Report - Fahrradfahren in Deutschland
Wunsch und Wirklichkeit
Die Fahrradnutzung und die Umsatzzahlen der Fahrradbranche steigen, Pedelecs verkaufen sich ohne jede Förderung wie geschnittenes Brot, Nahmobilität wird als neues Mantra ausgerufen und Radschnellwege sind in aller Munde. Gefühlt war 2015 wieder mal ein gutes Jahr für die deutsche Fahrradbranche. Nicht zuletzt wegen des »guten«, also de facto wohl klimawandelbedingt sehr trockenen und warmen Wetters und dem E-Bike-bedingten Umsatzschub. Wer sollte da schon Wasser in den Wein gießen wollen?
Der Fahrradboom bleibt … aus
Gut läuft es hierzulande tatsächlich vor allem bei E-Bikes und im Tourismus: 535.000 E-Bikes wurden in Deutschland verkauft, bei den Exporten nach Europa gab es ein Absatzplus von 37 Prozent
auf 140.000 Einheiten und die Anzahl der Radtouristen stieg um 11 Prozent
auf 4,5 Millionen.
Ganz anders sieht es allerdings bei der Alltagsmobilität aus. Zumindest, sobald man die rosarote Brille abnimmt. Warum eigentlich, so fragt man sich, steigt nur der Umsatz signifikant und nicht die Anzahl der verkauften Fahrräder? Und warum sind – Hipster hin, Lifestyle her – gerade die Produktkategorien Urban Bikes, Falt- und Lastenräder in der Gesamtbetrachtung weiterhin eher Nischenprodukte, als die neuen Zugpferde im Markt?
Der vielfach beschworene Fahrradboom bleibt, bis auf weiteres, wohl aus. Zumindest, wenn nicht intensiv gegengesteuert wird. In diese Richtung muss man wohl die ernüchternden Umfrageergebnisse der letzten Zeit und die Planungen der Bundesregierung interpretieren. Auf ungewohnt kritisches Feedback stießen jüngst vor allem die Ergebnisse des Fahrradmonitors 2015, einer alle zwei Jahre im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums (BMVI) durchgeführten repräsentativen Befragung zur Situation des Radverkehrs in Deutschland. Sowohl der Branchenverband VSF wie auch der ADFC äußerten sich frustriert und besorgt über die hier sichtbare negative Entwicklung. »Die Ergebnisse des aktuellen Fahrrad-Monitors sind enttäuschend«, so VSF-Vorstand Albert Herresthal. »Es zeigt sich deutlich, dass die bisherigen Aktivitäten von Bund, Ländern und Gemeinden nicht ausreichen, um die Ziele des Nationalen Radverkehrsplans zu erreichen.«
Bedenklich stimmt vor allem das Ergebnis, dass sowohl die generelle Beliebtheit des Fahrrads als auch die Nutzungsintensität nicht wie beabsichtigt steigen, sondern sinken. Gleichzeitig nimmt auch die Freude am Radfahren im Alltagsverkehr ab. Dem Satz »Radfahren macht in meiner Gemeinde Spaß« stimmten aktuell nur noch 56 Prozent der Befragten (Vorjahr 65 Prozent) zu. Als besonders problematisch bewertet der ADFC die Rückmeldung, dass fast die Hälfte aller Befragten sich beim Radfahren nicht sicher fühlt (48 Prozent, gleichbleibend).
Schlechtes Klima fürs Fahrrad
Zusammen mit dem Fahrrad-Klimatest, den der ADFC regelmäßig durchführt und dem Bundesverkehrswegeplan, den Verkehrsminister Dobrindt im März zur Diskussion vorlegte, ergibt sich ein, gemessen an den hohen Erwartungen, recht düsteres Bild. Viele Kommunen schnitten bei der letzten ADFC-Umfrage schlecht ab. »Genervt« zeigten sich die Radfahrenden vor allem von geduldetem Parken auf Radwegen, ungeeigneten Ampelschaltungen, fehlendem Winterdienst für Radwege sowie Unterbrechungen durch Baustellen. Zudem fühlt sich die Mehrzahl der Befragten auf dem Rad nicht sicher. Ein Gefühl, das selbst Intensiv-Radfahrer teilen und das beim ADFC »die Alarmglocken schrillen« lässt. Und der 260 Milliarden Euro teure Bundesverkehrswegeplan, der die Infrastrukturprojekte für die nächsten 15 Jahre festschreiben soll? Er ignoriert die Chance, ein leistungsfähiges Radschnellwegnetz aufzubauen und erwähnt das Thema Fahrrad genau einmal: beim Tourismusprojekt »Radweg Deutsche Einheit«.
