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Technik - Systemintegration

Alles wächst zusammen

Selbst entwickelte technische Lösungen pushen Marken und begeistern Fans – besitzen jedoch Stolpersteine. Je tiefer die Systemintegration reicht, desto schwieriger wird die Wartung. In welche Richtung entwickelt sich die Branche?

Das Apple des Fahrrads« versprach VanMoof-Mitgründer Taco Carlier Journalistinnen und Journalisten, wenn er sie durch die Amsterdamer Unternehmenszentrale führte. Zugegeben, ein paar Argumente hatte er auf seiner Seite. Darunter ein integratives Bike Design mit einem Oberrohr, das in Front- und Rücklicht ausläuft, in dem zusätzlich ein schlanker Akku sitzt. Das Feature einer Wegfahrsperre, dem Smart Kick Lock. Ein Peace-of-Mind-Diebstahlschutz, der verspricht, gestohlene Fahrräder zurückzubringen oder zu ersetzen. Die Summe selbst entwickelter Einzellösungen vom Cockpit bis zum E-Antrieb erinnerte schon mal an das geschlossene System des Tech-Giganten aus Cupertino.

Die Pluspunkte der schicken Lösungen

Seit das eher minimalistische Urban Bike in den Städten seine Nische erobert, versuchen sich deren Hersteller von der Masse abzuheben, indem sie mit dem Prinzip »Fahrradrahmen im Mix bewährter OEM-Komponenten« brechen. Dabei gibt es die unterschiedlichsten Ausprägungen an solitären Lösungen am Fahrrad. Das kann die fesche, markeneigene Lenker-Vorbau-Kombi fürs Cityrad sein. Weiter geht es bei leichten E-Bikes mit im Rahmen integrierten Akkus. Dafür stehen Marken wie Cowboy, Coboc oder die Stromer-Tochter Desiknio.

_Die fortschreitende Integration von Bauteilen in ein Gesamtsystem ist eine Entwicklung, die sich nicht aufhalten lassen wird, damit aber neue Herausforderungen in den Bereichen Service und Reparierbarkeit schafft. _

Manchmal ist die originelle Eigenentwicklung nur Behauptung und die Innovation bescheiden. Das ist dann der Fall, wenn nach wie vor mit bekannten OEMs ausgestattet wird und lediglich Logos verschwinden oder in Spezifikationen verschwiegen werden. Von den Autoherstellern lernen heißt das Argument für diese Geheimniskrämerei. Man möchte als Marke wahrgenommen werden, weswegen man Zulieferer ungern nennt. Die Teile- und insbesondere Motorlieferanten haben oft kein Problem damit, den Markt auch mit White-Label-Produkten zu bedienen. Zumindest das ungeübte Auge erkennt dann nicht mehr, wer etwa den Motor herstellt.

Gewichtsersparnis als Integrationsgrund

Im urbanen Segment finden sich naturgemäß Fürsprecher solcher Ansätze unter den Händlern, die eine entsprechende Zielgruppe mit zurückhaltendem Design und unauffälliger, leichter Technik bedienen. So sagt Julian Reckel, Werkstattleiter beim Fahrradgeschäft »Drahtesel Münster«: »Viele Leute wollen nicht den SUV mit 750 Wattstunden, sondern ein schlankes, leichtes Bike. Wir haben eine prominente Innenstadtlage, sind seit der ersten Stunde mit Stromer, Coboc und auch Schindelhauer dabei. Diese Marken verkaufen wir extrem stark.« Für Städterinnen und Städter, die ihr Fahrrad mangels Garage in den Keller oder die Wohnung tragen, ist geringes Gewicht ein wichtiges Kriterium. Allerdings räumt Reckel ein, dass der Aufwand aufseiten der Werkstatt höher sei. »Anders als beim Bosch-System ist im Coboc und Schindelhauer der Akku im Rahmen eingeschlossen. Service und Fehlersuche sind aufwendiger. Dafür fahren wir regelmäßig zu technischen Schulungen nach Heidelberg und Berlin.« Mit solchen Schulungsangeboten ermöglichen diese Hersteller ihren Partnerhändlern einen adäquaten Service. Doch Systemintegration kann, wenn man sie auf die Spitze treibt, durchaus auch zum Problem werden, wie das vergangene Jahr zeigte.

