Report - Kompakte Lastenräder
Mehr als ein Lückenfüller
Ein junges Fahrzeugsegment lässt sich mitunter daran erkennen, dass die Branche noch nicht ausdiskutiert hat, wie eine Fahrzeuggattung denn nun heißen soll. Besonders rabiat ist Geschäftsführer Samuel Weishaupt vom Schweizer Hersteller Benno Bikes in seiner Perspektive darauf, welche Begriffe die Fahrzeugklasse der kompakten Lastenräder gut beschreiben. Bei den Schweizern hat sich in Anlehnung an das Utility-Bike der Begriff Etility-Bike durchgesetzt.
Kleine Cargobikes sind durch das richtige Zubehör besonders gut an verschiedene Nutzungsszenarien anpassbar.
Damit gemeint ist allen voran das Modell Boost, welches Benno bereits in der siebten Generation produziert. Es leistet mehr als ein gewöhnliches E-Bike und nimmt weniger Platz ein als klassische Longtails. Samuel Weishaupt: »In dieser Zwischengröße zwischen dem Longtail und dem normalen Fahrrad brauchte es noch etwas.« Bei Weishaupt stehen bezüglich der eigenen Räder die Zuweisung als Longtail und selbst der Begriff Cargobike in der Kritik. »Bei jedem Auto kann man hinten eine Tasche reinstellen. Also warum großes Theater betreiben, weil man bei einem elektrischen Fortbewegungsmittel jetzt auch eine Tasche mitnehmen kann? Das ist eigentlich das Normalste der Welt.«
Die Hersteller Yoonit und Muli haben kein Problem damit, dass ihre kompakten Long Johns als Lastenrad gesehen werden. Strittig ist dennoch der Begriff Mini-Cargobike, den Yoonit bevorzugt und zur Abgrenzung von sperrigeren Rädern stolz auf den Rahmen schreibt. Der Begriff »Kompaktlastenrad« sei in seiner Bedeutung grundsätzlich korrekt, erklärt Johann Cohrs, Geschäftsführer bei Yoonit. Aber: »Das ist ein Begriff, der etwas sperrig ist in unseren Augen«, so Cohrs.
»Beim Zubehör trennt sich die Spreu vom Weizen.«
Samuel Weishaupt, Geschäftsführer Benno Bikes
Muli hat als Pionier den Wortlaut kompaktes Lastenrad mitgeprägt. Bei dem in Köln produzierenden Unternehmen hält man der Einschätzung von Yoonit entgegen. Head of Marketing Felix Schön: »In dem Wort Mini steckt eine Beschränkung drin, die wir gar nicht sehen in unserem Produkt.« Mulis Konzept eines Kompaktlastenrades komme sehr nah an ein City-Bike heran, was die Abstell- und Nutzungsmöglichkeiten angeht.
Dieser Ansatz, bestehende Fahrzeugklassen um mehr Tragfähigkeit zu erweitern, dürfte auch der Kerngedanke vieler Longtails sein. Laut Jimmy Riddle, Produktmanager für die taiwanische Marke Tern bei Distributor Hartje, ist aber nicht jedes Longtail auch ein Kompakt-Cargobike. Riddle macht die Klasse an einem maximalen zulässigen Gesamtgewicht von etwa 200 Kilogramm, kombiniert mit minimalen Maßen, fest. Doch die Namensfindung ist ein aktuelles Thema am Rande, das dem Erfolg der Kategorie insgesamt nicht im Weg stehen wird. Denn sie hat viele Vorzüge zu bieten.
