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Erfahrener Rockstar mit nachdenklicher Erscheinung: Szymon Kobylinski ist ein umtriebiger Rad-Unternehmer aus Polen.
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Portrait - Szymon Kobylinski

Vom Rockstar zum Rad-Denker

Der polnische Fahrradunternehmer Szymon Kobylinski hat eine schillernde Vergangenheit – in der ihm sein Sport sogar verboten war. Heute holt er sich Ideen für neue Modelle aus der Praxis und baut vorsichtig gleich mehrere Marken international auf.

Im Souterrain des dreigeschossigen Hauses in einem Danziger Vorort gerät Szymon Kobylinski ins Schwärmen, er geht sogar in die Superlative über – was dieser Endvierziger sonst gar nicht häufig tut. »Wir haben hier das beste Rad zum Klettern im ganzen Markt«, sagt der dunkelblonde Mann mit der schwarzen Brille, »das ist eine komplett neue Geometrie.«
Er deutet auf den Prototypen eines Crosscountry-Rahmens, bei dem der Radstand erstaunlich lang ist. Hinter ihm schraubt ein Mechaniker an einer Werkbank, ein paar Rahmen hängen an einem Regal, Kartons stehen links und rechts. Im Nebenraum arbeitet ein Ingenieur an drei Monitoren, nebenbei checkt er Nachrichten auf dem Smartphone. Ein Ort, der improvisiert wirkt, wie ein Fahrradkeller, in dem ein paar Tüftler basteln und schrauben.
Der Mann, der durch diese Räume führt, und seine Fahrräder haben international inzwischen einen sehr guten Ruf. Mag sein, dass Polen noch nicht als Ideenschmiede der Zweiradbranche bekannt ist. Aber Szymon Kobylinski, der athletische Unternehmer aus Danzig, ist jemand, mit dem man sich beschäftigen sollte – weil er sich mit Fahrrädern beschäftigt und Ideen auf den Markt bringt, die von Kunden und Fachpresse gleichermaßen Lob erfahren. Kobylinski ist der Mastermind hinter der Firma 7Anna, einer Handelsfirma für Fahrradteile, und den Marken NS Bikes, Creme Cycles, Rondo und Octane One.

Eine goldene Schallplatte im Passepartout

Es gab da mal einen Vertrag, der Szymon Kobylinski das Fahrradfahren verbot. »Ich habe ihn unterschrieben«, sagt er mit seiner ruhigen, sanften Stimme in einem perfekten Englisch, das seine Kindheit in London und seine polnische Heimat angenehm akzentuiert und mischt. Wieso konnte der Fahrradenthusiast, der Downhill-Draufgänger damals in den Neunzigern so weit gehen: Ein juristisches Papier unterschreiben, das ihm seine Passion untersagt?
