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Besser als nackte Haut: aktuelle Radbekleidung ist nicht nur atmungsaktiv, sondern wirkt im Idealfall leistungssteigernd.
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Report - Ergonomische Radbekleidung

Textile Tempomacher

Nicht nur besser aussehen, sondern zusätzlich noch schneller auf dem Rad sein: Ergonomische Radbekleidung verspricht viele Vorzüge, fristet aber dennoch bisher ein Nischendasein. Ein Überblick über den Status quo und das brachliegende Potential.

Weniger Sitzpolster ist mehr Komfort – laut SQlab gilt das zumindest für längere Ausfahrten.Besser als nackte Haut: aktuelle Radbekleidung ist nicht nur atmungsaktiv, sondern wirkt im Idealfall leistungssteigernd.Die passende Radbekleidung macht für Athleten das Fahrerlebnis erst zum Genuss.Zum ergonomischen Radfahren gehört inzwischen ergonomische Radbekleidung dazu.Ergonomie auf dem Rad bedeutet viele kleine Faktoren zu berücksichtigen.

Ein Radschuh, der zu groß ist, ein Handschuh, dessen Finger zu lang sind – beides würde ein Kunde nicht kaufen. Denn ganz offensichtlich passen sie nicht. Anders bei der Fahrradbekleidung. Hier greifen Radfahrer gerne mal zu Trikots, die nicht ganz so körpernah geschnitten sind. Sei es, weil sie den Bauchansatz kaschieren möchten oder eine enge Pelle einfach für unbequem halten. Genau das Gegenteil ist aber der Fall: Radbekleidung mit guter Passform ist komfortabler als locker flatternde und ergonomischer noch dazu. »Im Idealfall kann Rad- und Triathlonbekleidung leistungssteigernd wirken«, sagt beispielsweise Berhard Plainer von Castelli. Zumindest aber unterstützt sie den Sportler bestmöglich bei der Ausübung seines Hobbys. Denn Ergonomie bedeutet bestenfalls, dass über das Werkzeug Textil »die Bedingungen an den Menschen angepasst werden«, wie es Nis Sienknecht von Fe226 ausdrückt. Im Fall von Fahrradbekleidung heißt das, dass sie die Luft möglichst geschmeidig vorbeiströmen lässt und dass sie die Bewegung unterstützt, also die Muskulatur bestmöglich arbeiten lässt, dem Körper bei der Temperaturregulierung hilft und Druckstellen, zum Beispiel im Sattelbereich, abfedert.

Luft liebt es faltenfrei

Grundlage dafür ist die entsprechende Passform. So haben die Aerodynamikexperten von Swiss Side in Windkanaltests herausgefunden, dass zwischen einem locker sitzenden Trikot mit kurzen Ärmeln und einem körpernah geschnittenen Modell mit über den Oberarm verlängertem Arm eine Ersparnis von zehn Watt bei 35 km/h über eine Strecke mit 100 Kilometern und 1.500 Höhenmetern möglich ist. Das ergäbe fast drei geschenkte Minuten. Ein Windkanal-Test des Magazins RennRad aus dem Jahr 2019, in dem die Redaktion verschiedene Aero-Rad-trikots mit einem Standard-Trikot verglich, bescheinigte der besten Aero-Bekleidung sogar eine 3,6-mal höhere Wattersparnis (28,3 Watt) gegenüber dem Standard-Trikot als mittels der besten getesteten Aerolaufräder (7,7 Watt) gegenüber einem Standard-Laufradsatz möglich wäre. Vor allem außen an den Schultern und an den Seiten des Rumpfs ist ein faltenfreier Sitz der Radbekleidung wichtig, da dort die Luft vorbeiströmt – was sie möglichst verwirbelungsfrei tun können sollte. Jede Stofferhebung bremst, erstaunlicherweise gilt das ebenso für nackte Haut. Die möge Luft überhaupt nicht, erklärt Swiss-Side-CEO Jean-Paul Ballard in einem Video auf der Firmen-Webseite.