Alltagstaugliches Fahrgefühl
Seinen Reiz spielt das handliche Segment insbesondere in der Stadt hervorragend aus. Die Zielgruppe für die Tern-Räder dieser Klasse sind Familien mit einem Kind, aber auch Singles oder junge Paare, die ihre Mobilität gemeinsam ausrichten. Die Tern-Modelle lassen sich platzsparend am Gartenzaun oder zur Not sogar im Hausflur abstellen. Sie sind allen täglichen Aufgaben gewachsen und sogar für Boots- oder Camper-Besitzer nicht uninteressant. Wichtig ist für Jimmy Riddle, dass sich HSD, Quick Haul und Co. wie normale Fahrräder fahren lassen. Samuel Weishaupt sieht den Fahrspaß ebenfalls als Priorität, auch für Kundinnen und Kunden, die die E-Bikes zum Kindertransport nutzen. »Du fährst nur 10 oder 20 Prozent der Zeit mit dem Kind«, erklärt er.
Weil das Boost von Benno um den Motor herum konzipiert wurde, zählt Gepäcktransport natürlich zu seinen Kernkompetenzen.
Der Reiz kompakter Räder besteht auch jenseits des Fahrgefühls in ihrer Alltagstauglichkeit. Johann Cohrs erklärt, warum die Räder von Yoonit nur 1,77 Meter lang sind: »Es gibt bestimmte Längen im Alltag, die diese Größe bestimmen. Wir haben die Fahrstuhlsituation, die sehr häufig in der Diagonalen knapp über 1,80 Meter ist in den Großstädten. Auch der Fahrradträger auf dem Auto ist begrenzt, da machen 20 Zentimeter recht viel aus.« Das Yoonit gefalle der Kundschaft, weil es sich agil fahre. Nicht zuletzt wegen der Radgrößen von 16 und 18 Zoll erinnere das Fahrgefühl der 2021 auf den Markt gebrachten Modelle an die Falträder von Brompton.
Auch wenn die Kundschaft oft über das Nutzungsszenario des Kindertransports zum Lastenrad kommt, ist das nicht die einzige Nutzung, für die die Räder von Yoonit attraktiv sind. Cohrs: »Der wichtigste Punkt ist, dass wir den Multi-Use an dem Fahrrad haben. Es gibt die Möglichkeit, die Carrier vorne zu wechseln und das Fahrrad so in verschiedenen Anwendungen nutzbar zu machen.« Der Wechsel geht mittels dreier Schnellspanner werkzeuglos und schnell vonstatten. Wenn der Carrier demontiert ist, lässt sich das kleine Long John sogar in der Bahn transportieren.
Klassisch oder elektrisch?
Yoonit bietet neben dem motorlosen Modell Classic das motorisierte Electric und das gewerblich ausgelegte Pro an, die auf einem ähnlichen Rahmen als Plattform basieren. Die Variante ohne Motor kaufen nur fünf bis zehn Prozent der Kunden und Kundinnen. »Man kann dafür verschiedene Gründe sehen. Das kann am Marketing liegen, dass wir das Classic nicht so stark bewerben. Ich selbst fahre eins ohne Motor, kann aber auch verstehen, dass ein Motor vielen Personen den Umstieg vom Auto zum Rad erleichtert«, so Cohrs.
Muli hat als Hersteller 2017 und damit laut Felix Schön noch vor dem ganz großen E-Bike-Boom angefangen, Kompaktlastenräder zu verkaufen. Damals hielten sich das unmotorisierte Modell namens Muskel und das Motor genannte Modell mit E-Unterstützung die Waage. Mittlerweile liegt der E-Anteil bei 80 Prozent, sagt Schön. »Ganz viele Lastenräder gibt es ja gar nicht ohne Motor. Unser Konzept funktioniert aber auch wunderbar ohne Motor, weshalb wir das immer noch im Sortiment haben und auch gut verkaufen.«
Viele Maße im Alltag sind für die Länge normaler Fahrräder ausgelegt. Die Räder von Muli kommen genau so gut mit begrenztem Raum, zum Beispiel in Fahrstühlen, klar.
