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Die Metropolen dieser Welt haben den Radverkehr für sich entdeckt. Die Vorreiter in diesem Bereich bekommen allmählich Gesellschaft. 
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Urbane Mobilität - Standortbestimmung Radverkehr

Starke Dynamik in der Stadt

Angesichts jahrelanger Forderungen nach einer Mobilitätswende und eher gegenteiliger Entwicklungen ist es nicht immer leicht, positiv in die Zukunft zu schauen. Vieles spricht aber dafür, dass sich aktuell einiges grundsätzlich verändert.

Die Aktion »Aufbruch Fahrrad« war ein gelungener Startschuss für mehr Radverkehr in den Städten von NRW und weit darüber hinaus.

Wenn man sich die Mobilität der letzten Jahre oder Jahrzehnte in Deutschland anschaut, dann fällt es schwer, an Veränderungen hin zu mehr Radverkehr und lebenswerteren Städten zu glauben. Von Jahr zu Jahr gibt es immer mehr Autos und sie werden nicht nur gefühlt, sondern auch messbar immer größer, schwerer und PS-stärker. Es wird ganz selbstverständlich alles zugeparkt – legal, illegal oder geduldet. Platz für fahrende oder parkende Fahrräder, E-Bikes, Cargobikes oder Sharing-Fahrzeuge wie E-Scooter? Fehlanzeige. Und die Pandemie? Sie hat die Bedeutung des privaten Pkws zulasten des öffentlichen Verkehrs weiter verfestigt.
Von einer Mobilitätswende scheinen wir in Deutschland insgesamt noch weit entfernt und auch die Beharrungskräfte sind eine nicht zu unterschätzende Größe. »Die Zukunft und auch wir sind in einem viel größeren Maße, als wir uns das im Allgemeinen vorstellen, durch die Vergangenheit determiniert«, sagt Professor Stephan Rammler, der als Fachbuchautor (»Volk ohne Wagen« und »Schubumkehr«) sowie wissenschaftlicher Direktor des IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung zu den profiliertesten Experten zu diesem Thema gehört. Trotzdem gibt es Grund zu Optimismus. Weltweit erkennbar ist seiner Meinung nach ein großer Handlungsdruck in Richtung Klimaneutralität, Schutz der ökologischen Vielfalt und Schutz der Lebensgrundlagen. Tatsächlich bestimmen das Thema Klimawandel und die Forderung nach Klimaneutralität mehr und mehr die politische Agenda, bei uns sowohl auf europäischer Ebene, zum Beispiel mit dem European Green Deal, auf Bundesebene, in den Ländern und auch in den Städten und Kommunen. Konkret geht es in den allermeisten Kommunen aktuell längst nicht mehr um die Frage, ob man klimaneutral wird, sondern um die Frage, wie und mit welchen Teilschritten. »Wir hatten eine starke Dynamik im Sinne von mehr Bewusstheit für das Thema und eine starke Bewegung auf der kommunalen Ebene«, sagt Prof. Rammler. In den Kommunen hätten viele zudem verstanden, dass es keinen Sinn mache, auf die Landes- oder Bundespolitik zu warten, »weil die Menschen vor Ort ihre Probleme erleben und vor Ort auch Lösungen von den lokalen Entscheidern geliefert bekommen möchten«. Deshalb sei die kommunale und lokale Ebene weiterhin der wichtigste Ort für die Verkehrspolitik.

Masterpläne von Städten, Kommunen und Bundesländern

Wer in der Vergangenheit Beispiele für das Fahrrad als wichtigen Verkehrsträger und eine erfolgreich eingeleitete Mobilitätswende sehen wollte, der schaute bis vor wenigen Jahren fast ausnahmslos auf wenige Länder und Städte, darunter Amsterdam, Barcelona und natürlich immer wieder Kopenhagen. Das hat sich, auch wenn es von weiten Teilen der Öffentlichkeit in Deutschland nur als Randnotiz wahrgenommen wird, inzwischen radikal geändert. Die formulierten Ziele werden umgesetzt und die Mobilitätswende vollzieht sich sichtbar in vielen Ländern und hier primär in den Städten mit bis vor Kurzem kaum für möglich gehaltener Konsequenz und schnellen Schritten.

