Report - Forschung & Entwicklung
Viele Orchester für das Neue
Manchmal fehlt nur ein Tubaspieler, manchmal der Dirigent – und manchmal fast das gesamte Orchester. Manchmal geht es um eine neue Sinfonie, manchmal um das Covern bekannter Partyhits mit einem neuen künstlerischen Twist. Und manchmal steht das Ensemble schon im Proberaum, arrangiert die Noten für die Konzertserie im nächsten Winter, doch der kritische Choreograph wirft einen Einwand in den Raum und alles wird noch mal neu aufgezogen. So oder so ähnlich geht es zu, wenn Fahrradhersteller, externe Dienstleister und Produzenten in Fernost an neuen Rädern oder ganz neuen Fahrzeugklassen tüfteln. Es geht dann zwar nicht um Musik, aber die Abstimmung von persönlichen Rollen, Tönen und Zusammenarbeit ist ein komplexes, immer wieder herausforderndes Unterfangen.
Die sichtbaren Ergebnisse entstehen in einem hochkomplexen Zusammenspiel von Spezialisten im Hintergrund, über das selten geredet wird: Fahrradfirmen, Produktionsbetriebe meist in Fernost, Zulieferer mit ihren eigenen Entwicklungen und externe Agenturen für Design- und Ingenieurdienstleistungen arbeiten Hand in Hand an der nächsten Generation einer Modellserie oder sogar dem ganz großen Schub in einer Mobilitätsklasse. Vier Unternehmen, die als Dienstleister im Markt daran mitwirken, dass kleine Verbesserungen und neue Produktinnovationen vom Wunschstadium zur Marktrealität werden, geben einen Einblick in ihre Arbeit: Artefakt aus Darmstadt, Idberlin aus der deutschen Hauptstadt, Motion Pioneers aus dem bayerischen Warngau und EBDC aus München, das zu 100 Prozent der österreichischen Firma Kiska gehört.
Fein abgestimmtes Orchester braucht den Dirigenten
Das Bild vom Orchester, das sich je nach Ansprüchen und dem musikalischen Geschmack des Kunden erst zusammenfinden muss, stammt von Norbert Haller, Geschäftsführer von Idberlin. Das Unternehmen versteht sich als Partner für das Design von E-Mobilitätslösungen. Idberlin firmiert als Design-Unternehmen, wobei sich die Zusammenarbeit mit den Firmen aus der Rad- und Automotive-Branche nicht nur auf die Optik bezieht. »Industriedesign und Konstruktion sind beim Fahrrad nicht voneinander zu trennen. Es geht immer um tragende Teile, und je mehr man sich mit dem Detail befasst, desto mehr geht es auch um technische Lösungen, die man entweder selbst finden oder im Markt organisieren muss«, erklärt Haller. So kann es sein, dass Kunden nur das Design für ein neues E-Mountainbike wünschen, sich im Nachhinein aber herausstellt, dass technische Lösungen für eine ganze Palette an Fahrzeugen besser wären.
Die Entwicklung eines neuen Produkts ist eine aufwendige Angelegenheit, für die viele verschiedene Fäden zusammengeführt werden müssen.
»Da wir enorm vernetzt sind, kennen wir die Möglichkeiten von Komponenten und Bauteilen aus dem Katalog im Markt. Das ist wichtig, wenn es ums Realisieren von Produktwünschen geht«, erklärt Haller. Das Bild vom Orchester passt: Verschiedene Projekte erfordern ganz unterschiedliche Instrumentalisten, und manchmal kommen die Spieler nicht nur aus dem einen Unternehmen und der Agentur, sondern aus einem größeren Netzwerk. Mal geht es tatsächlich nur darum, ein Fahrrad basierend auf einer Spezifikationsliste des Herstellers zu designen. Dann aber wieder geht es ins Engineering, ins Testen, sogar auch ins Produktmanagement im Auftrag der Firma, unter deren Label die Räder am Ende im Geschäft stehen werden. Oft ist es sogar so, dass die Agenturen in Europa die Schnittstelle zu den Fabrikanten in Fernost bilden und gemeinsam mit diesem Partner noch so lange Anpassungen vornehmen, bis das Produkt reif für die Serienproduktion ist.
