Report - Gewerbliche Lastenräder
Nische mit Zukunft
Eines von 25 E-Bikes, die 2020 verkauft wurden, war ein Lastenrad. Das teilte der Zweirad-Industrie-Verband im März des letzten Jahres in einer Pressemitteilung mit. E-Rennräder und schnelle E-Bikes kommen zusammen auf ein Prozent Marktanteil, also ein Viertel der Lastenradverkäufe. Wer dann noch berücksichtigt, dass die Verkaufspreise von Lastenrädern deutlich über denen normaler E-Bikes liegen, begreift schnell, dass es sich hier nicht mehr um eine unwichtige Nische handelt.
Genaue Marktdaten zu erhalten, ist in diesem Segment trotzdem nicht einfach. Das liegt zum einen daran, dass die Räder nicht zulassungspflichtig sind und auch keine Versicherung brauchen. Eine Stelle, die gesammelte Daten hat, gibt es also nicht. Zum anderen ist strittig, ab wann ein Rad überhaupt als Lastenrad zählen darf. Bei manchen Firmen laufen auch Fahrräder mit stabileren Gepäckträgern und höherer Maximalzuladung als Cargobikes vom Stapel.
Wie viel gewerbliche Nutzung?
Zum Anteil des Gewerbemarktes an den gesamten Cargobike-Verkäufen existieren dementsprechend nur Schätzungen. »Experten der Branche hantieren immer ungefähr mit der Zahl 25 bis 30 Prozent. Man muss aber dazu sagen, dass er möglicherweise deutlich niedriger liegt«, meint Martin Seißler, Geschäftsführer von Cargobike.jetzt. Ein präzises Bild, wer ihre Lastenräder wofür nutzt, haben auch die Hersteller selbst oft nicht.
Chike hat seine Neigetechnik auf wenig Wartung getrimmt. Das Modell E-Cargo hat dürfte zu 70 Prozent gewerblich genutzt werden.
Eine Vorstellung über Nutzungsszenarien vermittelt allerdings der Fachhandel. »Wir haben einen sehr guten und direkten Austausch mit dem Fachhandel, der uns davon berichtet, weil es oft einfach schöne Geschichten sind«, meint Jörg Matheis, Kommunikationsleiter bei Riese & Müller. Trotzdem dürfte es auch Lastenradkäufe geben, bei denen gar nicht preisgegeben wird, dass die Räder gewerblich genutzt werden sollen. Bei Riese & Müller geht man von einem kleineren gewerblichen Anteil aus. »Es ist, glaube ich, schon so, dass man sagen kann, dass der Anteil der privat genutzten Cargobikes aktuell noch höher ist.
Das Thema der gewerblichen Nutzung kommt aber immer mehr, da viele Firmen das Potenzial des Cargobikes für sich entdecken«, so Matheis.
Andere Anbieter kommen auf andere Gewichtungen. Der Kölner Hersteller Chike geht davon aus, dass etwa 70 Prozent der eigenen Kundschaft das Modell E-Cargo gewerblich nutzen. Beim Modell E-Kids hingegen dürfte der Anteil nur sehr gering sein.
Ausdifferenzierte Produktpalette
Ein Schornsteinfegerbetrieb in Berlin, ein Apothekenzulieferer in Freiburg oder ein Kurierdienst in Würzburg: Die gewerblichen Nutzungsszenarien für Lastenräder sind vielfältig. Unter den Lastenrädern unterscheiden sich verschiedene Klassen durch ihre Größe, Bauform und erlaubte Zuladung. Ein Lastenrad der Klasse Trike hat drei Räder und bringt die Last vor dem Fahrer oder der Fahrerin unter. Die gleiche Reihenfolge aus Last und Fahrersitz haben die einspurigen Long Johns. Umgekehrt ist es bei der Bauart Longtail, die auch mit zwei Rädern auskommt und dadurch wendiger ist. Dann gibt es noch Lieferbikes, die an gewöhnliche Fahrräder mit viel Transportkapazität erinnern und schließlich die Schwertransporter.