Im Idealfall kann Rad- und Triathlon­bekleidung leistungs­steigernd ­wirken.Berhard PlainerCastelli

Kleine Verbesserungen, große Veränderungen

Um der Luft den Weg am Athletenkörper vorbei zu ebnen, setzen die Hersteller nicht nur auf körpernahe Passform, sondern auch auf verschiedene Textil-Technologien und Ausrüstungen. Auf den ersten Blick mag sich hier nicht viel getan haben, bei genauerem Hinsehen gibt es viele kleine ­Verbesserungen in puncto Ergonomieoptimierung. Verbesserte Verar­bei­tungsverfahren wie Varianten von Weben oder Stricken, neue Möglich­keiten der Treatments wie ColdBlack, antibakterielle oder (z. B. für Triathlon­bekleidung) wasserabweisende Ausrüstungen und sehr viel stärker ausdifferenzierte Fasern haben einiges verändert. »Außerdem können wärmende oder kühlende Eigenschaften, Kompression, Schweißtransport, Windblocker, Muskelsupport und noch viel mehr mittlerweile gezielt in einzelnen Zonen der Bekleidung eingeplant und untergebracht werden«, zählt Nis Sienknecht auf, dessen Meinung nach die Branche hier erst am Anfang steht. Fe226 arbeitet zum Beispiel mit »patentierten, schnelltrocknenden Stoffen, mit 4-Way-Stretch, hoher Dehnbarkeit, Schweißtransport, stützender Kompressionswirkung, UV-Schutz und thermoregulierendem ColdBlack«, zählt Nis Sienknecht auf. Bioracer ­rüstet seine Trikots außerdem an aerodynamisch günstigen Stellen mit Airstripe aus. Das ist ein elastisches, atmungsaktives Gewebe, dessen Streifen die Luft besser vorbeiströmen lassen und dadurch die aerodynamische Effizienz erhöhen sollen. Bioracer, ebenso wie Ryzon, Ausrüster u.a. des Profi-Triathleten Jan Frodeno, der 2019 die Ironman-Weltmeisterschaft auf Hawaii in Rekordzeit gewann, verwenden den ein bis zehn Atomarschichten dünnen Werkstoff Graphene zum Beispiel, um »Eis-Kälte von den eingearbeiteten Taschen über den gesamten Körper hin zu Stellen zu leiten, wo Kühlung elementar ist, beispielsweise den Hauptschlagadern der Beinarterien«, erklärt Ryzon-Mitgründer Markus Konrad. Ein Effekt, den inzwischen auch einige wissenschaftliche Studien erkannt haben wollen. Zusammengeführt mit ­Schnitten, die die Haltung auf dem Rad schon vorweg­nehmen, gehen die Materialien flexibel in der Tretbewegung mit. Denn auch, wenn der Kraftaufwand verschwindend gering erscheint, den es braucht, um die Radhose an den Beinen mitrotieren zu lassen: »Selbst wenn man das bisher nie gespürt hat und ein paar Millimeter im ersten Moment wenig erscheinen: bei 90 Umdrehungen pro Minute kommt über 50 Kilometer schon eine beachtliche Anzahl von Bewegungsausführungen zusammen«, gibt Fe226-Mann Sienknecht zu bedenken.