Am Besprechungstisch seiner Firma erklärt sich die Geschichte. Kobylinskis Ehefrau Ania bringt einen goldenen Rahmen mit schwarzem Passepartout herein. Eingerahmt: Eine goldene Schallplatte, für 50.000 verkaufte Exemplare von Fankomat, dem zweiten Album der Band Blenders, veröffentlicht 1996. Es war die Zeit vor Spotify und YouTube, es war eine rein polnische Angelegenheit – und daher ist der Erfolg, den Kobylinski als Musiker mit den Blenders hatte, heute besonders erwähnenswert. Auch deshalb, weil er so weit weg wirkt von seinem heutigen Leben, wie es nur geht. Und weil man sich in Deutschland keinen Begriff davon macht, dass diese Band richtig erfolgreich war. Aber eben nur im Nachbarland.
Die Neunziger: Das war für Kobylinski ein stetiger Rausch aus Musizieren, Auftritten, Party. Bei den Blenders sang er die polnischen Lieder und spielte die Gitarre. Es war die Zeit der Crossover-Musik, mit Rock, Punk, Hip-hop-Elementen. Er habe mindestens 700 Konzerte gespielt in etwas mehr als einem Jahrzehnt. Er gehörte zum Kern der Band, ihm durfte nichts zustoßen – denn daran hingen Jobs. Also sollte er auch das gefährliche Mountainbiken sein lassen, das per Vertrag zusichern, weil die Show laufen musste. »Das war eine richtige Rockstar-Karriere«, sagt er, ohne zu prahlen. Er wirkt selbst noch verwundert. Seinen Freunden aus der Band, sagt er, gehe es heute nicht besonders. Er versteht das: »Dein Gehirn wird zerstört. Du hörst zehn Jahre lang, dass du der König der Welt bist. Die Freunde haben alles gekauft, Autos und Häuser. Sie haben jeden Abend gefeiert.« Er hingegen sei sich unsicher gewesen. »Ich weiß nicht, ob wir das wirklich schon verdient haben«, sagt er – und, so erzählt er heute, habe negative Gedanken vorgeworfen bekommen. »Aber ich dachte immer: Wir leihen nur etwas.«
Und so kam es, dass Kobylinskis Band, die längst bei einem Major-Label unter Vertrag stand, mit ihrem vierten Album im Jahr 2001 nicht nur einen Misserfolg einfuhr – sondern von jetzt auf gleich in die Bedeutungslosigkeit abstürzte. Das Geld, das Kobylinski verdient hatte, steckte er mit Kollegen in ein Aufnahmestudio – ein totaler Flop, niemand buchte die teure Technik. Damit waren die Rockkarriere passé und die Gagen futsch.
Spricht man heute mit Kobylinski darüber, ist da nichts, dem er nachtrauert oder das er vermisst. Im Gegenteil: Er wirkt glücklich darüber, dass er mit etwas, das ihm Zeit seines Lebens wichtig war, heute gutes Geld verdient – und Erfolge feiert, die er selbst durchschaut.

