Rückblick - Das Branchenjahr 2022
Achterbahnfahrt im Post-Corona-Jahr
Der große Umzug
Es gibt wohl nicht wenige Marktteilnehmer, denen etwas wehmütig zumute war, als im Juli die Eurobike erstmals auf dem Messegelände Frankfurt ihre Tore öffnete. Doch der Abschiedsschmerz vom Bodensee war schnell verflogen. Es mag auch noch nicht alles perfekt funktioniert haben bei der Premiere der Eurobike in Frankfurt. Das wäre vielleicht auch nach 31 Jahren Eurobike in Friedrichshafen und nach über zwei Jahren Corona-Pandemie ein unrealistischer Anspruch. Und wer sich nicht an Details aufhängt, kommt nicht umhin, der Eurobike in Frankfurt ein formidables Comeback als Leitmesse der Fahrradbranche zu bescheinigen. Etwas über 1500 Aussteller, darunter die beiden führenden Einkaufsverbände in Deutschland, trafen auf knapp 34.000 Fachbesucher. Das mag etwas weniger sein als in den besten Eurobike-Jahren, aber angesichts internationaler Reisebeschränkungen auch deutlich mehr, als Veranstalter und Branche selbst bei optimistischer Sichtweise erwartet hätten. Unter den Erwartungen blieb hingegen die Zahl der »Fahrradfans«, also Nicht-Fachbesucher, am Wochenende. Warum im riesigen Einzugsgebiet nur etwas über 27.000 Messebesucher und -besucherinnen an den Publikumstagen aktiviert werden konnten, zählt zu den Fragen, bei denen die Messegesellschaft noch Ursachenforschung betreibt. Vermutungen gibt es einige, etwa, dass die Messe Frankfurt in der Bevölkerung eher als Standort von B2B-Messen bekannt ist. Und auch die zu dem Zeitpunkt immer noch präsente Corona-Pandemie mag einige Besucher und Besucherinnen abgeschreckt haben.
Dass die Pandemie im Juli nicht mehr nur in den Köpfen präsent war, haben dann viele Messeteilnehmer quasi am eigenen Leib erfahren. Es gibt dazu keine Zahlen, aber vor allem unter bei den Ausstellern gab es wohl einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die mit dem zweiten roten Balken auf dem Corona-Test vorzeitig die Koffer packen mussten.
Doch selbst unter jenen Messebesuchern und -besucherinnen, die nach der Eurobike mit Fieber und anderen Erkältungssymptomen das Bett hüten mussten, ist häufig zu hören, wie wertvoll der Messebesuch gewesen sei. Die Eurobike hat der Branche nicht nur demonstriert, dass sie unverändert der wichtigste Termin im Kalender des Fahrradmarktes ist, sondern auch, dass sich der persönliche Austausch mit einer großen Zahl von Marktteilnehmern in komprimierter Form kaum durch andere Formate ersetzen lässt.
(Markus Fritsch)
Fahrradbranche wird »konzerniger«
Es gab Zeiten, da zeichnete sich die Fahrradbranche durch ihre Kleinteiligkeit und strukturelle Vielfältigkeit aus. Diese ist zweifellos weiterhin vorhanden. Davon konnte sich jeder bei einem Besuch auf der diesjährigen Eurobike in Frankfurt überzeugen. Fakt ist jedoch auch, dass in der Branche gewaltige Konzentrationsprozesse im Gange sind. Die bestehenden Fahrradkonzerne bauen durch Zukauf von etablierten Marken ihr Portfolio und damit auch ihre Marktmacht weiter aus. Neue große Player im Fahrradbusiness, wie z.B. die
Pierer Group, positionieren sich, und mehr und mehr strecken auch Autokonzerne ihre Fühler nach attraktiven Fahrradmarken aus. Das Jahr 2022 lieferte dabei einige spannende Meldungen, die diese Entwicklung unterstreichen.
