Interview - Hans van Vliet
»Was macht der Holländer?«
In Shimano-Kreisen eilt Hans van Vliet ein gewisser Ruf voraus. Zumindest wenn es um Präsentationen geht, bei denen der großgewachsene Holländer seinen Zuhörern manchmal gewisse Ausdauerqualitäten abverlangt hat. Und auch wer ein Interview mit van Vliet führt, muss damit rechnen, dass sein Gesprächspartner nach einer Frage erst mal eine halbe Stunde am Stück redet. Wir haben uns deshalb bei diesem Interview für eine etwas ungewöhnliche Form entschieden: Statt geschliffener Fragen haben wir Hans van Vliet nur Stichworte zugeworfen und seine Antworten etwas gekürzt.
Über seinen ersten Kontakt mit Shimano
Mein Vater hatte ein Fahrradgeschäft nördlich von Amsterdam, das er mit seinem Bruder zusammen aufgebaut hatte. Mit meinem Onkel, meinem Vater und meinen zwei Brüdern waren wir fünf Mann in einem Betrieb. 1972 bin ich auf der IFMA erstmals mit Shimano in Berührung gekommen, damals noch als Fahrradhändler. Shimano Europa war da gerade erst einige Wochen vorher gegründet worden. Ich kam mit dem damaligen Geschäftsführer Sam Takaoka ins Gespräch und sagte ihm »Deine Produkte sind Mist«.
Über seine ersten Jahre bei Shimano
1983 waren wir bei Shimano Europa neun Mitarbeiter, drei Japaner, drei Deutsche, ein Pole, ein Engländer und ich. Wir haben quasi mit nichts angefangen. Ich war der einzige von denen, der nicht am Massengeschäft interessiert war. Positron an Karstadt zu verkaufen, das war nicht mein Bier. Mein Ding war der Rennsport. Und meinem Chef Yozo Shimano ging es ganz ähnlich. Ihn beschäftigte die Frage: Wie schafft man es, ein japanisches Produkt in eine Welt einzuführen, in der europäische Marken dominieren? Das war eine fast unmögliche Aufgabe. Die Radsportwelt hat erst angefangen, uns wahrzunehmen, als es hieß, die Japaner machen eine Schaltung mit Click-System. Da gibt es ein berühmtes Bild, auf dem ich 1986 auf der IFMA das Shimano Index System präsentiere. Und Eddy Merckx steht vor mir. Merckx sagte mir: »Herr van Vliet, mal im Ernst, das ist doch ein japanischer Scherz. Ein Index-System braucht doch kein Mensch. Man muss halt schalten können.« Da habe ich ihm geantwortet: »Herr Merckx, das stimmt, wenn Sie frisch losfahren in Paris. Aber wenn Sie kaputt in Roubaix ankommen, dann machen auch Sie Schaltfehler.« Was übrigens tatsächlich der Fall war, wie Filmaufnahmen aus dieser Zeit zeigen. Ich konnte ihn aber trotzdem nicht überzeugen.
Über die Kunst »Nein« zu sagen
Irgendwann haben dann mit Cilo Aufina und Toshiba Look doch zwei A-Mannschaften Interesse gezeigt, sich von Shimano mit dem Index-System ausrüsten zu lassen. Also bin ich in Japan bei meinem Business-Vater Keizo Shimano vorstellig geworden und habe ihn um Geld gebeten, um mich in diesen Teams als Sponsor einkaufen zu können und damit das Index-System im Profi-Sport einzuführen. Keizo fragte mich dann: »Weißt du auch, wie du das beenden kannst?« Ich habe ihm dann gesagt, dass es doch jetzt erst einmal darum ginge, überhaupt in diese Teams reinzukommen. Aber Keizo sagte: »Wenn du nicht weißt, wie du etwas beenden kannst, dann fange erst gar nicht damit an.« Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, was er mir damals gesagt hat. Was er meinte war: »Wenn du nicht Nein sagen kannst, dann sag auch nicht Ja.« Ja-Sagen ist einfach. Leuten etwas zu versprechen, ist überhaupt keine Herausforderung. Aber jemandem im vollen Ernst, ein »Nein« zu verkaufen hingegen schon.