Als Hobbyhändler einen Markt geschaffen

Seit Anfang der 2000er ist Kobylinski als Unternehmer in der Fahrradbranche gewachsen. Er hat mit 7Anna ein Distributionsunternehmen für den polnischen Markt. Das Unternehmen wuchs aus dem Hobby. Kobylinski importierte damals im Alleingang Teile von US-Marken, etwa Hanebrink oder Stratos. Er war Teil der Szene, fuhr ja selbst, und als Musikstar auch bekannt – was ihm viele Dinge erleichtert habe, erzählt er. Dass der Hobbyhandel das Zeug zur Firma haben könnte, merkte Kobylinski, als er für seine Sportsfreunde Downhill-Gabeln organisierte. Es waren nicht viele, vielleicht 15 oder 20 auf einmal. Aber er sah Potential. Er habe seinen Kunden einen Sprung ermöglicht, von 150-Millimeter- auf 200-Millimetergabeln. »Da habe ich einen Markt geschaffen«, erinnert sich Kobylinski. Es wuchs langsam ein Handelsunternehmen.
Außerhalb Polens kennt man ihn allerdings eher für die Marken, die er im Laufe der Jahre gemeinsam mit Partnern geschaffen hat – und die auch deutsche Kunden überzeugen. Etwa 10 Millionen Euro machte der gesamte Unternehmensverbund im Jahr zuletzt an Umsatz, berichtet Kobylinski – für 2019 lief die Pre-Order so gut, dass er einen Sprung auf 13 Millionen Euro prognostiziert. Zwischen 80 und 90 Prozent davon gehen inzwischen auf den Verkauf kompletter Räder zurück – vom Handelsunternehmer wandelte sich Kobylinski also zum Hersteller.
Etwa vier Zugstunden von Danzig entfernt, am geographischen Mittelpunkt Polens, erinnert nichts an Lifestyle oder gar das Rockstar-Leben. Der Ort liegt unter einer grauen Wolkendecke, es riecht ein wenig nach verbranntem Holz, gegenüber vom Bahnhof leuchtet ein Neonschild mit Reklame für die einzige Biertheke in der Nähe. Von hier aus muss man noch eine Viertelstunde mit dem Auto fahren, um ein schmuckloses Gebäude zu besuchen, in dem die Ideen von Kobylinski und seinen Mitstreitern in fertige Produkte umgesetzt werden. Hier hat Ideal Europe seinen Sitz, Tochter der taiwanesischen Ideal Bike – und hier laufen auch die hochwertigen Sporträder aus Kobylinskis Sortiment durch die Produktionslinie.
Ideal Europe fertigt für einige namhafte internationale Marken, man kann das leicht erkennen, wenn man durch die Fabrik geht. Insofern war es anfangs für Kobylinski nicht ganz einfach, dort als kleiner polnischer Newcomer im eigenen Land ernstgenommen zu werden. Doch das hat man mit Engagement überwunden. Beim Besuch von velobiz.de sind gleich drei Mitarbeiter Kobylinskis vor Ort, sie überwachen die Montage von Fahrrädern der Marken NS Bikes, Rondo und Octane One. Seit 2010 arbeiten Kobylinskis Team und Ideal Europe miteinander. Man sei inzwischen sehr eng miteinander verbunden, sagt etwa Lukasz Szulzycki, Senior Key Account Manager von Ideal Europe. Kein Wunder: Heute lässt Kobylinskis Team hier im Jahr 10.000 Räder zusammenbauen – bei einer Gesamtkapazität von 60.000-70.000 in Kutno ist das schon eine Marke.
Apropros Marke: Kobylinski verfolgt ein Konzept der Diversifizierung. Ja, damit könne man sich gegen Risiken absichern, gesteht er ein. Aber er zieht auch einen Vergleich zu seiner ehemaligen Band. Da habe man am Ende einfach alles zusammengerührt, Balladen, Rock, Disco und mehr – für jeden sollte etwas dabei sein. So ging das Profil verloren. Mit seinen Marken möchte er heute genau das Gegenteil erreichen: NS Bikes steht seit 2004 für auffällige Mountainbikes, die sich in Qualität und auch Design auszeichnen. Die Produkte sind durchdacht, Kobylinski betont immer wieder, wie wichtig die Rückmeldung von und Anbindung an Leute ist, die den Sport wirklich betreiben. Das macht er selbst ja auch – im vergangenen Jahr fuhr er bei der Masters-WM im Cross Country mit – auf dem Rad eines anderen Herstellers. Die Konsequenz aus dem Erfahrenen: der Prototyp für das erste eigene XC-Bike von NS Bikes.
Kobylinski tritt als Innovator in Erscheinung, sucht Trends, spricht sonntags bei den Ausfahrten mit den Leuten in seinen Trainingsgruppen, sammelt Ideen aus der Praxis. Und er spricht mit den Distributoren – in Deutschland Sports Nut, um die Einschätzung der geplanten Projekte mit den Chancen für den Verkauf abzugleichen. Dieses Feedback, betont er, ist ihm besonders wichtig. Denn obwohl er ein geübter Abfahrer ist, ein ehemaliger Rockstar und ein erfolgreicher Unternehmer, betont er: »Ich mag keine großen Risiken, ich habe sogar Angst davor, viel Geld in einzelne Projekte zu investieren.« So vertritt er die Idee, dass Unternehmen sich Schritt für Schritt entwickeln sollten – und nicht die großen Pläne gleich am Anfang in Angriff nehmen.