Die Aktion »Aufbruch Fahrrad« war ein gelungener Startschuss für mehr Radverkehr in den Städten von NRW und weit darüber hinaus.

Von den skandinavischen Ländern über Frankreich bis nach Spanien und Italien lassen sich enorme Veränderungen beobachten, mit großen Metropolen wie Paris, Barcelona oder Mailand als weithin sichtbare Leuchttürme. Überall werden Strategien und Leitlinien erarbeitet und Maßnahmen umgesetzt, mit denen die Städte resilienter gegen Hitzewellen und Hochwasser, lebenswerter, grüner und klimaneutral werden wollen. Und selbstverständlich spielt hier auch das Fahrrad eine wichtige Rolle. Für die Organisationssoziologin Dr. Ute Symanski, die den Kölner Kongress Radkomm und die Volksinitiative Aufbruch Fahrrad NRW mitinitiiert hat und prägt, ist das Fahrrad »das einzige Verkehrsmittel, das die Stadt schnell und kostengünstig vor schlechter Luft, Stau, Verkehrschaos und Verkehrstoten bewahren und alle Mobilitätsprobleme lösen kann«. Ihre nach wie vor feste persönliche Überzeugung: »Nur das Fahrrad kann die Städte retten!«
Nicht zuletzt aufgrund der beharrlichen konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Land Nordrhein-Westfalen entsteht im größten deutschen Bundesland gerade ein Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz. Das erklärte Ziel lautet, den Radverkehrsanteil auf 25 Prozent zu bringen und ihn damit mehr als zu verdoppeln. Mit großer Zustimmung der Parteien und massiver Unterstützung aus den Kommunen vollzieht sich damit in der Politik ebenso ein Wechsel wie bei den Rahmenbedingungen und absehbar in den Städten und Kommunen selbst. Ein Aktionsplan der NRW-Landesregierung soll die Maßnahmen spezifizieren und dafür sorgen, dass das Gesetz auch angenommen und umgesetzt wird. Die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS) wird die Kommunen bei der Umsetzung des Gesetzes nach den Plänen der Regierung maßgeblich unterstützen und ihre Kompetenzfelder erweitern. Dazu Christine Fuchs, Vorstand der AGFS: »Das Land hat mit dem Gesetz ein politisches Statement für den Radverkehr gesetzt. Es hat gewissermaßen den Boden bereitet. Wir müssen ihn nun gemeinsam mit dem Land und den Kommunen bestellen.«
Auch wenn in Deutschland die Augen in Bezug auf die Mobilitätswende bislang vor allem auf Städte wie Berlin, Hamburg, Bremen lagen, hat laut Radkomm-Vorständin Ute Symanski NRW die Chance, Vorreiter in Sachen moderne Verkehrspolitik zu werden. »Alle Kommunen, die eine andere Mobilität wollen, haben dafür nun mehr Spielraum.« Nordrhein-Westfalen könnte mit seinem Mobilitätsgesetz nach Berlin zu einer weiteren Blaupause werden und lokale Initiativen und Radentscheide darin bestärken, dass Veränderungen möglich und machbar sind. In vielen Städten gibt es bereits klare Pläne. Auch im Süden der Republik gehen viele Städte und Kommunen entschlossen in Richtung Transformation und Mobilitätswende. München ist beispielsweise gerade dabei, eine von der Öffentlichkeit mitgestaltete »Mobilitätsstrategie 2035« zu verabschieden, als »strategisches Dach für die weitere Umsetzung in konkreten Teilstrategien«. Auch hier lautet das Ziel: Klimaneutralität bis 2035.

Wie kann es schnell weitergehen?

