Report - Elektronik am Fahrrad
Modular, vernetzt und für jede Kundengruppe: Neue Technik am E-Bike 3.0
Es ist noch nicht so lange her, dass Experten Vernetzung und Systemintegration als neue Megatrends ausgerufen haben. Vom Fahrrad oder E-Bike war da allerdings noch nicht die Rede, sondern von den Bereichen Mobilfunk, Consumer Electronics und dem Automobil. Aber auch die Zweiradbranche hat ihre Hausaufgaben gemacht und geht mit großen Schritten in diese Richtung. Im High-End-Bereich gehören GPS-Tracking, Bluetooth, Apps, Wireless Communi‑
cation, hochauflösende LCD-Displays, Navigationsfunktionen und Leistungsmessung zum selbstverständlichen Kanon von Produktmanagern, Händlern und anspruchsvollen Kunden. Selbst die altehrwürdige Fahrradkette bekommt mit Belt-Drive-Systemen plötzlich ernste Konkurrenz im Massenmarkt. Andere, vor kurzem noch vielgelobte Innovationen, wie eine leistungsstarke LED-Beleuchtung mit Tagfahr- und Bremslicht, unplattbare Reifen mit minimalem Rollwiderstand etc. gehören bei hochwertigen E-Bikes längst zur Standard‑
ausstattung oder sind, wie das Bremslicht bei neuen S-Pedelec-Modellen, inzwischen sogar gesetzlich vorgeschrieben. Die Entwicklung, so der Eindruck, rast.
Innovationen durch neue Marktteilnehmer
Die Innovationstreiber im E-Bike-Markt sind inzwischen nicht mehr nur die angestammten Hersteller und Teilelieferanten der Fahrradbranche, sondern zunehmend auch Unternehmen aus anderen Bereichen. Zur ständig wachsenden Liste gehören Technologieunternehmen wie Bosch, Panasonic oder Fallbrook Technologies, Zweiradproduzenten wie Yamaha oder Kymco (Klever) oder Spezialisten für Energie und Technik wie Panasonic, Samsung oder Ansmann. Im Automobilbereich trifft man auf Daimler (Smart), Automobilzulieferer wie Continental und Magna (BionX) oder neu Brose und viele weitere im B2B-Geschäft renommierte Unternehmen wie Ulrich Alber oder die Ortlinghaus-Gruppe (Go SwissDrive). Gerade die großen Unternehmen bringen dabei nicht nur innovative Technik, sondern meist auch ein neues Verständnis für Qualität, Service, standardisierte Schnittstellen und komplexe technische Zusammenhänge mit.
Antrieb 2015: Mehr Integration, neue Technik
Auch wenn sich viele Elektroräder optisch noch nicht stark verändert haben: Vergleicht man Modelle aus 2012 mit den aktuellen E-Bikes, muss man wohl allein beim Antrieb von einem Quantensprung sprechen. Verantwortlich dafür sind mehrere parallele Entwicklungen. Denn nicht nur der Motor selbst ist zusammen mit seinen Sensoren und der Steuerungselektronik für ein angenehmes Fahrverhalten verantwortlich, sondern auch seine Integration in ein Gesamtsystem, die das Schalten ebenso berücksichtigt, wie den Antriebsstrang, respektive Kette oder Zahnriemen.
Elektronik für sanftes Schalten
Der im Frühjahr gelaunchte Impulse 2.0-Antrieb, eine hauseigene Entwicklung der Cloppenburger Derby Cycle Werke, ist beispielhaft für die stete Weiterentwicklung der Antriebssysteme und gleichzeitig ein Beispiel für das Potenzial, das in der Strategie steckt, sich mit einem eigenen Antriebssystem unabhängig zu machen. Über 250.000 Impulse Mittelmotor-Systeme wurden nach Angaben des Unternehmens inzwischen verkauft. Neu ist die sogenannte Shift-Sensor-Technologie, die für Schaltunterbrechungen im Millisekundenbereich sorgt und so in Verbindung mit Nabenschaltungen, die sich bei E-Bikes immer mehr durchsetzen, besonders weiche Schaltvorgänge möglich macht. Auch andere Hersteller haben inzwischen ähnliche Systeme im Markt oder werden hier sicher in Kürze nachlegen.