Viele, auch renommierte Fahrradhersteller setzen regelmäßig auf die Assistenz der externen Agenturen, um ihre Produkte weiterzuentwickeln oder neue Wege zu beschreiten. Die Ausgangslagen sind sehr unterschiedlich. So hat Clemens Oertel von Motion Pioneers regelmäßig Aufträge von großen Firmen, bei denen die Produktmanager eine Serie überarbeiten lassen wollen oder feststellen, dass im Portfolio noch ein bestimmter Fahrzeugtyp fehlt. Diese Firmen setzen aus einer Vielfalt an Gründen auf die Zusammenarbeit mit externen Partnern. »Wir kennen uns sehr gut im Markt aus und stecken nicht in denselben Strukturen wie interne Abteilungen und Mitarbeiter«, sagt Oertel, »deshalb können wir freier agieren und auch kritische oder weiterführende Rückfragen stellen.« So wird aus dem Wunsch nach einem überarbeiteten E-Mountainbike fürs übernächste Jahr mitunter auch der Anstoß für eine ganz neue Produktplattform, auf der gleich mehrere Modelle des Herstellers entstehen. »So gelingt es uns häufig, statt einer Kompromisslösung gleich mehrere passgenaue Fahrräder an den Markt zu bringen und dabei den Gesamtaufwand der Entwicklungen zu senken«, erklärt Oertel. Meist kommen die Auftraggeber also mit sehr konkreten Anfragen, getrieben auch vom Produktzyklus der Branche. Oertel und sein Team sind nicht nur zum Umsetzen da, sondern auch zum Hinterfragen.
Vielfältiges Aufgabenprofil für Fahrradentwickler
Dann entstehen neue Lösungen, basierend auf den ursprünglichen Wünschen und dem, was der Markt hergibt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit von Artefakt, einer Frankfurter Design-Agentur. Meistens sieht sich auch dieses Team konkreten Wünschen der Hersteller gegenüber, aber es passiert schon, dass Raum für Neuigkeiten aufkommt. So war es in der Zusammenarbeit mit Canyon. »Die haben uns damals nicht gesagt, dass wir ein integriertes Cockpit fürs Rennrad entwickeln sollten – es hat sich vielmehr aus unserer Beschäftigung mit den Möglichkeiten ergeben«, erinnert sich Geschäftsführer Tomas Fiegl. »Wir haben eine Art Challenge gemacht für die Idee des Auftraggebers und gezeigt, dass sich mit einem integrierten Cockpit sowohl die Aerodynamik des Fahrrads verbessern als auch seine Design-Handschrift deutlich ausbauen ließ«, sagt Fiegl. Mit diesem Aero-Cockpit als integriertem Teil des Rads schritt Canyon voran. Seither hat das Koblenzer Unternehmen seine eigenen Kapazitäten für die Entwicklung noch erheblich vergrößert, doch weiterhin wendet sich der Auftraggeber an den Dienstleister, wenn es um eher auffällige neue Designs geht.
Es gibt im Boom der Branche einen Mangel an Fachkräften, und das spüren auch die Hersteller. Clemens Oertel von Motion Pioneers sieht nicht nur deshalb einen festen Platz für Unternehmen wie seins. »In vielen Firmen sind die bestehenden Entwickler mit dem laufenden Geschäft schon stark eingespannt, bei anderen Firmen, etwa Bikesharing-Anbietern, will man gar keine interne Expertise im Fahrradbau schaffen, und wiederum bei einer ganzen Reihe Kunden geht es darum, eine Art verlängerter Werkbank zu unterhalten.« Das ergibt Sinn, denn Externe unterliegen nicht denselben Denksperren wie interne Abteilungen, arbeiten zu flexiblen Kosten und verfügen dank ihrer starken Vernetzung im Markt über sehr viel Übersicht und Kontakte, um auch neue Methoden oder Produktionswege in Angriff zu nehmen. Es gibt aber auch sehr praktische Gründe: Bei Motion Pioneers arbeiten sie regelmäßig in FEM-Simulationen, kennen sich in der Software bestens aus, berechnen dauerhaft Lasten auf völlig unterschiedlichen Fahrzeugen.