Pon auf der Überholspur
Auf Fahrradhersteller-Seite hat der niederländische Pon-Konzern im vergangenen Jahr weiter aufs Tempo in Richtung weltgrößter Fahrradhersteller gedrückt. Der bereits im Jahr 2021 eingefädelte Mega-Deal mit der Übernahme der Fahrradsparte von Dorel und Marken wie Cannondale, Schwinn oder GT wurde Anfang des Jahres 2022 unter Dach und Fach gebracht – und zwar für eine Gesamtsumme von 810 Mio. USD. Eine weitere Übernahme meldete die Pon Holding dann noch im September mit dem niederländischen Hersteller Veloretti. Zwar weitaus weniger spektakulär, ist Veloretti jedoch mit den Cityrädern und dem Standbein bei Betriebsfahrrädern ein weiterer Schritt in Richtung Marktführerschaft. Einen Meilenstein setzte zudem Pon-Ableger Kalkhoff mit der Eröffnung einer hochmodernen Fahrradfabrik in Emstek unweit des langjährigen Firmensitzes in Cloppen-burg.
Accell in neuen Investorenhänden
Auch der niederländische Fahrradkonzern Accell sorgte für viele Schlagzeilen in der Wirtschaftspresse. Über ein halbes Jahr gingen zwischen der ersten Ankündigung der Übernahme der Accell-Gruppe durch eine Investoren-Gruppe und dem Abschluss der Transaktion ins Land. Ein wahrer Wirtschaftskrimi, denn der geplante Deal drohte zwischenzeitlich zu scheitern. Nach einigem Hin und Her wanderte schließlich das bis dahin börsennotierte Unternehmen in die Hände von Finanzinvestoren. Ende Juli wurde dann auch der Abschied von der Börse ankündigt. Der letzte Handelstag der Accell-Aktie an der Amsterdamer Börse war der 19. August 2022.
Aufstrebende Pierer Group
Dynamisch nach vorne geht auch die Pierer Group, die ihr Fahrrad-Standbein nach dem Markteintritt im Jahr 2017 mit der damaligen Beteiligung an der Pexco GmbH Schritt für Schritt ausbaut. Kurz vor dem Wechsel ins Jahr 2022 verkündete das Unternehmen kurz hintereinander zwei Übernahmen: Von Group Rossignol wurde Fahrradhersteller Felt Bicycles übernommen. Zudem wanderte mit der Funbike GmbH ein in Österreich gut positioniertes Familienunternehmen unter das Pierer-Dach. Mit der Übernahme der Cargobike-Marke Johannson schließt Pierer zur Eurobike eine bis dahin bestehende Lücke im Sortiment und im Herbst holte das Unternehmen mit Syntace und Liteville zwei klangvolle Marken und mit deren bisherigem Inhaber Jo Klieber noch ausgewiesene technische Expertise ins Haus.
Fazua, Pinion und Enviolo
Mit Fazua, Pinion und Enviolo haben drei Unternehmen aus der Fahrradbranche in diesem Jahr neue Inhaber bekommen, die sich im Antriebssegment durch innovative Technologien über die Jahre hinweg etabliert haben. Alle drei stehen vor der Herausforderung, die nächsten Wachstumsschritte machen zu können. Enviolo kann dies seit Jahresbeginn unter dem Dach des Investmentunternehmens Inflexion tun. Fazua holte sich den Sportwagenbauer Porsche zunächst als Teilhaber an Bord. Mitte des Jahres sicherte sich Porsche dann alle Unternehmensanteile von Fazua. Unter das Dach eines Milliarden-Konzerns schlüpfte im Sommer auch der Spezialist für Getriebeschaltungen Pinion. 15 Jahre nach der Gründung des Unternehmens durch Christian Lermen und Michael Schmitz sichert sich Bombardier Recreational Products aus Kanada die Mehrheit am Getriebehersteller.