Karbon statt Kette
Designräder wie das Smart E-Bike haben den Anfang gemacht und viele Hersteller zogen in den Folgejahren mit Karbon-Riemenantrieben nach. Zu einem Durchbruch im Massenmarkt ist es allerdings nicht gekommen. Bis jetzt. Führende Hersteller sehen dank neuer Technologien und Produkten wie dem Center-Track-System, einem Zahnriemen mit Führung von Gates Carbon Drive, eine ideale Ergänzung im Design-, Komfort- und Performance-Bereich. Vor allem bei E-Bikes. Die Vorteile: Kein Nachspannen oder Ausleiern, wartungslos, geringer Verschleiß, eine tolle Optik und ein neues weiches und trotzdem sehr direktes Fahrgefühl. Was will man mehr?
Mehr Komfort und Spaß beim Schalten
Natürlich ist es immer besonders sportlich, Gänge rauf und runter zu schalten. Beim Auto, beim Motorrad und beim Fahrrad. Gerade im E-Bike-Segment hat sich allerdings dank Motorunterstützung Schaltfaulheit breit gemacht, die weder dem Motor noch der Reichweite guttut. Für Abhilfe und mehr Bedienkomfort sorgen elektronische Schaltsysteme wie Di2 von Shimano, die stufenlose Automatikschaltung NuVinci Harmony von Fallbrook Technologies oder die geschwindigkeitsabhängige Automatik von SRAM. Als Quantensprung sichtbar und erfahrbar wird die neue Technologie im Modelljahr 2015 durch die Integration in die beiden Bosch Antriebslinien Active und Performance: Über den international standardisierten CAN-Bus findet ein Datenaustausch zwischen den Systemen statt, womit die Schaltung direkt über das Bosch-System angesteuert wird und Informationen, zum Beispiel zum gewählten Gang oder Schaltempfehlungen, direkt auf dem Display angezeigt werden können.
Konnektiv und always online
Viele Hersteller machen sich 2015 mit vernetzten Systemen fit für die Zukunft. Konnektivität via Bluetooth ist das Zauberwort mit dem zum Beispiel die Kymco-Tochter Klever Mobility und der Antriebshersteller Go SwissDrive auf den Markt kommen. Über die Schnittstelle lassen sich unter anderem Anrufe anzeigen, Daten auslesen oder Updates aufspielen. Auch die Grundlage für deutlich weiter reichende Systeme, wie sie heute beispielsweise die E-Bike-Marke Stromer und Bosch als Antriebshersteller bieten, ist damit gelegt. Was vor wenigen Jahren beim E-Bike sicher noch als Spinnerei abgetan worden wäre, ist bei diesen beiden Unternehmen bereits Realität: volle Konnektivität, Machine-to-Machine-Kommunikation und Systemintegration. Mit Echtzeit-Telemetriedaten, GSM, GPS und Bluetooth-Funktionalität sowie der Fähigkeit über Smartphone-Apps mit dem E-Bike zu kommunizieren, Daten auszutauschen und Verschiedenes mehr. Dazu präsentierte die Schweizer E-Bike-Marke Stromer mit dem ST2 bereits im Frühjahr ein voll integriertes E-Bike 3.0 und der konnektive Nyon-Bordcomputer von Bosch eBike Systems wird auf der Eurobike bei Premium-Rädern ausgewählter Hersteller zu sehen sein. »Die Verbindung von Bordcomputer, E-Bike-Sensorik, Smartphone und Online-Portal eröffnet vollkommen neue Möglichkeiten«, so Claus Fleischer, Leiter des Produktbereichs Bosch eBike Systems. »Elementare Funktionen wie die E-Bike-Steuerung verschmelzen mit nützlichen Funktionen wie Navigation und ausgeklügelten Trainingsprogrammen.«
Für die Zukunft scheint kaum etwas unmöglich, aber auch aktuell bieten die genannten Systeme bereits eine riesige Fülle von Funktionen:
- Bluetooth / WiFi-Konnektivität
- Vernetzung mit Herstellerportal
- Feinabstimmung der Motorunterstützung
- Navigationsfunktionen mit fahrradoptimierter Routenberechnung
- Routenaufzeichnung und Synchronisierung
- Leistungsdaten- und Fitnessmessung inklusive drahtloser Pulsgurtanbindung
- Anzeige eingehender Anrufe oder SMS-Nachrichten
- Steuerung von Smartphone-Funktionen wie Musikplayer
