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Digitales Marketing - NFT und Metaverse

Was sind NFTs und wofür braucht die Fahrradbranche sie?

Für die einen sind NFTs die wichtigste Anlageform nach Bitcoin, für die anderen ein Ausdruck der nicht enden wollenden Hy­bris der Digitalbranche, die sich immer weiter vom echten Leben abkoppelt. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Es wird Leser geben, die schon bei dem Akronym NFT zusammenzucken und bei denen Schweißperlen auf der Stirn erscheinen, wenn der Begriff Metaverse fällt. Da es aber besonders wichtig ist, dass gerade sie diesen Artikel lesen, hier der Disclaimer: Es geht nicht um digitale Kunst und es geht nicht um seelenlose VR-Welten. Es geht um Kundenbindung, es geht um Communitys und es geht vor allem um das (ganz physische) Rad.

Was sind NFTs?

Beginnen wir mit der Definition. NFT steht für Non-fungible Tokens. Tyler Benedict, der Gründer des ersten NFT-Clubs der Radbranche, beschreibt das so: »Abstrakt gesprochen ist es nichts anderes als ein Eigentumsnachweis. Tatsächlich ist es natürlich nur eine Codezeile in der Blockchain, aber es ist nachweislich Ihre Codezeile. Und was Sie mit diesem Eigentumsnachweis machen können, ist endlos.


Zugang zum Bike Club bekommt nur, wer ein Non-fungible token kauft.

Sie können es sich als eine überprüfbare Mitgliedskarte vorstellen, die Ihnen Zugang zu allen Diensten gewährt, die das Projekt bietet«.
An dieser Stelle wird also deutlich, woher das große Missverständnis in Sachen NFTs kommt. Wenn die Öffentlichkeit NFT als digitale Kunst betrachtet, dann liegt das daran, dass digitale Dateien per se nicht einzigartig sind. Sie sind beliebig oft verlustfrei kopierbar, und das liegt in ihrer Natur.
Verknüpft man nun ein solches digitales Kunstwerk mit einem Element in der Blockchain, das, ebenfalls per Definition, einzigartig ist, dann wird Knappheit erzeugt. Es gibt nur ein digitales Kunstwerk mit diesem »Echtheitszertifikat«. Und prompt setzen marktwirtschaftliche Prozesse ein: Das knappe Gut wird gehandelt und gesammelt.
Das NFT ist also nicht das Kunstwerk, es ist das Recht am Kunstwerk. Genauso könnte es das Recht am Grundstück, das Recht zur Teilnahme an einem Event (Ticket) oder das Recht zur Mitgliedschaft in einer Community sein. »Das Thema hat sich so unglaublich schnell entwickelt«, so Benedict weiter. »Jetzt bietet jedes erfolgreiche Projekt nicht nur großartige Kunst, sondern auch etwas anderes von echtem Wert und Nutzen für das Zielpublikum. Es reicht nicht mehr aus, niedliche Kunst zu haben, es muss Substanz geben.«

Warum braucht man NFTs?

Das ist an dieser Stelle eine gute Frage, die kaum jemand abschließend beantworten kann. Da, wo Einzigartigkeit zwingend nötig ist, können NFTs wichtig sein. Das gilt zum Beispiel für das Vertragswesen. Vertragsbedingungen, zum Beispiel zum Bikesharing in einem Dorf, könnten in einem Dokument fixiert und dessen Existenz und Integrität in der Blockchain sicher gespeichert werden.


Nike kaufte das Unternehmen RTFKT, nachdem Letztere innerhalb von wenigen Stunden Tausende virtuelle Sneaker-Paare für einen Paarpreis von 5000 Dollar verkauft hatte.

Aber an dieser Erklärung erkennt man sofort, dass NFTs für dieses Vorhaben nicht die einzig mögliche Lösung sind. Man könnte den Vertrag auch bei einem Notar oder Gericht hinterlegen, und damit das Rechtsgeschäft absichern. Für bestimmte Güter gibt es sogar eine Registerpflicht: Geschäfte mit Grund und Boden werden erst rechtswirksam, wenn sie im Grundbuch hinterlegt sind. Da nützen auch die besten NFTs nichts.
Genau hier setzt die Systemkritik der Digitalexperten, vor allem derer aus der Krypto-Szene, an. Das Zentralregister wird von einer Institution geführt und ist an einer Stelle abgelegt. Es ist also anfällig für Diebstahl, Fälschung und Betrug. Speichert man den Eigentumsnachweis aber auf Tausenden von Computern gleichzeitig, dann wird es sehr schwer, etwas zu fälschen. Und genau das bietet die Blockchain. Sie ist dezentral organisiert, sie »gehört« niemandem … oder allen.