Finanzierungsrunden
Aber auch kleinere Marken und Newcomer waren am Finanzmarkt erfolgreich unterwegs. Beim Thema Fahrradmobilität wittern Investoren weiterhin Wachstumspotenzial. Davon konnten weitere Unternehmen profitieren und im Rahmen von erfolgreichen Finanzierungsrunden frisches Wachstumskapital einsammeln. Beispiele gefälligst? Rund 80 Mio. USD Finanzkapital sammelte der belgische E-Bike-Hersteller Cowboy im Januar ein, 20 Mio. Euro flossen im Rahmen einer Kreditfinanzierung in den Berliner E-Bike-Abo-Anbieter Dance, 24 Mio. Euro erhielt der Münchner E-Bike-Abo-Spezialist Rebike, eine Finanzspritze in »siebenstelliger Höhe« kam dem Fahrradhersteller Urwahn zugute, 16 Mio. Euro flossen der französischen E-Bike-Marke Eovolt zu, 20 Mio. USD brachte eine weitere Finanzierungsrunde dem E-Flotten-Anbieter Zoomo, 12 Mio. Euro Wachstumskapital flossen Carbon-Spezialist Rein4ced aus Belgien zu.
(Jürgen Wetzstein)
Achtung! Ketchup kommt!
Ein Fahrradladen in einer mittelgroßen Stadt im Westen von Deutschland Ende Oktober: Vor der Ladentür hält ein Lkw mit über 100 Fahrradkartons auf der Ladefläche. Ware eines führenden Fahrradherstellers, die der Händler größtenteils schon vor zwei Jahren bestellt hatte und die eigentlich schon im vergangenen Jahr hätte geliefert werden sollen, darunter vor allem Jugendräder und unmotorisierte Bikes in Einstiegspreislagen. Das Fahrradlager der Händler ist bereits brechend voll. Ein Sonderverkauf auf einer zusätzlich angemieteten Fläche soll jetzt helfen, den Lagerbestand abzubauen. Dass Mitbewerber vor Ort schon seit Wochen den Rotstift schwingen, erhöht zusätzlich den Handlungsdruck.
Ähnliche Szenen spielen sich seit dem Herbst überall in Deutschland ab. Der Ketchup-Flaschen-Effekt ist eingetreten und er überschwemmt den Fachhandel derzeit mit Fahrrädern. Stornos längst überfälliger Vororders werden kaum bis gar nicht akzeptiert, schließlich wissen die Hersteller auch nicht wohin mit dem ganzen Zeug.
Schon als das Jahr 2022 eingeläutet wurde, ahnten wohl die meisten Fahrradhändler, dass dieses Jahr nach zwei Jahren im Ausnahmezustand wieder ein bisschen normaler werden könnte. Und tatsächlich hat sich auch die Konjunktur im Fahrradmarkt ungefähr im selben Maß abgekühlt, wie nach und nach die Corona-Schutzmaßnahmen zurückgefahren wurden. Auch wenn zwischen beiden Entwicklungen wohl kein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Vielmehr dürfte neben einer allmählichen Marktsättigung vor allem auch die davongaloppierende Inflation für die zunehmende Kaufzurückhaltung verantwortlich gewesen sein. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt: Nachdem die Preise für Fahrräder im Allgemeinen und E-Bikes im Speziellen seit 2020 immer weiter durch die Decke gingen, finden nun vielerorts Preisreduzierungen statt, um Überbestände abzubauen. Von Inflation kann im Fahrradmarkt jedenfalls zum Jahresende 2022 keine Rede sein. Vielmehr holt die Branche erstmals seit Langem wieder kollektiv den Rotstift aus der Schublade.
(Markus Fritsch)
Aus dringend wird dringender
Auf der Klimakonferenz in Ägypten wurde Mitte November das aktuelle Ranking des Klimaschutzindex CCPI vorgestellt. Darin ist Deutschland um drei Plätze abgerutscht und belegt nun den 16. Rang von 59 Ländern, die bewertet wurden und die für etwa 90 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sind. Ein Hauptgrund für die verlorenen Plätze sind die hohen Emissionen im Verkehrssektor in Deutschland.
