Report - Cortina
Trittst du noch oder radelst du schon?
Zwolle, Niederlande. Schon von der Autobahn aus kann man den riesigen Industriebau sehen. Zig Lkw-Buchten breit, 10.000 Quadratmeter Fläche groß, darin jede Menge Förderbänder und wuselige Angestellte, die auf Basis ihrer Kopfhörer-Ansagen Ware kommissionieren und Pakete abpacken. Kruitbosch ist einer der wichtigsten Großhändler für Fahrradzubehör in den Niederlanden mit 14.000 Artikeln im Angebot. Ein echtes Imperium. Und seit 2006 die Heimat einer erfolgreichen Fahrradmarke.
Wir stehen im 400 Quadratmeter großen Anhängsel des gewaltigen Flachbaus, einem angenehm unaufdringlichen Showroom für Cortina-Räder und -Zubehör. Es wirkt ein bisschen wie ein schicker, angenehm unprätentiöser Fahrradladen. Am modernen Design der Räder fällt vor allem auf: Die Rahmenfarben sind nicht alltäglich, wirken ausgesucht. Und das Design und die Farbe der Komponenten harmonieren damit.
Wie entsteht eine urbane Marke mit Fokus auf Design?
Am Anfang war das holländische »Transportfiets« – für Deutsche: Das Hollandrad mit stabilem Träger. »Das war schon immer das Lieblingsrad der Niederländer«, erzählt Wilco Kruitbosch, der auch einer der drei Geschäftsführer des gleichnamigen Unternehmens ist. Entspannt aufrecht sitzen, auf ebener Topografie kurze und mittlere Strecken unterwegs – das mag man in den tellerflachen Niederlanden. »Aber nur die ältere Generation konnte sich früher wirklich mit den Rädern identifizieren«, so Kruitbosch. »Für Menschen zwischen Ende 20 und 50 Jahren war es eine rein rationale Entscheidung für ihre Art von Mobilität. Wer als junger Mensch Hollandrad fuhr, tat das aus Vernunftgründen. Emotional war das nicht.« Und daher schlummerte noch viel Potenzial darin. Bis sich das Unternehmen vor zehn Jahren Gedanken machte, »die Lifestyle-Vorstellungen der Jüngeren aufs Fahrrad zu bringen.« Mit Farben und Formen, die zu ihrer Welt passen. Heute ist Cortina in der Heimat Marktführer in Sachen »schickes Hollandrad«. Mit ein paar neuen Farben war das aber noch nicht getan. Deshalb sind die Designer-Schmiede StudioMOM, die wir noch kennenlernen werden, und Atran – ein großer Anbieter für Bike-Körbe und -Trägersysteme – von Anfang an dabei, ergänzt Kruitbosch.
Wenn Gestalter, der erfahrene hauseigene Ingenieur und der Spezialist für pfiffige Transportdetails am Velo zusammenarbeiten, dann hat das Ergebnis gute Chancen, in einer design- und fahrradbegeisterten Nation wie den Niederlanden Fuß zu fassen. Für das Common, mit dem seit 2017 nun auch die Altersgruppe von 18 bis 30 Jahre für den Bike-Lifestyle begeistert werden soll, ist man funktional neue Wege gegangen. Auffälliges Feature: der saubere, wartungsfreie Riemenantrieb der gehobenen Modelle. Urban bedeutet bei Cortina auch: robuste Nabenschaltungen und wartungsfreie Rollenbremsen. In Deutschland sind letztere heute allerdings weitgehend ausgestorben – im Gegensatz zum flachen Holland. Die E-Bikes kamen relativ spät dazu – erst vor gut vier Jahren entschied man sich in Zwolle, auch aufs Rad mit Unterstützung zu steigen. Zuerst mit nur wenigen Modellen, die »sehr dem Mainstream entsprachen und sich wenig von Wettbewerbern unterschieden«, erklärt uns Katja Nefzer, für die Kommunikation des Unternehmens zuständig. Der Erfolg ließ zunächst auf sich warten. Aber auch hier zeigte sich mit neuen Modellen: Design zählt in Holland! Und natürlich, wie überall, der Preis. Besonders die Zielgruppe bis 45 spricht auf die neuen E-Bikes von Cortina an. »Darin sehen wir auch unser größtes Potenzial«, so Nefzer. »In den Niederlanden gehören wir zu den E-Bike-Marken, die in den letzten Jahren am stärksten gewachsen sind!« Kruitbosch fügt hinzu: »Wer den Markt für Jüngere bedienen will, muss beides beherrschen: Unsere E-Bikes sind nicht nur hipp, sondern auch bezahlbar.« Tritt man einmal einen Schritt zurück und nimmt die Branchen-Scheuklappen von den Augen, bemerkt man: das ist das Ikea-Konzept. Gut geformte, praktische Dinge, von renommierten Designern für junge und junggebliebene Menschen entwickelt und bezahlbar.