Überhaupt scheint es um das Klima beim Thema Fahrrad schlecht bestellt zu sein. Veränderungen finden, wenn überhaupt, hierzulande nur in homöopathischen Dosen statt. Während in anderen Ländern beispielsweise Milliardenbeträge (aus Gründen der Stauvermeidung) in den Ausbau von Radschnellwegen investiert werden, warnen hierzulande Politiker ernsthaft auf Podiumsdiskussionen vor »hohen Folgekosten«, da sie ja schließlich auch gesäubert und im Winter von Schnee befreit werden müssten. Und überhaupt: »Sollten wir nicht lieber erst einmal die bestehenden Radwege sanieren?« Und »Können wir den ohnehin knappen Raum für Autos einfach beschneiden?«
Mikael Colville-Andersen: Raus aus der »Matrix«
Wir können den Raum für Autos nicht nur beschneiden, wir müssen es sogar. Zumindest, wenn wir Städte besser, lebenswerter und sicherer machen wollen. So postuliert es sinngemäß Mikael Colville-Andersen. In seinen Vorträgen erläutert der Mobilitätsexperte und Geschäftsführer der Copenhagenize Design Company, die weltweit Städte berät, warum es um den Radverkehr vielerorts so schlecht bestellt ist. So planten Ingenieure seit Jahrzehnten Straßen für Autos – nicht für Menschen. Wie bei der Matrix würden von Verkehrsplanern Computermodelle entwickelt, in denen das natürliche Verhalten und die Bedürfnisse der Menschen keine Rolle spielten. Im Gegenteil hätten sie sich den Bedürfnissen des Automobils unterzuordnen. Wenig verwunderlich sei deshalb auch die Ausgestaltung von Radwegen, die »irgendwie« in diese Matrix gequetscht würden. Nicht weil man davon überzeugt oder selbst Radfahrer wäre, sondern weil es »irgendjemand« so wollte. Weitere Folgen der Matrix: Verkehrswege, die Fußgängern und Radfahrern Umwege oder durch Ampelschaltungen bedingt lange Wartezeiten aufzwingen würden sowie ausschließlich an sie gerichtete Victim-Blaming-Kampagnen wie »Köln steht bei Rot«. Alles, damit der Autoverkehr möglichst ungestört fließen kann. Nötig sei deshalb ein Paradigmenwechsel. »Raus aus der Matrix«, hin zu neuen Lösungen, die wir vor dem Hintergrund der zunehmenden Urbanisierung und der weiterhin hohen Anzahl von Verkehrstoten dringend bräuchten.
Infrastruktur alleine reicht nicht
Nimmt man die Ergebnisse der Analyse von Mikael Colville-Andersen ernst, so wird die unter anderem von der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Kreise und Gemeinden in NRW e. V. (AGFS) ausgerufene Forderung nach einer »Transformation der bestehenden Stadt und Verkehrsräume« allein wohl nicht für Veränderungen ausreichen. Genauso wichtig erscheint eine Transformation in den Köpfen der Verantwortlichen. Solange zum Beispiel Fahrradschutzstreifen mit geringen oder ohne Sanktionen weiter zugeparkt werden können, hilft kein zusätzlicher Kilometer Rad(schnell)-weg. Solange Sichtbeziehungen durch Autos oder durch (neue installierte) Werbeschilder unmöglich gemacht werden, bleiben Unfälle vorprogrammiert. Solange Baustellen Radwege zum Hindernisparcours machen und weitverbreitetes rücksichtsloses oder gefährliches Verhalten von Autofahrern nicht generell besser kontrolliert und schärfer sanktioniert wird, drohen selbst die ambitioniertesten Infrastrukturprojekte ins Leere zu laufen oder bereits bei der ersten Diskussion mit Bürgern und Geschäftsleuten kassiert zu werden.
Die aktuelle Situation zeigt: Mehr Radverkehr ist kein Selbstläufer. Um die vielfältigen Probleme wie steigenden Individualverkehr, zunehmende Urbanisierung, Klimawandel etc. anzugehen, braucht es Veränderungen. Wie die genau aussehen, ist noch nicht entschieden. Klar scheint jedoch: Ein entschiedenes »Weiter so!« wird nicht helfen, sondern die Probleme mittelfristig eher vergrößern.
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