Die Arbeit von Clemens Oertel von Moition Pioneers besteht auch aus viel Kommunikation mit Auftraggebern und dem eigenen Entwicklungsteam.
Bei Herstellern dagegen hat das Personal meistens seltener Zeit und Bedarf, sich mit solchen Simulationen zu beschäftigen. Dass Dienstleister zugleich immer vertrauensvoll und diskret arbeiten, versteht sich von selbst, zumal die Beziehungen oft über viele Jahre andauern. Die Agenturen sind zwar bestens über die Entwicklungen im Markt im Bilde, arbeiten auch mit anderen Herstellern und kennen neue Motoren oder Teile, bevor die meisten Marktteilnehmer darüber Bescheid wissen. Doch gibt es hohe Hürden bei der Verschwiegenheit, nicht zuletzt gesichert durch ausgeklügelte »Non-disclosure Agreements«. Die Fahrradbranche ist gut vernetzt und das Einhalten der Geheimhaltung gehöre zur Grundlage einer Zusammenarbeit, sagt Haller von Idberlin. Besonders bei Geschäften mit Automotive-Unternehmen kann es schwerwiegende juristische und finanzielle Folgen haben, wenn vertrauliche Daten in Umlauf geraten sollten.
Große Innovationsschritte sind oft, da sollte man realistisch bleiben, vor allem in Verbindung mit Kapital und Manpower zu haben. Das gilt zumindest, wenn es um einen größeren kommerziellen Erfolg geht. Clemens Oertel von Motion Pioneers nennt gern das Beispiel Specialized. Der Fahrradmulti verfügt über erhebliche eigene Entwicklungsressourcen und Ingenieure, aber auch über die nötigen Vertriebsstückzahlen. So sei es nicht verwunderlich, dass Specialized das leichte E-Bike auf ein ganz neues Niveau gebracht hat. »Fazua hatte ja schon diese Idee und auch ein gutes Produkt, aber die Power und die Marktmacht eines Unternehmens wie Specialized eröffnen bei Innovation ganz andere Möglichkeiten«, sagt Oertel. Wer sich hinter den Kulissen auskennt, weiß, was vor einem sehr innovativen Produkt alles geschehen muss: Es geht um die richtige Einschätzung der Nutzungsart, um Markterkundung, um Design und Ingenieursarbeit, und um die Frage, ob die gewünschte Lösung überhaupt unter betriebswirtschaftlich sinnvollen Bedingungen umsetzbar ist. »Nur wenige Spieler in der Branche haben die Ressourcen, um wirklich ganz große Innovationen und Methoden in den Markt zu bringen«, sagt Oertel. Denn nicht nur die Idee entscheidet, sondern auch die Frage, ob beispielsweise in Fernost ein Produktionsbetrieb in der Lage ist und das Interesse hat, das gewünschte Produkt zu akzeptablen Konditionen zu liefern. Ohne den ständigen Austausch mit Asien ist die Arbeit kaum denkbar. Das gilt auch für Artefakt. »Etwa zehn Prozent Veränderungen stehen immer noch im direkten Austausch mit Asien an«, sagt Tomas Fiegl.
Es passiert durchaus, dass Motion Pioneers oder Idberlin von Newcomern in der Zweiradbranche beauftragt werden und an neuen Lösungen mitwirken. Das war bei Motion Pioneers zum Beispiel bei der Mitarbeit am Bio-Hybrid der Fall, einem mit Schaeffler vorangetriebenen Fahrzeug, das die Welten von Pkw und Pedelec verbinden sollte.