Ein Vordenker für das Rad in Polen

Schritt für Schritt gewachsen ist denn auch die Markenauswahl. Gemeinsam mit Maciej Kempa zog Kobylinski 2010 die designorientierte Urban-Marke Creme auf, die heute sehr erfolgreich stylische urbane Räder verkauft. Auch ein Cargobike wird demnächst kommen. Derzeit ist Creme vor allem eine Exportmarke, das Geschäft etwa in Großbritannien läuft gut. Kobylinski arbeitet aber auch daran, das Radeln in seinem Heimatland zu propagieren, bedient sich einer ähnlichen Rhetorik wie etwa der Däne Mikael Colville-Andersen, um Ästhetik und städtische Fortbewegung voranzutreiben. Er hält dazu auch öffentliche Reden, Ted-Talks.
Die Message: Mit Rädern wie von Creme kann man durch die Stadt kommen, ohne zu schwitzen und ohne Kunstfasern tragen zu müssen. Er selbst fährt mit einem Creme-E-Bike ins Büro. Die Räder dieser Marke baut man ebenfalls im eigenen Land zusammen, bei Arkus in Debica, Südpolen. Gemeinsam mit einem alten Freund aus Rockerzeiten etablierte Kobylinski dann die Marke Rondo – der Sound-Techniker Tomasz Cybula und er sahen die Zeit für ein Gravelbike mit verstellbarer Geometrie gekommen. Die neue Marke überzeugte mit ihrer verstellbaren Gabel die Branche und brachte den beiden den Eurobike Award 2016. Das war, wenn es um die internationale Wahrnehmung Kobylinskis geht, ein Meilenstein. Eine weitere Marke hat Kobylinski noch im Sortiment: Octane One richtet sich direkt an Händler und bietet komplette Räder und Teile wie Lenker, Vorbauten und auch Kettenblätter.
Ein Projekt, auf das Kobylinski besonders stolz ist, ist mit ihm verwandt: sein Sohn. Der Junge ist inzwischen acht Jahre alt – und fährt mit seinem Vater fast jeden Tag durch Wälder, über Böschungen und auch über den Pumptrack am Wochenendhaus der Familie. Vater Kobylinski beobachtet mit Stolz, wie sein Sohn auf dem Zweirad Fortschritte macht. Und dabei blickt er auch immer darauf, was man an Fahrrädern verbessern kann. Heraus kam ein Mountainbike für Kinder, das sich von 24 auf 26 Zoll verstellen lässt. Er findet: »Kaum jemand denkt richtig über Kinderräder oder Urban Bikes nach.«
Szymon Kobylinski wirkt glücklich mit seiner Firma und dem, was er noch schaffen möchte. Energie dafür holt er sich auch aus dem taiwanesischen Tee, den er Tasse für Tasse trinkt – und der auch seine gewachsene Verbindung nach Fernost zeigt. Kobylinski zeigt die vielen Details, die seine Mitstreiter erfinden. Seien es die auffälligen Designs, seien es geschickte Ideen, um Zügel am Rahmen zu verlegen. Er mag diese Verbesserungen aus der Praxis. Aber er wehrt sich gegen einen Trend der Branche, den er sogar mit wissenschaftlichen Mitteln hinterfragen möchte. Kobylinski widersetzt sich technischen Akronymen, dem Marketing vieler Wettbewerber, das technische Vorteile behauptet. Er selbst hat Ingenieurwesen studiert – und sogar neben der Rockkarriere abgeschlossen. Das meiste, was die Industrie mache, sei »keine Raketenwissenschaft«, findet er. Er mag das nicht: Marktschreierei, avantgardistische Technikbegriffe, vermeintliche Objektivitäten. Ja, er habe sogar Fördermittel beantragt, um Behauptungen der Branche irgendwann einmal wissenschaftlich hinterfragen zu können. Seine Idee dagegen ist simpel: »Wir verkaufen unsere Räder nicht wegen der Spezifikationen, sondern wegen der Erfahrungen.«
Dennoch legt Kobylinski Wert auf die Details, darauf, Räder neu zu denken. Das Rondo-Ruut war ein gefeiertes Beispiel. Sein XC-Rad ist ein weiteres. Und es sollen weitere folgen. Kobylinski plant innerhalb der nächsten zwei Jahre einen deutlichen Ausbau seines Unternehmens in Danzig. Er möchte mehr Forschung und Entwicklung am eigenen Sitz ansiedeln – und dort auch schnell Prototypen produzieren können. »Wir haben die Marken, die wir brauchen«, sagt Kobylinski, »jetzt geht es darum, schneller zu wachsen.« Denn das dreigeschossige Haus, an dem Kobylinski und sein Team ihren Stammsitz haben, bietet schon jetzt kaum genug Raum, um die materialgewordenen Ideen zu beherbergen.

6. Mai 2019 von Tim Farin
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