Platzhirsche und spannende Neueinsteiger
18. Spezialradmesse Germersheim: Von Lasten und Liegern 2.0
war schon das Wetter. Wer die Spezi kennt, schätzt den Termin als absolute Schönwettergarantie. Für eine Messe, deren Spaßfaktor sich zu einem Teil auf der Outdoor-Teststrecke generiert, keine Nebensache. Doch am 27. April legte der Regen gar keine Pause ein, der Sonntag war weitgehend trocken, aber stark bewölkt und mit Temperaturen um 7 Grad keine Einladung zum Outdoor-Erlebnis. Eine echte Bewährungsprobe für die Spezi? Nur auf den ersten Blick: Schon am Samstagmorgen zeigte sich, dass Spezialradfreunde treue Freunde sind: Die Stadthalle Germersheim war schnell mit Interessierten und guter Laune prall gefüllt. „Wir waren beide Tage mehr als zufrieden, bei uns am Stand war es voll“ erzählt Kirsten Hase, Geschäftsführerin von Hase Bikes, einem der unternehmerischen Zugpferde der Branche. Ähnlich sah man es beim Stand von Icletta, dem deutschen Vertreiber der ICE-Dreiräder. „Wir sind sehr zufrieden mit dem Andrang hier“, meint Kirk Seifert, „das Interesse des Publikums war enorm, auch wenn draußen auf den Teststrecken natürlich etwas weniger ausprobiert wurde.“
Spezialrad International
Veranstalter Hardy Siebecke konnte mit 112 Ausstellern einen neuen Rekord verbuchen. Erstmals kam trotz erheblicher Visum-Schwierigkeiten sogar ein Anbieter aus China angereist, und auch ein finnisches Unternehmen präsentierte sein Liegerad – insgesamt kamen die Aussteller aus 17 Ländern. Dass mit etwa 9.000 Besuchern etwa zehn Prozent weniger Besucher als an den starken Spezi-Jahren verzeichnet wurden, darf man getrost auf das Wetter schieben.
Zu sehen bekamen sie dieses Jahr viel Neues – wenn auch nicht in allen Bereichen. Hieß Spezialrad vor wenigen Jahren vor allem klassisches Liege-Zweirad, ist dieser Sektor heute klar rückläufig. Wer hier neues bringt, tut das in einer besonderen Nische der Nische.
Besagter chinesischer Aussteller Xue Di Gu Xing zeigte etwa einen Rennlieger aus Stahl, der ebenso barock wie high-tech anmutet: Feinste Lötarbeiten nach alter Handwerkskunst bei den Anbau-Ösen und das erhobene (chinesische) Logo einerseits, aufwendig CNC-gefräste Alu-Teile und Details wie Kabelführung durch die Lenksäule andererseits machen Eindruck. Etwa 6.900 Euro kostet das bis ins Einzelteil individualisierbare, handgefertigte Rad per Internetversand.
Am oberen Ende der Carbon-Fahnenstange sind die Räder des Münchner Unternehmens Troytech angesiedelt. Es vervollständigt 2013 mit dem Low Rider Full Suspension das 4 in 1 Programm: Auf der Basis eines Hauptrahmens können vier verschiedene Höhen- und Komfortmodelle realisiert werden. Ab 5.290 Euro kann man flach liegend, aber hinterradgefedert über den Asphalt rauschen, wobei man im günstigsten Fall gerade einmal neun Kilogramm bewegen muss.