»Etwa 10 Prozent Veränderungen stehen immer noch im direkten Austausch mit Asien an.«
Tomas Fiegl,
Artefakt
Wichtig ist auch, dass diese externen Dienstleister nicht nur über die Ingenieur- und Designpower verfügen, sondern eben auch über Kontakte und die Marktübersicht bei den Produktionsunternehmen. »Die Stückzahlen sind natürlich interessant, wenn es um die Umsetzung von neuen Ideen geht«, sagt Norbert Haller von Idberlin. »Wenn du groß bist, wirst du gut bedient. Wenn du klein bist, manchmal überhaupt nicht.« Damit muss man grundsätzlich rechnen, allerdings besteht dadurch auch ein größeres Problem. Wer als kleinerer Unternehmer wirklich auf eine eigene Produktinnovation setzt, kann keine kleine Order zu vertretbaren Kosten absetzen. Bestellt er aber eine größere Stückzahl und es gibt im Nachhinein ein Problem mit dem Produkt, dann liegt das Lager voll mit speziell angefertigten Teilen. Die Kosten gehen direkt in die Hunderttausende Euro. »So besteht oft eine erhebliche Kluft zwischen der ersten Idee und der Frage, ob das Produkt auch am Markt landen kann«, berichtet Norbert Haller.
Auch Komponentenhersteller sind Innovationstreiber
Dazu kommt, dass die Bikebranche sehr stark von Innovationen bestimmt wird, die oft von Zulieferern getrieben werden. Viele Hersteller müssen diesen aufgrund des Marktdrucks folgen. Kommen SRAM, Shimano, Bosch und Brose mit neuen Schaltgruppen, Bremsen oder Motoren auf den Markt, dann entwickeln Hersteller quasi reflexhaft Produkte um diese Teile. Das kann durchaus bei den fertigen Rädern Innovationsschübe bringen, wie eben die leichten E-Bikes oder mit 1x-Schaltungen ausgestattete Räder. »Die großen Komponentenhersteller wissen, dass bei den smarten Bike-Firmen regelmäßig bessere Produkte aus ihren Neuerungen entstehen«, sagt Clemens Oertel. Alex Thusbass, einer der Wegbereiter des sportlichen E-Mountainbikes, sieht diese Art der Innovation durchaus kritisch: »Anstatt auf bestimmte Teile von Zulieferern hin zu entwickeln, ist es langfristig deutlich effektiver, sich mit neuen Formen der Mobilität zu beschäftigen und neue Fahrzeuge basierend auf diesen Ideen zu entwerfen.« Derzeit allerdings sei der Radmarkt oft mehr von Opportunismus getrieben als von übergreifender Entwicklung an den Gesamtfahrzeugen. Dabei sei es für Hersteller »verdammt wichtig, sich von dieser Denkweise auch ein Stück weit zu befreien«, sagt Thusbass, es gehe um langfristigere strategische Horizonte und um Entwicklungs-Partnerschaften mit Zulieferern.
Thusbass arbeitet im Ende 2020 gegründeten EBDC (E-Bike Development Center) in München im Auftrag der Marke Husqvarna E-Bicycles an neuen Produkten, die demnächst auf den Markt kommen werden. Er und seine Kollegen halten es für besonders wichtig, dass es eine klare Trennung zwischen Serien- und Innovationsentwicklung gibt. »Das können oft sogar dieselben Leute sein, aber sie nehmen dann je nach Projektart unterschiedliche Rollen ein«, sagt Thusbass. Im einen Fall geht es um marktnahe Serienentwicklungen. Im anderen Fall steht Grundlagenarbeit an, »da gelten fundamental andere Zeithorizonte, Freiheitsgrade und Risiken. Es wäre daher fatal, das eine mit dem anderen zu mischen«, argumentiert Thusbass. Deshalb sei es deutlich besser, Innovation von der Serie zu entkoppeln, ohne Scheuklappen zu entwickeln und in einem geeigneten Reifegrad die Innovation dann in die Serie einfließen zu lassen. Im Zentrum bleibt dabei jedoch immer die Frage, was die Neuerung an echtem Mehrwert für den Kunden und die Marke bringt.
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