Cycling is Fashion
Design und Lifestyle als ein zentrales Verkaufsargument also, wie der frühere zentrale Slogan von Cortina verdeutlicht. Aber wie kann man »planen«, dass das Rad oder E-Bike der Klientel gefällt? Wir besuchen das StudioMOM, eine Design-Schmiede im niederländischen Arnheim. »Es geht beim Fahrrad um Identität!«, sagt Designer Mars Holwerda wie selbstverständlich. Was der Mann mit den langen, lockigen Haaren meint, versteht man nach wenigen Augenblicken in seinem Atelier, das mit vielen anderen Unternehmen in einem großzügig angelegten alten Schulgebäude Platz fand. Die mobilen Wände, die den halboffenen Arbeitsraum des Studios definieren, sind voll mit Mood Boards: Entwürfen, Zeichnungen, kolorierten Beispielen und atmosphärischen Bildern von urbanen Bikes und E-Bikes. Farbe und Form im urbanen Umfeld: Wie sehe ich mich als Radfahrer selbst – oder eben: Was ist meine Velo-Identität? Wie will ich in der City unterwegs sein, was finde ich cool, was brauche ich für meine Mobilität? Vor der Längsseite des langen Studio-Tisches steht das Common, Modell 2018 – die neueste Kreation, von den derzeit noch geheimen 19er Modellen abgesehen. Holwerda ist Product Designer mit Hang zu Fashion und Gründer und Chef von StudioMOM. In seinem Portfolio finden sich Aufträge von Partnern wie Bosch und Siemens, aber auch Chanel oder Maxi Cosi. Genau der richtige Partner für eine Fahrradmarke, die den Fokus auf Design legt. Von der Übernahme der Marke Cortina durch das holländische Familienunternehmen Kruitbosch an, also seit etwa 10 Jahren, sorgt der Designer mit seinem Unternehmen für den Auftritt der Cortina-Räder. Holwerda erklärt, wie das neue Cortina Common entstanden ist: »Die Zielgruppe ist natürlich der Ausgangspunkt für uns: Alter, Lebenswelt, Lebensweise, Anspruch an Produkte, Mobilität.« Um Technik geht’s zunächst vor allem mit der Frage: Was erwartet dieser Mensch von seinem Fahrrad oder E-Bike? Vom Start weg dabei ist Designerin Chantal Rouw. Ihr Metier: Die Farben und ihre atmosphärische Einbettung. Sie kann sich auf Vorarbeit stützen: StudioMOM betreibt zusammen mit Brandmanager Wilco Kruitbosch Farbtrendforschung. Chantal Rouw sammelt Farbtöne wie andere glänzende Kastanien. Nicht nur Farben für den Rahmen. Auch für Griffe, selbst für die Reifen der neuen Räder werden die Farben fein aufeinander abgestimmt. »In unseren Rad-Kollektionen gibt es meist 15 bis 20 Farbtöne«, erklärt sie. Da können in Deutschland nur Hersteller am oberen Ende der Preis-Range mithalten. »Kein Wunder«, meint Katja Nefzer. Sie sieht den Design-Bedarf der Holländer auch gesellschaftlich begründet: »Deutschland ist, was Lifestyle angeht, einfach ein bisschen hinter den Niederlanden. Denn hier lebt man Fahrrad – oder E-Bike!« Doch weiter: Der Rahmen wird in Zusammenarbeit mit Cortina-Ingenieuren konzipiert. Form, Verwindungssteifigkeit, Geometrie und spezielle Features für den jeweiligen Einsatz – wie zum Beispiel der klassische Front-Gepäckträger für Aktentasche oder Korb. Er ist schon im Grundentwurf enthalten. Nimmt das nach einigen Zwischenergebnissen, die diskutiert werden, konkrete Formen an, wird ein 1:1-Modell aus Spezial-Schaumstoff angefertigt. Doch schon vorher ist immer wieder der Rahmenbauer dabei, um auch die reellen Chancen für die Serienproduktion des Rahmens abzuchecken. Übrigens hätten wir das Modell nicht nur auf den ersten Blick für ein fahrbares Rad gehalten…
Kids welcome!