- Diebstahlsperre und Standortbestimmung auch im Ruhezustand
Mit Technik neue Kundengruppen erschließen
High-Tech hatte schon immer einen besonderen Reiz. Vor allem, wenn die Technik, wie beim Auto, beim Smartphone oder eben jetzt auch beim E-Bike, imagefördernd ist und einen direkten Mehrwert bietet. Für die Zweiradbranche bietet das faszinierende Perspektiven. Längst ist das Fahrrad Ausdrucksmittel in »ausdifferenzierten gesellschaftlichen Milieus mit jeweils unterschiedlichen Lebensstilen«, wie Soziologen und Marktforscher die Kunden von heute gerne beschreiben. Mit optisch attraktiven und/oder technisch hochgerüsteten E-Bikes können gezielt Kaufanreize gesetzt und neue Gruppen wie Heranwachsende angesprochen werden. Und die Finanzierung des neuen Statussymbols? Die lässt sich bei Azubis beispielsweise ganz einfach über eine Gehaltsumwandlung mit geringer Eigenbeteiligung lösen. Noch sind E-Bikes mit Vorurteilen behaftet, aber das scheint sich gerade radikal zu ändern. Die Erfolge im Bereich der Mountain-E-Bikes (ein Ausrufezeichen zur Eurobike setzen Haibike und neu auch Flyer) sowie neue Produktentwicklungen zeigen die Richtung an.
Was bringt die Zukunft?
Aktuell scheint die E-Bike-Branche mit der beginnenden Systemintegration ähnliche Prozesse zu durchlaufen, wie die Automobilbranche Ende des 19. Jahrhunderts, als Motor und Lenkrad noch auf Kutschen montiert wurden. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die Entwicklung und Technisierung ist um ein Vielfaches schneller. Hinter den Kulissen, so ist vielfach zu hören, wird längst an neuen Technologien und Allianzen für die nächste und übernächste E-Bike-Modellgeneration gearbeitet. Zudem kommen Innovationen heutzutage nicht mehr vorzugsweise aus der Tüftlerwerkstatt, wie damals bei Carl Benz, sondern aus einem weltweiten Netz von Technikexperten, Designern und Visionären. Und die sitzen oft genug in führenden Unternehmen oder an Universitäten und bedienen sich aus dem riesigen Fundus neuer Produkte auch aus anderen Bereichen. Oder sie gründen eine eigene Firma, sammeln über Risikokapitalgeber oder Crowdfunding-Plattformen Geld ein und denken das Elektrorad einfach neu. Wie das junge Unternehmen Visiobike, das die Datenbrille »Google Glass« in sein System integriert und auch sonst jede Menge Innovationen zu bieten hat.Angesichts der Studienergebnisse »Fahrrad-Monitor Deutschland 2013«, nach denen sich zwar 27 Prozent der Deutschen beim Kauf eines Fahrrads für ein E-Bike entscheiden würden, aber weitere 20 Prozent unentschlossen sind, scheint auch die Frage interessant, ob es nicht Sinn macht, normale Fahrräder im hochpreisigen Segment grundsätzlich »E-Bike-ready« anzubieten und bei Bedarf nachträglich ein Motorupgrade durchzu-
führen. Oder aber man nutzt den gleichen Motor für verschiedene E-Bikes. Auch dafür gibt es Kunden und auf der Eurobike mit dem Virtus-System des japanisch-schweizerischen Herstellers Sunstar inzwischen auch ein Angebot.
Wohin die Reise bei der E-Bike-Technik auch immer geht, eins scheint klar: Die Innovationsgeschwindigkeit wird weiter zunehmen. »Zukauf, Kooperation oder selbst entwickeln?« sind damit Fragen, die jedes Unternehmen immer wieder neu beantworten muss. Entscheidend wird es dabei sein, nicht den Anschluss zu verlieren. Ob der Vergleich Kutsche versus Automobil greift, ist eine bislang unbeantwortete Frage. Interessant aber: Ohne das Auto wäre Bosch als Unternehmen in seiner heutigen Größe kaum vorstellbar – dafür würden sich wohl viele der vor 125 Jahren noch blendend verdienenden Kutschenhersteller die Hände reiben. Überlebt hat von ihnen den Sprung in die Zukunft übrigens allein die Firma
Karmann.
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