Handel - Veloskop
Komfort mit Brief und Siegel
Als »Skop« bezeichnet der Duden ein »Wortbildungselement mit der Bedeutung ›Gerät zur optischen Untersuchung oder Betrachtung‹«. Dass es im Fall von Martin Schwier das Wort »Velo« ergänzt, kommt nicht von ungefähr. Der Name »Veloskop« beschreibt ziemlich genau, was in dem schmucken Radladen in Elmshorn bei Hamburg passiert. Martin Schwier ist seit Gründung seines Geschäfts 2005 nicht nur auf Rennräder spezialisiert, sondern vor allem auch darauf, deren (zukünftige) Besitzer ergonomisch aufs Rad zu setzen. Bikefitting ist das zentrale Element des Veloskop-Konzeptes, und das funktioniert so gut, dass Martin Schwier vor Kurzem von 25 Quadratmetern Fläche im Anbau seines Wohnhauses in viermal so große Räumlichkeiten im Nebengebäude gezogen ist.
Abmessen bringt nichts
Dort tummeln sich, hochwertig präsentiert, unter offenliegenden Naturholz-Deckenbalken Sättel, Helme, Radklamotten und Rennräder. Einige Anatomie-Fachbücher finden sich auf einem Schreibtisch in der Ecke. Davor ein Fittingbike, bewacht von vier Kameras. Es ist das Herz des Ladens und so wichtig, dass das Bike der einzig feststehende Gegenstand auf der Ladenfläche ist. Die Regale lassen sich allesamt mittels Rollen im Raum bewegen, »damit ich Platz habe, auch mal weiter weg zu gehen und mir den Fahrer anzuschauen«, erklärt Martin Schwier. Er selbst hatte sein Aha-Erlebnis in punkto Sitzposition vor gut 25 Jahren bei einem Trainingslager auf Mallorca. Nachdem er sein Rad nach der Ankunft schnell zusammengebaut hatte, weil die anderen loswollten, bekam er während der Tour Schmerzen in der rechten Schulter. Ungewöhnlich für ihn, der zu diesem Zeitpunkt gut 20.000 Kilometer pro Jahr radelte. Ein »Gewöhnungsschmerz« konnte es nicht sein. Als er am Ruhetag sein Rad dann näher unter die Lupe nahm, stellte er fest, dass er den Lenker ganz leicht schief montiert hatte. Kleine Ursache, immense Wirkung. Martin Schwier begann, sich intensiver mit dem Thema ergonomische Sitzposition, Bikefitting und Anatomie auseinanderzusetzen. Er probierte selbst vieles aus, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Anpassung welche Wirkung haben kann, bildete sich fort. »Damals habe ich allerdings noch das klassische Abmessen beigebracht bekommen: Innenbeinlänge, Knielot, Unterarmlänge ...«. Alles überholt, ist er heute überzeugt. Denn: »Es lässt sich beim Fitting nicht grundsätzlich sagen ›Wenn ich Schräubchen X drehe, dann passiert Y.‹ Der Mensch ist keine Maschine.« Schwier, der eigentlich Maschinenbau studieren wollte, begann umzudenken. Sein Wissen beruflich anwenden darf er aber erst, seit er sein eigener Chef ist. Damals, als er noch angestellt in einem Radladen im knapp 30 Kilometer entfernten Schnelsen arbeitete (und jeden Tag hinradelte), hatte man dort kein Interesse an Bikefitting in diesem Umfang – oder an Rennrädern als einzigem bzw. Fokusprodukt.
Es lässt sich beim Fitting nicht grundsätzlich sagen ›Wenn ich Schräubchen X drehe, dann passiert Y.‹ Der Mensch ist keine MaschineMartin SchwierRadladen Veloskop
Kein Bike ohne Fitting
Auch Veloskop startete als »normales« Rennradgeschäft mit Verkauf, Beratung und Werkstatt. Das findet auch heute noch alles statt. Schon immer geht jedoch kein Rad raus ohne ein Fitting. Die Modelle, die im Laden stehen, sind lediglich Anschauungsexemplare, Martin Schwier baut jedes Kundenrad nach dem Bikefitting individuell auf. Auch Radsportler, die bereits ein Bike haben, aber nicht damit zurechtkommen, oder damit liebäugeln, ein bestimmtes (Versender-)Rad zu kaufen, das Martin Schwier nicht im Sortiment hat, kommen mittlerweile zu ihm. Die Kunden kommen aus Hamburg, Kiel oder Rostock. Aus der gesamten norddeutschen Tiefebene zieht er Rennradfahrer an. Dabei macht der Ergonomieexperte kaum Werbung. »Ich bin ein Ein-Mann-Betrieb. Ich wüsste gar nicht, wann ich mich um Online-Anzeigen oder Social Media kümmern sollte«, gesteht er. Seine Webseite hat optisch etwas Patina, inhaltlich macht sie jedoch ganz klar: Hier schreibt bzw. arbeitet jemand, der weiß, was er tut und sagt, was er denkt. So findet er deutliche Worte zum Thema Sitzknochenabstand (»Leider hat der nur fürs Hollandrad eine Aussagekraft.«), zum Knielot (»Das kann eher als esoterisches Auspendeln einer Position gesehen werden.«) oder zur Schrittlängenmessung (»Die Länge der Knochen in eine Formel gesetzt, ist stets nur ein Annäherungswert (fürs Bikesizing).«). Letztere als Bestandteil einer Online-Abfrage, wie sie beispielsweise einige Versender auf ihren Webseiten haben, findet er dagegen »als erste Orientierung« gar nicht so falsch. Überhaupt findet er Versender nicht verkehrt: Martin Schwier empfindet sie nicht als Konkurrenz, die ihm Kunden wegnimmt, sondern als Chance, Rennradfahrer, die sich auf ihrem Online-Kauf nicht wohlfühlen, so ergonomisch, leistungssteigernd und schmerzfrei wie möglich zu positionieren. Oder etwas aerodynamischer, obwohl er immer darauf hinweist, dass aerodynamischer nicht unbedingt leistungsstärker bedeutet, ergonomischer dafür aber in den meisten Fällen mit einer besseren Performance einhergeht. Wenn man schmerzfrei bleibt und wenn keine Muskeln verspannen, radelt es sich eben länger, schneller und schöner.