Speed hoch drei
Aber auch Paul Hollants von HP Velotechnik stellt fest: „Neukunden im Liegeradsektor gibt es heute viel mehr im Trike-Bereich – auch wenn es um E-Mobilität geht“. HP, neben Hase Bikes die zweite Branchengröße, zeigte auf der Spezi seinen Scorpion FS 26 in S-Pedelec-Version in Serienreife. Anders als der auf der Eurobike präsentierte Prototyp wird das 45 Stundenkilometer schnelle Trike von einem Go-Swissdrive-Motor angetrieben, der Akku hat eine Kapazität von 530 Wattstunden. „Das ist nicht einfach ein schnelleres Fahrrad“, so Geschäftsführer Paul Hollants, „dem Kunden gegenüber sprechen wir lieber vom ‚Fahrzeug‘.“ Der Unterschied fängt bei der gänzlich anders auszustattenden Beleuchtung an und hört bei Rückspiegel und Bremslicht noch lange nicht auf. Nicht zu vergessen das Nummernschild: Das voll gefederte Scorpion fs 26 S-Pedelec wird versichert wie ein Mofa. Vor allem im Pendlerbereich sieht man damit bei HP großes Potenzial. Beim ersten Fahrtest konnte das Trike mit vom Start weg harmonischer und kraftvoller Unterstützung überzeugen. Das Fahrwerk mit den im Vergleich zur Normalversion etwas härteren Federn vermittelt ein sehr sicheres Handling. Die Faltbarkeit des Rads bleibt voll erhalten. Einstiegspreis: 6.990 Euro.
Klotzen, nicht kleckern
Doch Preise sind hier gar kein großes Thema. Die Chefin von Hase Bikes bestätigt: „Niemand fragt, warum kosten eure Räder so viel Geld?“ Jeder hier weiß, dass Spezialräder kosten. Und ist bereit, für gute Qualität zu zahlen.
Entsprechend wird auch geklotzt: Die 2012 gegründete Firma BUS Velomo zeigt den ersten Pinion-Getriebe-Adapter fürs Liegezwei- beziehungsweise -Dreirad. Das heckgefederte X-Trike von Performer – eine Firma aus Taiwan, die von den Berlinern vertrieben wird, zeigt überzeugend, dass sich der 18-Gang-Antrieb sehr gut mit Liegerad-Optik verträgt.
BUS Velomo zeigt sich auch mit eigenen Modellen kreativ: Ein Liegesitz aus Holz kann leichter und komfortabler sein als gängige Mesch- und Schaumstoff-Sitze. Und selbst ein fast komplett aus Flugzeugholz gefertigtes Liegerad zeigt, was die Macher um Ingenieur Steffen Schönfelder alles können. Ein fahrbares Modell wurde leider nicht präsentiert.
Elektrisierter Lastentransport
E-Unterstützung, im Spezialrad-Bereich schon sehr lange präsent, ist heute für viele Hersteller schon fast selbstverständlich – umso mehr beim Transportrad – hier ist mehr Kraft für flottes Vorankommen nötig; die liefert beim Urban Arrow ein Daum Tretlagermotor. Bei der Optik des Rads trifft Nutzen auf Lifestyle – kaum ein anderes großes Cargobike kommt so elegant daher. Ein kräftig wirkender, tief gezogener Hauptrahmen ist mit verschieden langen Vorderbauten kombinierbar: Ein Kindersitzbank-Modul mit mobilem Verdeck, die klassische Kiste oder auch ein Gepäckträger mit Aufnahmen für den Korb oder die große Kunststoff-Werkzeugkiste können als Vorderbau geliefert werden. Auch ein Urban-Arrow-Dreirad könnte später mit einem eigenen Vorderbau möglich werden. Der Einstiegspreis für das motorisierte Zweirad liegt bei 3250,- Euro.
Kombi für Kinderreiche
Vorwiegend kindliche Fracht und deren Sicherheit haben die Macher von Bike43 (Bike for Three) im Kopf. Langer Radstand und möglichst weit zur Mitte verlagerter Schwerpunkt waren ihr Anliegen. Auch dieses Prototyp-Beispiel zeigt, wie gefällig Nutzwert auftreten kann. Wie etwa das bekannte Prana Lastenrad ist es ein Fahrrad mit verlängertem Hinterbau. Allerdings sind nicht nur die Hinterbaustreben verstärkt; zusätzlich sorgen Alubleche für mehr Steifigkeit. Zwei Kindersitze finden so auf dem verlängerten Träger Platz; der vordere, für das kleinere Kind, ist mit Schraubbolzen montiert, der hinter – ein klassischer Kindersitz zum Anbauen – ist per Schnelladapter abnehmbar und soll dann in der Serie den Blick auf eine Box für den Einkauf freigeben. Die Füße des vorderen Mitfahrers können mit Speichen oder den Fersen des Pedaleurs nicht in Konflikt kommen: Sie stecken in der Box-förmigen Aussparung, die die Trägerhole aufspannen. Natürlich soll es auch eine unterstützte Version des Bike43 geben. Doch zunächst feilt der Belgier Etienne Richelle noch an der Serientauglichkeit des Rahmens.