Diese noch übersichtlich scheinende Aufteilung in verschiedene Lastenrad-Segmente differenziert sich aber immer weiter aus. »Wenn wir über gewerbliche Nutzung reden, muss man die Schwerlastenräder mittlerweile aufteilen in drei- und vierrädrige, was ja schon einen deutlichen Unterschied in der Bauweise macht«, so Seißler. Bei den dreirädrigen Varianten des jungen Schwertransport-Segmentes kommen Modelle mit Neigetechnik als Unterkategorie hinzu. Das breite Modellspektrum zeigt das Angebot der niederländischen Firma Urban Arrow. Das Modell Shorty misst nur rund zwei Meter und kann bei einem Fahrergewicht von 80 Kilogramm noch knapp 100 Kilogramm zuladen. Das Tender kommt mit Reifen, die eher nach Auto als nach Fahrrad aussehen, und fasst auf der großen Ladefläche bis zu 300 Kilogramm Zuladung. Typisch Lastenrad ist auch, dass ein Modell meist verschiedene Aufbauten hat. Das Tender ist mit Aluminium-Fläche, offenem Aufbau oder verschiedenen geschlossenen Boxen erhältlich. So viel Auswahl findet heute ihre Nutzerinnen und Nutzer.
Wenige Einschränkungen bei Nutzungsszenarien
Der Drogeriemarkt Dm beliefert seine Kundschaft mittlerweile per Schwertransporter-Lastenrad. Nach einem Pilotprojekt in Karlsruhe wurde dieses Angebot nun auf München, Wien und einen Teil Berlins ausgeweitet. Wird bis 18 Uhr bestellt, kommen die Waren noch am selben Tag.
Jörg Matheis berichtet von einer Kooperation mit Alnatura. Die Bio-Supermarktkette begegnet dem niedrigen Platzangebot in den Innenstädten durch das vermehrte Anschaffen von Lastenrädern, die die Kundschaft kostenfrei leihen kann. Das Projekt soll deutschlandweit erweitert werden. Dieses Großprojekt stelle eine Ausnahme dar, auch weil es nicht über den Fachhandel ins Leben gerufen wurde, sondern in direkter Kooperation entstand. Für die anfallenden Wartungsarbeiten bekommen lokale Fachhändler dennoch eine laut Riese & Müller relativ gute Entlohnung. Ein spürbarer Nebeneffekt sei, dass die Erfahrungen mit den gewerblichen Rädern auch ein privates Interesse fördern. »Ich bin das bei Alnatura Test gefahren und interessiere mich dafür«, sei eine mehrfach rückgemeldete Erfahrung im lokalen Fachhandel.
Martin Seißler ist Geschäftsführer von Cargobike.jetzt. Das Unternehmen berät Kommunen zu Lastenradförderungen und hilft, sich auf dem Markt zu orientieren.
Dass mehr Lastenräder unterwegs sind, schafft Sichtbarkeit und sorgt dafür, dass auch andere Unternehmen anfangen, über die Umstellung der eigenen Prozesse nachzudenken. Unkomplizierte Testmöglichkeiten möchte Cargobike.jetzt mit dem Projekt Flottes Gewerbe anbieten. Dabei stellen sie in Kooperation mit Herstellern, Wartungspartnern und Städten potenziell interessierten Betrieben die richtigen Räder für einen längeren Test zur Verfügung. Neben dem Gewicht sieht das Berliner Unternehmen wenig Einschränkungen, was Lastenräder leisten können. »Ich wundere mich immer eher, für welchen Quatsch Autos und Transporter genutzt werden, wo Lastenräder viel besser geeignet wären«, so Seißler.
Fokus auf Wartungsarmut und Diebstahlschutz
Gewerbliche Cargobikes unterscheiden sich nicht nur in den Aufbauten von privat genutzten Rädern. Riese & Müller hat für die Gewerbekundschaft eine eigene Firmenabteilung eingerichtet. Dadurch rücken die technischen Anforderungen im Gewerbebetrieb genauer in den Blick. »Gerade, wenn man an Sharing-Projekte denkt, wie etwa Carvelo2go in der Schweiz, mit denen wir sehr stark zusammenarbeiten, ist es wichtig, Anbauteile, die schnell geklaut werden können, richtig zu fixieren und so besser vor Diebstahl zu schützen«, verdeutlicht Matheis. Auch besondere Schlösser oder Vorrichtungen zum Sichern der Räder gehören zu den Anforderungen vieler Sharing-Anbieter. Wenn das Rad im Free-Flow-System draußen steht, ersetzen die Hersteller zudem manche Schnellspanner durch Schraublösungen, um Komponentendiebstähle zu erschweren.