_Pinion zeigt mit der Motor.Gearbox.Unit, wie »gute« Integration aussehen kann: Wenn sie das Versprechen einlösen kann, dass Bauteile durch ihre Verbindung weniger fehleranfällig werden. _

Der Supergau für Fans

So groß die Begeisterung für sinnvolle Integration ist, so heftig können die Schattenseiten singulärer Lösungen Kundinnen und Kunden treffen. Kommt es zum Supergau einer Unternehmensinsolvenz, stehen Fans wie Zulieferer der Marke buchstäblich auf dem Schlauch. Bis zur Insolvenz 2023 konnte VanMoof mit seinen eigenständigen Lösungen noch viele überzeugen. Danach bestand aber sofort und umgehend die Gefahr, dass die gesamte Flotte wegen drohender Server-Abschaltung nicht mehr benutzbar sein würde. Reparaturarbeiten sowie Ersatzteillieferungen wurden eingestellt. Was eben noch der besondere Kick und Mehrwert am Bike war, wird für die Besitzerinnen und Besitzer nun zum Problem. Findige Wettbewerber boten sehr schnell technische Lösungen an und warben dabei unverhohlen für ihre eigenen Produkte. Auch wenn es nach der Übernahme von VanMoof durch Lavoie heute wieder Service-Partner für Wartung, Reparatur und Verkauf gibt, war die Schrecksekunde deutlich zu lang, um einer tief reichenden Systemintegration nach Art von VanMoof und vorbei an allen Branchenstandards noch den Segen zu erteilen.
Anders als bei weitverbreiteten Komponenten wird sich kaum eine Werkstatt an die unbekannten Bauteile wagen. Zu den Schlüsselfragen für eine gelungene Systemintegration gehört daher, wie Anbieter in Sachen Wartung und Service aufgestellt sind. Eine durchschnittliche Fahrradwerkstatt kann heute sehr oft noch ein Schmuckstück aus den 70er-Jahren reparieren. Ob die Insellösungen von heute in 50 Jahren ebenso bei einem Werkstattbesuch bedient werden können, darf sehr bezweifelt werden. Damit stellt sich nicht zuletzt die Frage der Nachhaltigkeit neuer Produkte.

Begrenzte Entwicklungspower, fehlende Diagnose-Software

Entsprechend zurückhaltend äußert sich Axel Nordmann, Geschäftsführer von »Der Radladen« in Bamberg. Er ist generell skeptisch, mit Produkten an den Start zu gehen, die eine relativ geringe Marktverbreitung haben oder noch sehr neu sind. »Wir würden am liebsten fünf Jahre warten, bevor wir das erste Fahrrad bestellen«, sagt der VSF-Fachhändler. Ebenso zögerlich zeigt er sich bei Insellösungen von kleineren oder mittleren Herstellern. Schließlich seien es komplexe Dinge, die beim Fahrrad zusammenarbeiten müssen. Als Kriterien für problematische Systemintegration nennt Nordmann kleine Stückzahlen, begrenzte Entwicklungs-Power, fehlende Diagnose-Software und spärliche Infos für den Handel. Bei einem Direktvertrieb hätte der Händler ohnehin keine Chance, für solche Produkte geschult zu werden. Da müsse den Kundinnen und Kunden klar sein, dass ihnen die Werkstatt vor Ort in der Regel nicht helfen kann.

Neue Funktionalitäten, wie hier das ABS von Bosch, sorgen dafür, dass zwingend Bauteile enger miteinander verbunden werden.

Auch wenn er im Notfall ein Auge zudrückt, etwa mit Hinblick auf das frühere VanMoof-Dilemma: »Mechanisch machen wir an den Fahrrädern auch was. Wir wollen die Leute ja mobil halten. Wenn es etwas Elektronisches ist, dürfen wir nicht reingucken.« Deshalb sei es aus Kundensicht keine schlechte Idee, sich für ein Produkt zu entscheiden, das langfristig funktioniert. »Wo man weiß, das wird oft gebaut. Händler und Service-Dienstleister haben es häufig in der Hand.«
Als Paradebeispiel für gelungene Systemintegration gilt unter Händlern der Hersteller Bosch, obgleich es sich ebenfalls um ein geschlossenes System handelt. Allerdings bringt es die Vorteile einer großen Marktdurchdringung mit. »Ein gutes, integriertes System mit allen Komponenten, weil viel Entwicklungsarbeit drinsteckt«, findet Nordmann. »Die Power ist da, auch die kommenden Probleme zu lösen. Die Versorgung mit Ersatzteilen ist gewährleistet.« Bei Bosch strebt man eine Verfügbarkeit von sechs Jahren an.