Rahmenform und -farbe und die Farben der Komponenten müssen perfekt zusammenstimmen, Feintuning entscheidet alles. Dann gibt es den ersten Prototypen – inklusive aller Komponenten und besonderen Details: Bei der Luxusvariante des Common, ein eher »jugendliches Hollandrad« mit zwei Trägern für die City, gibt’s zum Beispiel einen Vorbau mit integriertem USB-Port. Handy laden per Pedal? In Kombi mit dem Nabendynamo wird das auch am Bike ohne Motor möglich. Die Rahmen aller Räder kommen derzeit noch aus Asien; bei Kruitbosch arbeitet man aber daran, bald in Europa produzieren zu können – zur Debatte steht Portugal. Assembliert wird schon in der EU, unter anderem in Tschechien. Und die E-Unterstützung? Verbaut wird im Einsteigerbereich mit dem Bafang H400 43 V ein Frontmotor – ganz entgegen der aktuellen deutschen Marktgewohnheiten. Das ist sicher unter anderem ein Zugeständnis an den starken Wettbewerb im günstigen Bereich, aber auch der Tatsache zu verdanken, dass E-Bikes in Holland kaum je über stärkere Steigungen als Grachtenbrücken rollen. Der Standard-Akku leistet 340 Wattstunden. Weil das, mit hohem Unterstützungsgrad genutzt, auch in den Niederlanden für Langstrecken nicht reicht, gibt es den Antrieb auch mit 450 und satten 750 Wattstunden. In Sachen Stromquelle ist die Integration allerdings derzeit noch vergleichsweise zurückhaltend: Die Batterie sitzt grundsätzlich unter dem Gepäckträger. Einstiegspreis: gerade einmal 1199 Euro für das Cortina E-U1 mit Dreigang-Nabenschaltung und klassischer Hollandrad-Geometrie. Ein Preis, der voraussetzt, dass die Kruitbuschs auch sehr gute und sparsame Einkäufer sein müssen.
Im neuen Highlight, dem schicken E-Octa ist der Bafang-Mittelmotor M400 harmonisch in den Rahmen integriert. Er bietet mehr Drehmoment und das Mittelmotor-typische, natürliche Hybrid-Gefühl. Die Preis-Range beginnt hier mit der Siebengang-Nabenschaltungsversion bei 1899 Euro. Ein Akku-Upgrade von 350 auf 450 Wattstunden kostet 150 Euro. Das E-Octa mit speziellen Ergo-Griffen, Federsattelstütze und weiteren Komfort-Extras liegt bei 2199 Euro.
Ob E-Bike oder Velo: Funktionalität durch Zusatzkomponenten ist für die Cortina-Macher besonders wichtig – wie etwa die einfache Klick-Befestigung für den Fahrrad-Rucksack aus eigenem Haus. Selbst entwickelte Adapter halten ihn am Träger fest. Bei vielen hauseigenen Taschen und Körben setzt man bewusst auf Nachhaltigkeit und Recycling-Fähigkeit – aber das ist für das Haus Kruitbusch nach eigenen Angaben schon selbstverständlich.
Und die Zukunftspläne: Ein Knaller soll das ultimative Smartbike für die Stadt werden – mit Bordcomputer für Navigation, Tracking und Diebstahlschutz und Alarmfunktion. Klar, das gibt es schon, allerdings dürfte auch dieses Konzept bei Cortina in einem Preisbereich stattfinden, bei dem deutsche Unternehmen nur den Kopf schütteln können. Und gerade plant man mit etwas ganz Neuem vorneweg zu gehen. »Wir werden das E-Bike für Kinder bringen«, erklärt Wilco Kruitbosch lapidar. Das sitzt, und die Erklärung auch: Wenn im Fahrradland Holland die Eltern auf E-Bikes vorausfahren, um die Kinder in die Schule zu lotsen, brauchen die Kids natürlich auch E-Power. Für Kinder von 10 bis 12 Jahren sind die ersten Prototypen bereits unterwegs. Wenn die richtig laufen, geht’s so weiter: In Zwolle gibt es bereits Konzepte zu E-Bikes für ab Achtjährige.
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