Für schnelle Lösungen plädiert Prof. Dr. Angela Francke von der Universität Kassel, die eine der sieben vom Bund neu eingerichteten Stiftungsprofessuren für Radverkehr angenommen hat. »Wir haben keine Zeit mehr, noch 20 Jahre zu warten.« Auch wenn wir für einige Zwecke weiterhin auf das Auto angewiesen seien, benötigten wir auch alternative, zuverlässige Wegeketten und auf Kurzstrecken viel mehr gesunde, aktive und klimafreundliche Mobilität. Die Technologien und Produkte dafür seien ja mit Fahrrädern, E-Bikes, Lastenrädern oder E-Scootern längst vorhanden. Problematisch wird es natürlich mit Blick auf die Infrastruktur. »Das Planen und Bauen dauert viel zu lang, es ist teuer und zuletzt haben wir im Straßenraum oft gar nicht die nötige Breite«, sagt Prof. Dr. Markus Friedrich, der den Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik an der Universität Stuttgart leitet und für den Raum Stuttgart in Workshops und Analysen verschiedene Szenarien künftiger Mobilität untersucht hat. Seine Erkenntnis: »Wir schaffen es nicht, die Infrastruktur bereitzustellen, die sich Radfahrer wünschen.« Deshalb brauche es einen Kompromiss zwischen Auto und Rad. Eine schnelle Lösung brächte aus seiner Sicht eine Geschwindigkeitsreduzierung in den Städten mit Tempo 40 statt 50 km/h auf den Hauptverkehrsstraßen und Tempo 25 in allen Erschließungsstraßen.

»Nur das Fahrrad kann die Städte retten!«

Ute Symanski

Zusammen mit den niedrigeren Geschwindigkeiten gäbe es Überholverbote von einspurigen Fahrzeugen auf Tempo-25-Straßen. Damit würde einerseits eine gute Situation für Radfahrende, Lastenradverkehr und die Mikromobilität geschaffen, andererseits müssten so Parkplätze nur in einem geringen Umfang zurückgenommen werden.
Für mehr Freiheiten, die Regelgeschwindigkeit in den Städten und Kommunen abzusenken und damit unter anderem mehr objektive und subjektive Sicherheit für Radfahrende zu erreichen, was gerade für unsichere Radfahrende und Neueinsteiger wichtig ist, plädieren seit langer Zeit viele Expertinnen und Experten. Inzwischen hat sich auch der Deutsche Städtetag, der die Kommunen vertritt, hinter die Forderungen gestellt. Im Juli 2021 startete dazu die Initiative »Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten«, organisiert von der Agora Verkehrswende mit Beteiligung des Deutschen Städtetags. Wie groß das Interesse und der Bedarf sind, zeigt der Zuwachs, den die Initiative verzeichnet. Nach anfänglich sieben Initiativstädten sind es rund ein halbes Jahr später bereits 90 Städte und Gemeinden quer durch die Republik, die sich der Initiative angeschlossen haben.

Maßnahmenpakete sind bereits geschnürt

Auch der ADFC setzt sich für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ein und hat dabei eine einheitliche Regelung für alle Städte und Gemeinden durch ein Bundesgesetz im Blick. Die Argumente des Fahrradclubs: Tempo 30 rettet Menschenleben, verbessert das Verkehrsverhalten, mindert den Verkehrslärm, schafft lebenswerte Städte und Gemeinden und beeinflusst nicht zuletzt auch die Verkehrsmittelwahl. Radfahrende reagieren sensibel auf ihr Verkehrsumfeld. Das allerdings wird bislang negativ wahrgenommen. Nach den Erhebungen des Fahrradmonitors gibt fast die Hälfte der Radfahrerenden an, sich nicht sicher zu fühlen, wenn sie mit dem Rad im Straßenverkehr unterwegs sind. Viele von ihnen fühlen sich durch hohe Kfz-Geschwindigkeiten regelrecht bedroht, vorwiegend dort, wo es keine separaten Radwege gibt. Sie weichen daher oft auf andere Bereiche wie Gehwege aus oder nutzen lieber andere Verkehrsmittel.
Wie geht es also konkret weiter mit dem Radverkehr in den Städten? »Wir müssen uns als Erstes da­rüber klar werden, dass die Mobilität und der Verkehr der Zukunft kein Zufall ist«, betont Prof. Friedrich. »Wir bekommen die Zukunft des Verkehrs, die wir wollen.« Um weiterzukommen, gehe es darum, Ziele zu definieren und einen Zusammenhang herzustellen zu möglichen Maßnahmen, mit denen diese Ziele dann auch erreicht werden. Zum Maßnahmen- und Lösungskatalog werden mehr Radverkehr und Nahmobilität in den Städten in allen Facetten als integraler Bestandteil unabdinglich dazugehören.

3. März 2022 von Reiner Kolberg

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