Systemintegration braucht mehr als Soft- und Hardware

Stimmt das Paket, begrüßt Nordmann die Innovationen. Dazu gehört etwa die Motor Gearbox Unit (MGU) von Pinion, in der Mittelmotor und Getriebe verschmelzen. Mit FIT setzt Pinion-Partner Biketec auf die Verbindung von Hilfsmotor, Akku, Display, Bedienungseinheit sowie Smartphone. Unter anderen vertraut die Einkaufsgenossenschaft ZEG bei ihren Fahrradmarken auf diese Technologie. Sie verspricht dem Händler ein zeitsparendes System, direkten Zugang für Ersatzteile und ein Wartungstool für Diagnose- sowie Software-Updates. »Wir hoffen sehr auf das System, weil es im Vergleich mit den Massen-Mittelmotoren wegen seiner Haltbarkeit eine nachhaltige Lösung sein kann«, glaubt Nordmann. Eine Herausforderung sieht er im Zusammenspiel: »Es sind mehrere Player, die sich ein Gesamtsystem ausgedacht haben. Wer einmal mit Projektmanagement mit Zwischenfirmen gearbeitet hat, ahnt, dass es nicht so einfach ist. Mir ist nicht ganz klar, wie das Service-Konzept genau laufen soll. Also hilft mir der Fahrradhersteller, hilft mir FIT oder Pinion?«
Niklas Henkel, Head of Sales & Product bei Pinion, grenzt die Verantwortungsbereiche klar ab: »Gibt es technische Probleme bei einem Bike mit Pinion-MGU, ist Biketec der einzige Ansprechpartner für den Handel. Der Handel ist der Ansprechpartner für den Endkunden. Die MGU selbst kann komplett ausgetauscht werden. Der Handel bekommt eine neue beziehungsweise vergleichbare Unit.« Bei Pinion ist man zuversichtlich, sämtliche Anforderungen einer höheren Systemintegration zu erfüllen.

Sinnvoll kann Systemintegration sein, wenn dadurch der Funktionsumfang erweitert werden kann. Bei Pinion ergeben sich so zusätzliche Einstellmöglichkeiten.

Man sieht sich in der Lage, neben Hard- und Software auch Wartung, Austausch, Ersatzteile und Verantwortungsbereiche zu stemmen. Intern reicht das System weiter: »Im Hintergrund arbeiten wir mit Biketec zusammen, um Probleme zu analysieren oder die Garantieabwicklung zu machen, ohne dass der Kunde oder Händler involviert ist«, sagt Henkel. Zum Stichwort Markteinführung sagt der Pinion-Mann: »Die meisten Fahrräder mit MGU sind mittlerweile im Handel verfügbar.«

Kinderkrankheiten gehören dazu

Neue Systemlösungen brauchen Zeit, bis sie am Markt überzeugen. Stimmt der Service, lässt sich trotz Kinderkrankheiten Vertrauen aufbauen. So berichtet Axel Nordmann über frühere Startschwierigkeiten beim Zusammenspiel von Specialized und Brose. Der Berliner Antriebshersteller ist zugleich Beispiel für ein offenes System, das Herstellern den Vorteil von weitgehend freier Komponentenwahl und viele Anpassungen bietet. »Dann habe ich Systemintegration vom Hersteller, der sich alle Komponenten dazukauft. Und ich sitze in der Mitte seines Netzes«, sagt Nordmann. »Es hat gedauert, bis es funktioniert hat. Aber die Kunden sind super behandelt worden. Der Austausch war kostenfrei. In der Werkstatt sind wir halbwegs kompensiert worden. Heute sind wir sehr zufrieden mit dem System. Aber wir hätten lieber etwas anderes gemacht in der Zeit.«

Im Zweifel triumphiert die Standardlösung

Abseits komplexer Antriebssysteme lassen sich auch bei der klassischen Hardware Zweifel anmelden, wie sinnvoll Integration ist. »Ich habe ein paar Kandidaten im Kopf, die das immer wieder probieren«, sagt Nordmann. »Eine spezielle Lenker-Vorbau-Kombination für ein City-Fahrrad. Ein Alltagsfahrzeug, das drei Jahre auf dem Markt ist. Das sieht überschick aus, nur ergonomisch ist das unflexibel. Warum sollte ich ein Fahrrad bauen, das ich nicht an den Fahrer oder die Fahrerin anpassen kann? Für das es in fünf Jahren keine Ersatzteile mehr gibt? Diese Art von Systemintegration finde ich bedenklich.«
Die Fahrradbranche lebt von Weiterentwicklungen, auch in Sachen Systemintegration. Damit sich eine Innovation für Verbraucherinnen und Verbraucher lohnt, Handel wie Werkstatt vernünftig damit arbeiten können, muss sie zu Ende gedacht sein. Das heißt, dass sämtliche Service-Anforderungen mit abgedeckt werden müssen. Hersteller müssen dafür sorgen, dass reparaturanfällige Teile über den Tag hinaus verfügbar sind. Solange die Hausaufgaben nicht erledigt sind, könnte das Fazit des Bamberger Händlers gelten. Ginge es nach ihm, sollten nur bewährte Dinge an Fahrrädern zugekauft und verbaut werden. Ohne Sonder- oder Insellösung. Nordmann resümiert: »Die Aufgabe der OEMs ist es, tolle Rahmen zu entwickeln und die mit bewährten Komponenten auszustatten. Vielleicht ist es in zehn Jahren anders. Aber jetzt funktioniert das am besten. Und ein Apple der Fahrradbranche brauche ich nicht.« //

24. Juli 2024 von Wolfgang Scherreiks

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