Technisch kommen im Gewerbe besonders oft Lastenräder mit Riemenantrieb und stufenlosen und robusten Schaltungen zum Einsatz. Die Wartung spielt bei gewerblichen Lastenrädern eine größere Rolle als im Privatbereich. Zwar ist auch ein Kindertransport zur Schule unverzichtbar, aber fällt ein Cargobike in gewerblicher Nutzung aus, tut es der Umsatz manchmal auch. Die meist intensivere Nutzung zieht zudem die Wartungsintervalle spürbar zusammen. »Wir haben darauf geachtet, dass unser Transportrad, insbesondere das Neigefahrwerk, möglichst wartungsarm ist«, erzählt Chike-Geschäftsführer Manuel Prager. Regelmäßige Wartungen lassen sich trotzdem nicht ganz verhindern und laufen bei Chike ausschließlich über den Fachhandel.
Teilweise werden Hersteller bei der Wartung aber auch selbst aktiv oder die Gewerbetreibenden versuchen sich selbst als Wartungstechniker. Das Geschäft mit den Wartungen müsse sich erst noch richtig entwickeln, meint Martin Seißler. »Das ist eine sehr zerklüftete Landschaft ohne Qualitätskontrollen und Standards.« Der Bereich muss als Geschäftsfeld erst noch erkannt werden. Mit zunehmenden Lastenrad-Zahlen dürfte sich der Fokus einiger Händler auf den neuen Service-Markt verschieben.
Müssen Händler sich entscheiden?
Wer Lastenräder verkaufen oder regelmäßig warten will, braucht viel Raum und nutzt diesen anders als bei E-Bikes und Fahrrädern ohne Antrieb. »Die Reparatur von Schwerlasträdern erfordert andere Werkzeuge, Ersatzteile und mitunter auch eine Hebebühne. Damit ist es ein Bereich, der mit dem traditionellen Fahrradfachhandel irgendwann nicht mehr viel zu tun haben wird«, erwartet Martin Seißler.
Manuel Prager sieht trotzdem, dass viele Händler am Trend zum Lastenrad teilhaben wollen. »Es ändert sich mehr dahin, dass auch klassische Fahrradgeschäfte sich ein oder zwei Lastenräder in den Laden stellen, weil es immer populärer wird und immer mehr Mainstream«, so Prager. Die Platzfrage kann auch geklärt werden, indem die Geschäftsfelder Fahrrad & E-Bike von den Lastenrädern getrennt werden. Jörg Matheis dagegen verweist auf die Vorteile, wenn das ganze Sortiment zusammenbleibt. »Im Großen und Ganzen ist es immer gut, die verschiedenen Modelle auch im Laden abzubilden. Derjenige, der nicht auf der Suche nach einem Cargobike ist, lässt sich so vielleicht auch durch die Auswahl im Laden inspirieren. Die Person wäre wahrscheinlich nie in einen Cargobike-Shop gegangen, aber jetzt ist er im Radladen. Und auf einmal stellt man im Beratungsgespräch fest: Sein Nutzungsszenario ist eigentlich perfekt für ein Cargobike.«
Nische der Zukunft?
Die steigende Nachfrage nach gewerblichen Lastenrädern attestiert dem Transportvehikel eine vielversprechende Zukunft. Das Förderprogramm des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) trägt dazu bei. Im Gegensatz zu privater Nutzung, können gewerbliche Lastenräder mit bis zu 25 Prozent des Kaufpreises gefördert werden. Etwa 83 Prozent der Anträge, die zwischen März und Dezember 2021 eingingen, wurden bewilligt. Die Fördersumme betrug 3,9 Millionen Euro für 2708 Lastenräder. Umgerechnet entspricht das einer durchschnittlichen Förderung von 1444 Euro pro Rad. Ob das gewerbliche Lastenrad angesichts der nur vierstelligen Förderanträge insgesamt doch vor allem in der Nischenecke stattfindet, ist schwer zu sagen. Es liegen keine Informationen vor, wie viele Lastenräder für gewerbliche Anwendungen ohne Förderung angeschafft wurden. In diesen Graubereich fallen auch Leasing-Räder und die Mischform Lieferbike, die von der Kaufprämie ausgeschlossen sind.
Dennoch ist Jörg Matheis zuversichtlich. »Das Thema wird immer größer, auch weil Städte immer mehr entdecken, was für ein Potenzial Sharing-Angebote in der Stadt haben und wie sehr der Verkehr dann entlastet werden kann«, sagt er. Auch Manuel Prager rechnet damit, dass die Räder vielfacher und vielfältiger genutzt werden. »Ich glaube, das wird sich auf jeden Fall noch differenzieren. Und ich glaube, dass es immer mehr Firmen gibt, die das in Betracht ziehen und dann auch umsetzen werden.«
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