Auch die Muli-Räder finden durch einen klappbaren Transportkorb in Zügen und Hausfluren Platz. Muli sieht sich als Pionier dabei, zu zeigen, dass Long Johns nicht unbedingt lang und schwer sein müssen, wie sie die Öffentlichkeit oft wahrnehme. »Man kann damit auch einfach normal von A nach B Fahrrad fahren, ohne das Gefühl zu haben, man ist mit dem falschen Gefährt unterwegs oder es ist total unsinnig, mit so einem großen Fahrrad durch die Gegend zu fahren, um gar nichts zu transportieren«, erklärt Felix Schön.
Beim Schweizer Hersteller Benno ist man auch deshalb bei einem lastenfähigen Fahrzeug gelandet, weil man das Boost von Grund auf als E-Bike, sozusagen um den Motor herum entwickelt hat. Große Transportkapazitäten sieht Samuel Weishaupt als logische Konsequenz der Fahrzeuggattung. Den Reiz des Boosts mache für die Kunden aus, dass das Modell gut ausgereift ist und mit dem Zubehör ineinandergreift. »Bei uns kauft man nicht ein Produkt für eine spezifische Problemlösung. Bei uns kauft man ein nachhaltig verwandelbares Produkt, das einen im Leben begleiten kann«, so Weishaupt.
Wandelbar durch Zubehör
Mit dem richtigen Zubehör, da sind sich die Hersteller einig, lassen sich kompakte Lastenräder besonders gut an diverse Lebensrealitäten anpassen. Für Tern-Manager Jimmy Riddle liegt darin eine der Kernkompetenzen des Handelssegments: »Neben den kompakten Maßen und der Möglichkeit, viel mitzunehmen, ist eine der wesentlichen Eigenschaften, dass das Zubehör vielseitig und stimmig ist, um den Alltag zu bewältigen.« Die kompakten Longtails HSD und NBD von Tern sind technisch insofern besonders, als dass sich der Lenker einklappen lässt und das Rad auf dem Gepäckträger stehend hochkant gelagert werden kann. Zum beliebtesten Zubehör zählen der große Frontgepäckträger Transporteur Rack, der Sitz Captains Chair für dem Kindersitz entwachsene Passagiere und auch Wetterschutz-Optionen für die Mitfahrenden.
»Unser Lastenrad ist nicht anders zu handhaben als ein normales Fahrrad, auch was die ganze Logistik angeht.«
Felix Schön, Head of Marketing bei Muli
»Beim Zubehör trennt sich die Spreu vom Weizen«, sagt Samuel Weishaupt. Bennos Kundschaft sei vor allem an schönen Sitzkissen oder an verschiedenen Rails mit guter Haptik interessiert. Gefragt sind auch die Mini Sideloader, die als Fußrasten oder als Stütze für sperriges Transportgut zum Einsatz kommen. Auch in der Kommunikation setzt Benno nur am Rande auf Familienkonstellationen, sondern zeigt etwa auf der eigenen Instagram-Seite, wie wandelbar die E-Bikes sind. Wie der Alltag der Nutzerinnen und Nutzer ist auch das Zubehör der Kompaktlastenräder bunt gefächert. »Auch innerhalb eines Tages ist die Nutzung nicht immer gleich«, meint Felix Schön. Im Zubehörportfolio von Muli sind Kindersitze, Regenverdecke und in den letzten Jahren auch Hundezubehör besonders beliebt.
Einstieg ins Lastenradsegment
Bei so großem Augenmerk auf das Zubehör stellt sich die Frage, wie der Fachhandel diese Angebotsfülle am besten händelt. Laut Jimmy Riddle von Tern haben kaum Händler das gesamte Zubehör vorrätig. »Grundsätzlich wissen unsere Händler, was sie tatsächlich vor Ort brauchen. Wenn sie etwas nicht im Laden haben, können sie natürlich die Website verwenden, um die weiteren Möglichkeiten zu zeigen und sie danach bei Hartje zu bestellen.« Ob Modell und Zubehör kompatibel sind, lässt sich dort schnell herausfinden.