Nur Datenlesen reicht nicht
Mittlerweile gibt es bei Veloskop eine Wartezeit von vier bis sechs Wochen, wobei im Winter die Fitting-Hochphase ist, wenn sich »alle für die Saison bereitmachen wollen«. Zehn Fittings schafft er pro Woche, mehr als zwei pro Tag möchte Martin Schwier nicht machen, um konzentriert genug zu bleiben, um den jeweiligen Kunden auch wahrzunehmen. Denn genau hinzuschauen, zu sehen, zu erfragen und zu erspüren, wo die Ursache für Sitzprobleme liegen könnte, ist für ihn ebenso wichtig wie ausgefeilte Analyse-Technik. »Es bringt nichts, wenn ich jemandem den Sattel aufzwinge, der laut Messung am wenigsten Druck erzeugt, wenn sich der Sportler nicht wohl darauf fühlt. Zudem hat jeder ein anderes Schmerzempfinden, das ins Fitting einbezogen werden muss«, erklärt Schwier. Deshalb führt er zunächst ausführliche Gespräche mit seinen Kunden, um etwaige körperliche Einschränkungen (und Potenziale) und Wünsche herauszufinden. Zudem schließt er sich durchaus auch mit Physiotherapeuten oder Osteopathen zusammen, wenn er glaubt, einen körperlichen Faktor erkannt zu haben, dem sich mit Fitting allein nicht beikommen lässt. Die reinen Daten liefern verschiedene Fitting-Technologien, allesamt solche, die eine dynamische Messung in Bewegung zulassen. Denn nur so lässt sich, zusammen mit den Aussagen und dem Empfinden des Sportlers, herausfinden, was wirklich im und mit dem Körper passiert, wenn der jeweilige Athlet aufs Rad steigt. Die Basis bildet das vielseitig verstellbare Fitting-Bike SICI Size Cycle von Serotta, an Kundenpo und -füßen ermitteln Folien von GebioMized, welcher Druck wo lastet, und dank der 3d-Motion-Capture Software STT/Fit4Bike kann Martin Schwier im Rundum- und sogar im Draufblick nachvollziehen, wie der Körper sich in Bewegung verhält. Bis er die generierten Daten richtig interpretieren konnte und sein Blick entsprechend geschärft war, verging rund ein Jahr (wobei er durchaus bis heute dazulernt), in dem er zu Übungszwecken quasi seine komplette Familie plus den gesamten Freundeskreis fittete. Um auf dem neuesten Stand zu bleiben, besucht Martin Schwier im Schnitt zweimal pro Jahr eine Fortbildung, meist im Ausland, oft in Benelux oder Großbritannien, den beiden Fittinghochburgen. Auf der Veloskop-Webseite kann man sich durch ein buntes Karussell an Zertifikaten klicken, eines davon weist ihn als »Level 3«-Fitter des International Bike Fitting Institute (IFBI) aus – die zweithöchste Kategorie von insgesamt vier Stufen.
E-Bike als Schwunggeber?
»Leider gibt es hierzulande nur eine Handvoll Bikefitter, die sich vom IFBI prüfen lassen«, bedauert Martin Schwier. So sei es als Kunde schwer, einen guten Fitter von jemandem zu unterscheiden, der sich »ein Bikefitting-Schild nur ins Schaufenster hängt, weil man das heutzutage halt anbieten muss.« Das sei schade, nicht nur für die Sportler, sondern auch für die Händler selbst. Er sieht es als eine vergebene Möglichkeit, sich zu profilieren und im Wettbewerb hervorzuheben. Denn ein Kunde, dem man zu mehr Spaß und weniger Schmerzen auf dem Rad verholfen hat, bleibt einem in den meisten Fällen loyal verbunden und kommt immer wieder, sei es für ein Anschluss-Fitting, einen neuen Helm oder wenn ein Radkauf ansteht. Ein gutes Bikefitting schafft Vertrauen. Es bedeutet Sicherheit und ein besseres Handling des Bikes. Auch deshalb sieht Martin Schwier keine Einschränkungen, was den Fahrrad- oder den Radfahrer-Typ angeht. Denn auch der Pragmatiker, dem Fahrräder als solche egal sind und der sich nur aufs E-Bike schwingt, um staufrei von A nach B zu kommen, möchte dies möglichst bequem und sicher tun, und was ist überzeugender als der unmittelbare Effekt einer ergonomisch-schmerzfreien Sitzposition und das Gefühl, das Bike im Griff zu haben und nicht umgekehrt? Bikefitting könnte durch den boomenden E-Bike-Markt nochmals einen Push bekommen. Eine riesige Chance für den Fahrradhandel, allerdings eine, die Martin Schwier im Fall von E-Bikes anderen überlässt. Sein Herz schlägt fürs Rennrad. Und auf selbiges möchte er sich nach zwei Jahren Ausbau des neuen Ladens wieder öfter schwingen. Schmerzfrei, versteht sich.
für unsere Abonnenten sichtbar.