Die Krypto-Community sieht darin eine Loslösung vom als diktatorisch wahrgenommenen Bankensystem. Das mag für den Mitteleuropäer nicht leicht nachvollziehbar sein, aber es gibt Argumente. Geldtransfers in Länder der Dritten Welt sind mitunter ausufernd teuer. Geldpolitik ist bei Kryptowährungen nicht ohne Weiteres machbar. Kein Staat kann frisches Geld »drucken«, zum Beispiel um einen Krieg zu finanzieren. Nicht zuletzt hat die Teilnahme am Bankensystem eine soziale Wirkung. In Großbritannien wurde in Studien festgestellt, dass mehr als ein Drittel der Menschen keinen Zugang zu bargeldlosen Systemen bekommt und somit an bestimmten Formen des öffentlichen Lebens gar nicht teilnehmen kann.


Das Resort Kunang Kunang finanzierte den Bau über den Verkauf von NFTs im Vorfeld.

Aber ganz so rosig ist es um die Blockchain auch nicht bestellt. Dass das System anfällig für Betrug ist, haben einige spektakuläre Fälle in den letzten Monaten gezeigt. Da es sich bei Bitcoins um eine Spekulations- und nicht Verkehrswährung handelt, genügt ein Huster von Elon Musk und der Kurs stürzt um 20 Prozent ab. Will man tatsächlich einen Rechtsverstoß ahnden lassen, dann braucht man eben auch Richter und Polizisten, die wissen, was die Blockchain ist.
Aber das ist die Blockchain und nicht NFTs. Das Risiko, dass jemand einen digitalen Einbruch begeht, um meine H&M-Mitgliedskarte zu manipulieren, ist überschaubar. Der Mehrwert eines solchen Systems besteht aus einer Kombination von Faktoren: »In unserem Bike Club gehört der Avatar Ihnen und wir können das überprüfen und Ihnen Zugriff auf unser Ride & Earn-Dashboard auf eine Weise gewähren, die weitaus sicherer ist als ein Benutzername und ein Passwort«, erläutert Benedict weiter. »Zweitens können Sie völlig anonym sein und trotzdem teilnehmen. Ein weiterer Aspekt sind sogenannte Hidden Traits. Äußerlich sieht man so etwas wie einen Avatar, aber im Code sind viele Zusatzfunktionen versteckt. Wir können Gamification-Elemente entwerfen, die mit diesen Eigenschaften spielen, und da sie Teil des NFT sind, können Sie nicht schummeln. Zu guter Letzt sind wir in der Lage, ein System zu schaffen, das es den Inhabern ermöglicht, den Wert ihres NFT einfach durch Radfahren zu steigern. Sie fahren, wir vergeben Punkte.«

Aber funktioniert das alles nicht auch mit einem klassischen CRM-System und einer Club-Mitgliedschaft? »Eigentlich schon«, meint Benedict, »aber wer es modern machen will, machts es eben mit NFTs«.

Die Anwendungsszenarien, die man heute schon kennt

Bis hierher sprechen wir also von einer Art Loyalty-System. Wenn Coca Cola meint, man müsse allen Mitgliedern des FC Bayern München etwas Gutes tun, dann könnte man deren Mitgliedschaft anhand der NFTs überprüfen. Spannend ist der Aspekt, dass das NFT tatsächlich dem Einzelnen gehört. Er kann es hegen und pflegen und im Zweifel sogar weiterverkaufen.
»Nehmen wir an, eine der virtuellen Fahrradwelten bietet In-Game-Upgrades als NFTs an, zum Beispiel schnellere Räder. Aber dann haben Sie einen noch hochwertigeren Laufradsatz zum ›Fahren‹, Sie könnten dieses Zwischen-Upgrade an einen anderen Fahrer in dieser Welt verkaufen«, sagt Tyler Benedict.


Das NFT mit dem haptischen Zusatznutzen: Die »Leinwand« des Kunstwerks von Siegfried Gin enthält Hochprozentiges und der Erlös geht an ein Kinderheim.

Es ist tatsächlich einer der wichtigen, konstituierenden Grundpfeiler des Metaverse, der hier zum Tragen kommt. Es gibt längst viele digitale Welten von Roblox bis Fortnite, in denen sich die Menschen unter anderem virtuelle Güter kaufen, um ihren Avatar zu verschönern. Die nächste Stufe zündet, wenn dieses System so universell ist, dass man die Käufe aus einem Spiel auch in einem anderen an seinem Avatar sehen kann. Absurd? Nebensächlich? Der Markt für digitale Güter soll bis 2025 190 Mrd. Dollar schwer sein, schätzen die Marktforscher von Adroit Market Research.
Aber neben der CRM-Idee und den digitalen Gütern gibt es bereits eine Reihe anderer Szenarien, die deutlich näher am heutigen Alltag eines Marketers liegen. Zum Beispiel Crowdfunding. Die Labs Group plant in Indonesien ein besonderes Hotel. Unter dem populären Label Glamping soll eine Siedlung mit Leichtbau-Ferienhäusern entstehen. Die einzelnen Häuser ähneln dem Konzept der Bubble-Hotels, allerdings geschieht alles mitten im Urwald. Da man sich nicht sicher war, wie das Ganze angenommen werden würde, verkaufte man die Grundstücke einfach vorab, und zwar als NFTs. Damit verbunden ist nicht nur das Eigentum und die Gewinnbeteiligung am Unternehmen, sondern auch ein »Urlaubsrecht« für zwei bis vier Wochen im Jahr.