Body and Soul
Aber die Spezi wäre nicht die Spezi ohne die ganz speziellen Produkte: Räder etwa, die nicht nur mit den Beinen angetrieben werden wie das schon letztes Jahr vertretene Ruderrad oder das neu präsentierte Varibike. Tatsächlich ist die Idee, zusätzlich mit den Armen zu kurbeln nicht neu, doch das Rad von Martin Krais wirkt ziemlich ausgereift und nebenbei auch hochwertig verarbeitet. Das Rad besitzt einen das Unter- und Oberrohr kreuzenden weiteren Rahmenzug, an dessen Ende die Handkurbel sitzt. Das besondere am neuen Modell: die beiden Kurbelarme können unabhängig voneinander bewegt werden; man kann mit beiden Armen parallel oder gegengleich wie beim Pedalieren, aber auch nur einhändig kurbeln. Der zweite Griff bleibt dann dank einzelnem Freilauf in der Kurbel einfach hängen.
Die Crux bei der Sache: Gelenkt wird über einen ultraschmalen Lenker zwischen den Kurbeln – beziehungsweise während des Armeinsatzes gar nicht. Das Varibike ist auf quasi-freihändiges Fahren ausgerichtet: Der Nachlauf der Gabel kommt dem eines Einkaufswagens schon sehr nahe, das 29-Zoll-Vorderrad läuft also tatsächlich hemmungslos geradeaus, solange man ihm nicht per Körpereinsatz eine andere Richtung vorgibt. Wer ein normales Rad freihändig fahren kann, hat damit kein Problem. Allerdings erfordert es etwas an psychischer Überwindung, den Mini-Lenker, an dem auch die beiden Bremshebel sitzen, wirklich loszulassen und an beide Kurbelarme zu greifen. Dann geht’s aber ab: Der vom Hersteller versprochene 30-prozentige Zusatzschub macht sich deutlich bemerkbar. Entsprechend effizient dürfte auch der Trainingserfolg für den Oberkörper sein. Sie ahnen es: Der Spaß darf leider nicht auf öffentlichen Wegen stattfinden – schließlich ist freihändiges Fahren nicht im Sinne der StVO.
Testen mit und ohne Motor
Die Teststrecke am Busbahnhof war am regenfreien Sonntag trotz niedrigen Temperaturen gewohnt gut besucht; zudem gab es auch wieder die Möglichkeit, viele Aufrecht-E-Bikes am eigenen Parcours von Extraenergy zu testen. Und auch die Vorträge waren wieder gut besucht – vor allem Radreise-Berichte waren der Renner.
Ganz neu: Erstmals wurde vor der Spezi erfolgreich ein Fotowettbewerb ausgelobt und der Gewinner auf der Messe prämiert. Und noch eine organisatorische Veränderung: Das beliebte samstägliche Trike Race ist leider Geschichte. Der Publikumsmagnet wurde zumindest für dieses Jahr von einem Transportrad-Rennen abgelöst. Unterschiedlichste Cargo-Biker und ein Einradfahrer versuchten bei strömenden Regen, möglichst schnell und möglichst viel Transportgut von A nach B zu transportieren. Eine witzige Veranstaltung ohne verbissenem Ehrgeiz der Rennfahrer. Um einen echten Ersatz für das Trike Race darzustellen, müssen die Veranstalter, in diesem Fall Cargobike-Hersteller, noch etwas an Stückgut zulegen.
Doch egal, ob Besucher oder Aussteller: Unzufrieden waren alle Spezi-Beteiligten abends nur mit dem Wetter. Zurecht.
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