Für Johann Cohrs sind kleine Lastenräder ein gut geeigneter Einstieg ins Lastenradsegment. Denn auch für Händler haben die Räder viele Vorteile. Sie benötigen keine besonders ausladenden Räumlichkeiten und lassen sich mit gewöhnlichen E-Bike-Montageständern warten und reparieren. Die Nachfrage sei außerdem stark. »Kunden und Kundinnen kommen mittlerweile in die Läden und fragen nach diesen kleinen Rädern«, so Cohrs. »Es gibt die ersten Händler, die sich von großen Lastenrädern trennen und nur noch kleine haben.« Dabei handele es sich bislang um Einzelfälle. Nachahmer seien aber vorstellbar.
Einige Tern-Modelle lassen sich auf dem Gepäckträger parken. Zudem lässt sich der Lenker abklappen, was es erleichtert, die Räder zu lagern oder zu transportieren.
Dass Händler das Lastenradsegment ausschließlich mit Kompaktmodellen bespielen, hat auch Felix Schön von Muli schon erlebt. Die große Masse der Fachhändler decke allerdings die gesamte Bandbreite des Cargobike-Markts ab. Insbesondere betreffe das die Lastenrad-Spezialisten unter den Fachhandelsbetrieben, die im Muli-Vertrieb für einen großen Teil der Verkäufe verantwortlich sind.
Als Einstieg für Händler sind die Muli-Räder deshalb attraktiv, weil sie ähnlich zu händeln sind wie City- oder Trekking-E-Bikes. Felix Schön: »Unser Lastenrad ist nicht anders zu handhaben als ein normales Fahrrad, auch was die ganze Logistik angeht. Wir versenden das Muli komplett vormontiert im Karton.« Händler dürften die Möglichkeit schätzen, ein Lastenrad bestellen zu können, ohne dass es auf einer eigenen Palette geliefert wird.
Wer kompakte Lastenräder verkauft, die keine Long Johns und damit gleich als Lastenräder zu erkennen sind, sollte die Modelle unbedingt mit Zubehör ausstellen. »Wir kämpfen immer dafür, dass die Fahrradhändler es ausgestattet ausstellen«, erzählt Samuel Weishaupt. Unter diesen Vorzeichen sei das Segment aktuell sehr lukrativ für den Fachhandel. »Für Händler, die noch nicht in dem Segment tätig sind und sich jetzt dafür entscheiden, glaube ich, dass in unserem Bereich viel geht.«
Das Angebot wächst
Was kompakte Lastenräder angeht, scheint viel Wachstumspotenzial bislang ungehoben. Im Mainstream ist das Subsegment aber schon angekommen, meint Felix Schön: »Die Nische Kompaktlastenräder ist ein bisschen normal geworden, vielleicht sogar das neue Normal in der Lastenradbranche.« Ein Indiz dafür dürfte auch sein, dass die Branche laufend neue Konkurrenz hervorbringt. Prominente Beispiele kamen in den letzten Jahren mit dem Lundi von Moustache, Treks Fetch +2, dem Cargowagen Neo von Cannondale, Bergamonts Hans-E und zuletzt auch mit dem Carrie von Riese & Müller auf den Markt.
»Die Entwicklung wird sowohl im normalen als auch im kompakten Cargo-Bereich ganz sicher stetig nach vorne gehen.«
Jimmy Riddle, Produktmanager Tern bei Hartje
»Früher hat man einem Cargobike nur etwas zugetraut, weil es groß und schwer war. Heute ist der Bereich der kleinen Lastenräder deutlich größer geworden, auch weil sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat. Das Cargobike ist mittlerweile salonfähig.« Kompakte Lastenräder sieht man bei Yoonit als Markt der Zukunft. Auch Jimmy Riddle von Tern schließt sich der Marktprognose selbstbewusst an, weil kompakte Modelle mit gutem Fahrgefühl mitunter nicht nur Autos, sondern auch Trekking- und City-E-Bikes Konkurrenz machen können: »Die Entwicklung wird sowohl im normalen als auch im kompakten Cargo-Bereich ganz sicher stetig nach vorne gehen«. //
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