agentur Ressourcenmangel fundierten Input zu politischer Kommunikation. Die Branche darf laut ihm nicht den Fehler machen, von der eigenen Basis zu kommunizieren, sonst könne sie die Gruppe der Nutzerinnen und Nutzer nicht erweitern. Statt an eine kollektive Verantwortung und die Veränderung als positives Versprechen zu formulieren, ließen sich konservativ Denkende eher mit einer Betonung auf die individuelle Freiheit, Sicherheit und Ordnung vom Fahrrad überzeugen. Das Fahrrad ist Gegenstand eines Kulturkampfs geworden, analysierte Schwendemann. Die Politik müsse außerdem zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Forderungen konfrontiert werden, um diese in der eigenen Arbeit nutzen zu können.

Noch dicke Bretter zu bohren

Im parlamentarischen Abend gab es eine besonders dynamische Diskussionsrunde zwischen vier Bundestagsabgeordneten und Claus Fleischer von Bosch E-Bike Systems sowie Ulrich Prediger von Jobrad. Prediger wünschte sich noch mehr Anerkennung für das Fahrrad und dass die Branche mehr mitbedacht werde. Das E-Bike habe den Vorteil, eins der wenigen nachhaltigen Produkte zu sein, die viel Spaß bereiten können. Er erlebe die Fahrradbranche als befriedigendes Tätigkeitsfeld, fordere aber eine Startup-Förderung. Laut Fleischer hat sich die Fahrradbranche dynamisch verändert. Die Elektromobilität sei deshalb so ein Erfolgskonzept geworden im Fahrradsegment, weil die nötige Antriebskraft und die Batterien klein sind. Die parlamentarischen Gäste, allesamt mit einem inhaltlichen Bezug zur Verkehrs- oder Wirtschaftspolitik zeigten, wie unterschiedlich sie mitunter auf die Branche blicken und mit ihr umgehen. Maik Außendorf von den Grünen betonte, die Fahrradindustrie habe weitgehende positive Auswirkungen auf andere Branchen, etwa den Einzelhandel. Bernd Westphal (SPD), selbst großer Fan des Service-Levels seiner Fahrradwerkstatt, habe sich über mangelnde Kommunikation der boomenden Fahrradbranche gewundert und selbst den Kontakt zu den Verbänden gesucht. Laut Henning Rehbaum von der CDU braucht es Fahrräder für alle Schichten, sodass das Potenzial des Radverkehrs nicht an sozialen Fragen scheitert. Bei Zulassungen, etwa für Innovationen im Bereich des Lichts, sei von der Politik zudem mehr Tempo gefragt. Reinhard Houben von der FDP-Bundestagsfraktion erwies mitunter mangelndes Fachwissen zu den Forderungen und den derzeitigen Herausforderungen der Fahrradbranche. Er erntete mitunter den Spott des Publikums, als er dem Jobrad-Gründer Prediger auf dessen Forderung nach besseren Abschreibungsmöglichkeiten für Fahrräder das Erfolgskonzept des Fahrrad-Leasings erklärte.

Auch weil die Kenntnisse über die Fahrradwirtschaft im Detail noch nicht sehr weit verbreitet sind, werteten die Geschäftsführer der Verbände den wirtschaftspolitischen Fokus des Kongresses und Abends, den Mirjam Stegherr gekonnt moderierte, als genau richtig. Burkhard Stork fasste zusammen: „Es gibt noch dicke Bretter zu bohren.“

13. September 2024 von Sebastian Gengenbach

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