Das besondere Event

Das neue Luxushotel Ca´ di Dio in Venedig wollte vom ersten Hype um NFTs profitieren und verknüpfte das mit einem einzigartigen Erlebnis. Der Erwerber des NFTs durfte im Sommer 2021 die Nacht vor der offiziellen Eröffnung des Hotels alleine dort verbringen. Alle Fazilitäten des Hotels standen nur dem NFT-Besitzer (und seiner Partnerin) zur Verfügung.
Natürlich hätte man ein solches Gewinnspiel auch anders starten können. Aber wenn die ganze Welt über den Sinn und Unsinn von NFTs diskutiert und sich gleichzeitig eine Spekulationsblase aufbaut, wäre man als Marketer dumm, diesen Rückenwind nicht zu nutzen. Gerade wenn klassische Branchen, die vor allem von haptischem Erleben geprägt sind, sich auf digitale Experimente einlassen, ist breite Resonanz in Presse und Öffentlichkeit vorhersehbar.

Das Charity-NFT

Vielleicht denken Sie an dieser Stelle darüber nach, was sich aus Ihrem Universum in ein Non-fungible Token verwandeln ließe. Diese Frage stellte man sich auch bei Siegfried Gin. Und die Antwort ist charmant. Man engagierte zwei populäre Graffiti-Sprayer, bastelte aus 361 Gin-Flaschen eine »Leinwand« und ließ tatsächlich ein Kunstwerk schaffen. Der Erlös aus dem Verkauf kommt einem Bonner Kinderheim zugute. Verkauft wird nicht nur das NFT in Form eines hochauflösenden Bilds des Gesamtwerks, sondern auch jede einzelne Flasche als Teil der Limited-Art-Collection. Mit ganz und gar haptischem Inhalt.
Ganz nebenbei produzierte Siegfried Gin jede Menge spannenden Content in Form von Fotos und Making-of-Videos für die eigenen Social-Media-Kanäle.
Und die Fahrradbranche? »Stellen Sie sich vor, Bianchi veröffentlicht ein neues Fahrrad und es gibt eine limitierte Bianchi-Club-Edition für diejenigen, die das Fahrrad als NFT vorbestellen«, fantasiert Tyler Benedict. »Bianchi verkauft die gesamte Kollektion im Vorverkauf, Fans erhalten etwas, um ihren Besitz nachzuweisen, was ihnen auch Zugang zu privaten Chats oder Veranstaltungen verschaffen kann. Sicher, Sie könnten dies mit einem Benutzernamen und einem Passwort tun, aber mit einem NFT ist es schneller, einfacher und sicherer, und es gibt Kunden eine visuelle Darstellung, mit der sie angeben können. Sobald sie das Fahrrad erhalten haben, kann das NFT als Eigentumsbescheinigung mit allen im Code enthaltenen Spezifikationen und Details dienen. Wenn sie das Fahrrad jemals verkaufen wollen, könnten sie einfach das NFT verkaufen und das Fahrrad damit ausliefern, damit der neue Besitzer die Historie und den Zugang dazu hat.«

Aber da wäre noch etwas!

NFTs sind ein merkwürdiges Phänomen und es kann gut sein, dass sie im Laufe der Zeit gar nicht mehr groß in der Öffentlichkeit stehen, sondern einfach nur als Eigentumsarchitektur im Hintergrund still vor sich hinarbeiten. Jemand ist Adidas-Mitglied, besitzt ein Fahrrad von Riese & Müller oder hat Tickets für Cro: Mit welcher Technologie die Echtheit dieses Eigentums bewiesen werden kann, muss die Anwender überhaupt nicht interessieren.
Was sie allerdings auf jeden Fall interessieren sollte, ist, auf welcher Blockchain das Ganze läuft. Ethereum, auf der praktisch alle NFTs heute gespeichert werden, ist ein ziemlicher Stromfresser. Der Digiconomist hat ausgerechnet, dass die Blockchain genauso viel Strom verbraucht wie die Niederlande.
Das weiß man bei Ethereum und arbeitet fieberhaft an der Version zwei, die nur noch einen Bruchteil der Energie benötigen soll. Bis dahin gibt es mit Solana eine deutlich öko-freundlichere Blockchain. Tyler Benedict wird seine NFTs für den Bike Club vermutlich dort herausbringen.
Stellt sich abschließend nur noch die Frage, ob man unbedingt möchte, dass sich die Fahrradbranche weiter digitalisiert und virtualisiert. »Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Zum Beispiel wird meine Bildschirmzeit für Arbeit oder Unterhaltung verwendet, die restliche Zeit gehe ich nach draußen und fahre oder spiele«, so der NFT-Unternehmer Benedict. »Aber man könnte die Frage auch andersherum stellen. Peloton, Strava oder Zwift würden ohne das Internet nicht existieren. Es gab uns also mehr Möglichkeiten fahrradzufahren. Ist das ein Nachteil?« //

22. August 2022 von Frank Puscher
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