2021 ist die Pkw-Dichte hierzulande auf den Rekordwert von 580 Pkw pro tausend Einwohner und Einwohnerinnen angestiegen. Letzteren Wert kann man wohl kaum der amtierenden Bundesregierung ankreiden, doch auch diese steht in der Kritik. Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe befindet sich ein Klimaschutz-Sofortprogramm in der Abstimmung zwischen den Ministerien, welches das Bundeskabinett noch im November verabschieden soll. Eckpunkte, die aus dem Bundeswirtschaftsministerium in die Öffentlichkeit gelangt sein sollen, legen eine düstere Einschätzung nahe. Die Gesamteinsparungen im Verkehr dürften mit den geplanten Maßnahmen insgesamt um mindestens 118 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente zu kurz greifen und gefährden damit die Klimaziele der Regierung.
In der Gesellschaft und in kommunalen Entscheidungen gibt es hingegen auch positive Anzeichen für eine fortschreitende Verkehrswende. Vielerorts unterschreiben teils Hunderttausende Menschen Petitionen, in denen sie Fahrradstädte ausrufen wollen. In der Initiative »Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten« fordern inzwischen über 300 Städte und Kommunen, in denen über 24 Millionen Menschen leben, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Innenstädten. Kommunale Radwege, Abstellanlagen und Radschnellwege werden in große Mobilitätspläne gefasst und vielerorts auch umgesetzt.
Straßenverkehrsgesetz-Reform überfällig
Dabei stoßen die lokalen Vorhaben immer wieder auf juristische Hürden. Dringend ist eine Novelle des Straßenverkehrsgesetzes notwendig, um Städte und Kommunen handlungsfähiger zu machen. Diese brauchen mehr Freiheit, um umweltfreundlichen Verkehrsmodi wie Fahrradfahren und Zu-Fuß-Gehen proaktiv und nicht bloß bei einer bestehenden und messbaren Gefährdung mehr Raum geben zu können. Die Absicht, das Straßenverkehrsrecht und die ihm nachgelagerte Straßenverkehrsordnung zu überarbeiten, hat Verkehrsminister Volker Wissing bereits mehrfach erklärt. Besonders gerne schien er das in diesem Jahr auf Veranstaltungen der Fahrradbranche zu tun, so geschehen auf der Eurobike und der Parlamentarischen Abendveranstaltung von Vivavelo. Die Geduld, die der nun bereits über ein Jahr bestehenden Ampel-Koalition in dieser Hinsicht entgegengebracht wurde, scheint mittlerweile erschöpft zu sein. So sind sich Thinktanks à la Agora Verkehrswende mit den politischen und wirtschaftlichen Verbänden einig, dass die Zeit, die Versprechen einzulösen, längst gekommen ist. Vor wenigen Wochen verabschiedeten rund 140 ADFC-Delegierte bei der Bundeshauptversammlung einstimmig einen Appell an den Minister mit ebendieser Forderung.
Verbände verbinden
Bei derselben Versammlung wurde auch eine Zukunftsstrategie für die kommenden fünf Jahre angelegt. Die folgt einem weiteren Trend in der Interessensvertretung, nämlich dem, starke Bündnisse unter den Verbänden zu schaffen. Die Beharrungskräfte im autodominierten deutschen Verkehrssystem sind stark. Also müssen die Vertreter des Fahrrads miteinander und auch mit Akteuren, die andere klimafreundliche Verkehrsmittel oder Trends der Stadtentwicklung vertreten, an einem Strang ziehen. Diese Verbundenheit scheint mir in diesem Jahr gewachsen zu sein. Und meine Prognose lautet, dass sie es im nächsten Jahr noch weiter tun wird.
(Sebastian Gengenbach)
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