Das Herz der Radhose

Spätestens hier wird es auch für Hobbyradsportler interessant, die nicht wettkampforientiert unterwegs sind und für die eine Leistungssteigerung nicht ganz oben auf der Prioritätenliste steht, um die letzten Prozente herauszuholen. Denn gerade, wer nicht ganz so gut trainiert ist, kann mit optimierter Bekleidung bei gleichem Energieaufwand schneller und/oder länger unterwegs sein. Für diese Klientel zählt auch, wie lange sie beschwerdefrei fahren kann. Neben dem Trikot kommt (nicht nur) im Hobbybereich dem Sitzpad in der Radhose eine große Bedeutung zu. Am Sattel liegt unabhängig vom Biketyp die flächigste Verbindung zwischen Mensch und Fahrrad vor. Laut Deutscher Sporthochschule Köln ist das Gesäß der Körperteil, der beim Radfahren am häufigsten schmerzt, da ein Großteil des Fahrergewichts darauf lastet. »Der Komfort auf dem Sattel wirkt sich auf die Leistung aus. Diskomfort führt zu Schutzhaltungen, zunächst ganz unbemerkt und bewusst kaum steuerbar. Diese muskulären Verspannungen führen dazu, dass der Biker fahrtechnisch weniger locker und geschmeidig fährt, sondern eher verkrampft. Für den Vortrieb fehlt dann diese Energie. Das Sitzpolster kann hier eine entscheidende Rolle spielen«, erklärt Tobias Hild von SQ Lab. Birgit Schlaak von Bioracer bezeichnet es sogar als »Herzstück der Radhose«, das die Leistung stark abfallen lassen kann, wenn es drückt oder scheuert.
Die Hersteller versuchen auf unterschiedliche Weise, diesem Phänomen beizukommen. Bioracer reagiert darauf zum Beispiel mit patentierten Sitzpolstern mit flacher Oberfläche, um Reibung zu reduzieren, einem nahtlosem Übergang zum Hosentextil und »Dimple-Toplayer«, einer luftstromspezifischen Technologie, die den Kontaktbereich reduzieren und die Luft besser zirkulieren lassen soll. Die Ergonomie-Experten von SQ Lab setzen dagegen auf Reduktion: »Wir haben einfach einmal komplett neu gedacht und zunächst ganz simpel aus den weichen, dicken Polstern, sehr hochwertige harte und dünne gemacht. Wir alle wissen, dass auf langen Strecken der straffe Sattel deutlich besser funktioniert als ein dicker weicher. Dadurch konnten wir den Komfort erhöhen und darüber hinaus auch noch das Gewicht reduzieren und die Optik deutlich verbessern. Da Scherkräfte, hervorgerufen durch die Tretbewegung, für einen sehr großen Teil der Schmerzen an den Sitzknochen verantwortlich sind, haben unsere MTB- und unsere Unterziehhose zudem ein dünnes TPE-Gelpolster.« Fe226 entwickelt gezielt Sitzpolster, die auf die am häufigsten genutzten Sättel angepasst sind, und testet mit Partnern wie gebioMized, ob die Druckverteilung so ausfällt wie gewünscht. »Hier und auch an den Schnittstellen Pedale, Lenker und Armpads gibt es ganz sicher noch Potenzial, Radbekleidung neu zu denken«, ist Nis Sienknecht überzeugt.

Der Komfort auf dem Sattel wirkt sich auf die Leistung aus. Dis­komfort führt zu Schutzhaltungen, zunächst ganz unbemerkt und bewusst kaum steuerbar.Tobias HildSQ Lab

Über Emotion zu Funktion

Zunächst einmal gilt es aber für Hersteller und auch für den Radhandel, das bereits erschlossene Potenzial an den Radfahrer und die Radfahrerin zu bringen. »Es ist verblüffend, wie wenig Wert viele Triathleten auf gut passende Radbekleidung legen«, sagt Bernhard Plainer von Castelli. Sienknecht bezeichnet ergonomische Bikewear nach wie vor als Nische und hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Kunden noch immer hauptsächlich nach Preis und Optik kaufen. Eine Beobachtung, die Markus Konrad von Ryzon bestätigt, jedoch als Chance betrachtet: »Ansprechendes Design kann die emotionale Entscheidung für ein ergonomisches Produkt sein, so lässt sich beides verbinden«, glaubt er. Auch wenn dies einen etwas höheren Preis bedeutet. Es gehört zu den Aufgaben von Handel und Industrie, dem Kunden zu vermitteln, warum das Preisschild bei entsprechender Umsetzung der Kleidungsstücke durch den ­Hersteller durchaus gerechtfertigt ist. Versteht dieser die Vorteile ergonomisch durchdachter Bikewear, können am Ende alle zufrieden sein: Radsportler, Radhändler und Bekleidungshersteller.

3. März 2020 von Carola Felchner

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