Über seine offene und direkte Art
Ich war jahrelang ein Einzelkämpfer. Als ich 1983 bei Shimano Europa angefangen habe, stand auf meiner Visitenkarte »Market Researcher«. Ich bin dann zunächst von Heerenveen, wo ich seit neun Jahren wegen meines Jobs bei Koga lebte, nach Düsseldorf gependelt. Aber die Kollegen in Düsseldorf waren nicht an mir interessiert. Mein Chef saß in Japan, das war Yozo Shimano. Eines Tages musste ich einen Kunden in Deutschland besuchen, nämlich Brügelmann in Frankfurt. Manfred Brügelmann fragte mich, was ich in seinem Laden wollte. Ich sagte ihm, dass ich für Shimano arbeite und ihm unsere Dura-Ace-Gruppe verkaufen will. Brügelmann antwortete mir: »Eure Dura-Ace taugt nichts, ich verkaufe nur Campagnolo.« Ich meldete daraufhin nach Japan, dass die Unterstützung für unsere Dura-Ace-Produkte in Deutschland nicht optimal ist. Es gab zu dieser Zeit nur englischsprachige Verkaufsunterlagen. Also habe ich Druck gemacht, dass auch Unterlagen in Deutsch erstellt werden. Einige Zeit später besuchte ich Lange in Stuttgart und sehe palettenweise deutsche Shimano-Kataloge im Lager rumstehen. Bei Lange hatte man die Kataloge nicht an die Kunden verschickt, weil ihnen der Versand zu teuer war. Ich habe mir dann die Kataloge geschnappt und sie persönlich zu den wichtigsten Kunden in Deutschland gebracht. Das hat natürlich Ärger gegeben. Paul Lange rief dann in Japan an und fragte: »Was treibt dieser Holländer in meinem Markt?« Ich war ja eigentlich nur bei Shimano angestellt, um Marktdaten und Meinungen zu unseren Produkten zu sammeln. In diesen Anfangsjahren habe ich regelmäßig solche Konflikte mit den europäischen Vertriebspartnern erlebt. Mit etwas mehr Reife versucht man dann, solche Dinge diplomatischer zu lösen. Das musste ich aber erst mal lernen.
Über E-Bikes
Das Prinzip der E-Bikes ist nichts Neues. Fahrräder mit Motorunterstützung ist mein Großvater schon vor dem Krieg gefahren. Als Yamaha 1995 sein elektrisches Power Assist System erstmals vorstellte, wurde somit ein schon vorhandenes Funktionsprinzip lediglich elektrifiziert. Von da an hat es noch 13 Jahre gedauert, bis das E-Bike eine wahrnehmbare Größe im Markt wurde. Für die Zukunft wird es spannend sein, wie sich die Mobilität insgesamt entwickelt und welche Rolle die Fahrradhersteller dabei spielen werden. Wenn es um kleinmotorisierte Zweiräder geht, haben Unternehmen wie Vespa oder Yamaha eine große Tradition. Die Einführung der E-Mobilität kann hier noch große Umwälzungen bringen, auch für den Fahrradmarkt.
Über seine Generation 65+
2015 werden erstmals mehr als 30 % der europäischen Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Diese Leute haben ihre Hypotheken schon bezahlt, die Kinder sind mit dem Studium fertig. Und sie sind nicht mehr im Berufsleben aktiv. Diese Generation steht quasi an der Seite der Gesellschaft. Was diese Menschen haben, ist Freizeit. Und sie sind kritische Konsumenten. Für diese Zielgruppe stellt sich die Frage der Mobilität schon beim Aufstehen. Wenn ich Rückenprobleme habe und mir deshalb nicht mehr so leicht die Schuhe zuschnüren kann, dann bin ich in meiner Mobilität schon behindert. Wir als Branche müssen uns fragen, ob wir dieser Zielgruppe weiter Gänge, Kilos und Farbe oder ein Mobilitätsprodukt verkaufen wollen. Seitdem ich nicht mehr jeden Tag in der Arbeit bin, habe ich jedenfalls mehr Zeit denn je, mich zu bewegen. Für die Zielgruppe 65+ ist nicht Geld das Thema, sondern die Freizeitqualität. Und die Fahrradindustrie liefert genau jene Freizeitqualität.
Über den Ruhestand
Das ist nicht einfach. Ich war fast 50 Jahre in der Fahrradbranche tätig. Ich mach noch Freelance-Arbeiten für Shimano, aber ich bin nicht mehr direkt am Lenker. Allerdings ist es auch eine der Stärken von japanischen Unternehmen, dass sie ihre Mitarbeiter behutsam auf den Ausstieg aus dem Berufsleben vorbereiten. Schon als ich sechzig war, hat mich Yozo Shimano darauf angesprochen, was ich in den letzten Jahren im Unternehmen machen möchte. Ich habe dann einerseits viel mit CSR (Corporate Social Responsibility) bei Shimano gemacht, und andererseits auch mit Shimano Rowing Dynamics ein neues Projekt gestartet. Ab 2009 wurde mir dann im Unternehmen explizit gesagt, dass ich runterschalten soll. Rückblickend war das eine gute Entscheidung: Ich konnte mein Wissen noch in Ruhe im Unternehmen weitergeben, musste aber keinen Chef mehr spielen.
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