Report - Chronologie der Liefersituation
Angespannte Lieferkette
Auch vor der Covid-19-Pandemie waren Lieferverzögerungen bei Fahrrädern und Komponenten keine Seltenheit. Seit jeher gibt es das Spannungsfeld zwischen Herstellern, die eine möglichst frühe Vororder und gute Planbarkeit benötigen, und dem Radhandel, der gerne kurzfristige Trends und Entwicklungen berücksichtigen möchte und eine gerechte Verteilung des wirtschaftlichen Risikos braucht. Eine 2019 von velobiz.de durchgeführte Händlerumfrage ergab, dass rund ein Drittel der Befragten bereits damals zwei bis vier Monate länger als angekündigt auf Fahrradlieferungen warten mussten. Dann kam Ende 2019 das neuartige Virus allmählich ins Blickfeld. Zunächst scheinbar lokal in Wuhan verortet, ließ sich die Verbreitung bekanntermaßen kaum aufhalten. In chinesischen Fabriken kam es zu Schließungen und Produktionsausfällen. Die Ferien zum chinesischen Neujahrsfest wurden Ende Januar und Anfang Februar 2020 um einige Tage verlängert. Es entstanden Verzögerungen von Tagen bis wenigen Wochen, bedingt durch Quarantänemaßnahmen und die Umsetzung von Schutzkonzepten. Die Containerausfuhren der Seefracht lagen in der Folge bereits im Februar 30 Prozent unter dem Vorjahreswert. Die Fahrradbranche stellte sich auf entsprechende Verzögerungen ein. In einer damaligen Umfrage des ZIV gaben rund 60 Prozent der Teilnehmenden an, mit Verzögerungen von vier bis sechs Wochen zu rechnen.
Im März 2020 verhängte dann auch die deutsche Bundesregierung den ersten Lockdown, Produktionsstandorte wurden teilweise geschlossen. Bei HP Velotechnik lief die Anpassung der Produktionsorganisation ziemlich reibungslos. »Wir mussten die Produktion etwa zwei Wochen lang massiv herunterfahren, konnten sie dann aber schnell wieder hochfahren. Wir haben die Belegschaft geteilt und die Mitarbeiter an den Bildschirmen gingen ins Homeoffice. Nach ein paar Wochen lief dann alles wieder unter Volldampf«, erklärt Pressesprecher Alexander Kraft. Die fehlenden Wochen verfehlten ihre Wirkung in der Folge trotzdem nicht.
Nachfrage explodiert
Mit dem guten Wetter im Lockdown und der baldigen Öffnung der Fahrradläden im April 2020 begann der Ansturm auf die Fahrradbranche und die fortlaufende Nachfrage nach Rädern und Ersatzteilen nahm ihren Lauf. Das restliche Jahr wird nicht nur im Branchenbericht des Wuppertal Instituts positiv beschrieben. »Es scheint sich herauszustellen, dass die Zeit des ersten Lockdowns zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland die Fahrradwirtschaft in 2020 nur im März negativ betroffen hat und mit den anschließenden Lockerungen dann Nachholeffekte einhergingen.«
Die hohe Nachfrage überstieg das Angebotsniveau und führte rasend schnell zu leer gefegten Lagern. Eine Situation, die bis heute weitgehend fortbesteht. »Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 sind, zusätzlich begünstigt durch das wochenlang sommerliche Wetter, die Bestellzahlen explodiert, was uns erst mal vor logistische Herausforderungen gestellt hat. Im Spätsommer wurde es dann schwierig mit der Komponentenversorgung und abzusehend sehr langen Lieferzeiten für nahezu alle Teile, die für den Bau der Bikes benötigt werden«, ordnet Benjamin Brochhagen, Marketing-Manager bei Radon Bikes den zeitlichen Verlauf ein. Bei HP Velotechnik sei der Zeitpunkt etwas später gekommen. Als Hersteller kleinerer Stückzahlen habe man mehr Flexibilität, auf Ersatzteile ausweichen zu können und diese über Nebenwege zu beschaffen. »Ab Mitte Oktober 2020 kursierte das Gerücht, man müsse Shimano-Teile nun für 2022 bestellen«, so Kraft.
Beim baskischen Produzenten BH Bikes weist der Vertriebsverantwortliche Steffen Krill auf die Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen hin. »Wir haben immer probiert, unsere Lieferungen individuell anzupassen und in die Länder zu leiten, die zum jeweiligen Zeitpunkt weniger eingeschränkt waren. Es gab beim Lockdown große Unterschiede, wann und wie stark geschlossen wurde.« Die Firma, die den Löwenanteil der Montage in Portugal betreibt, berichtet zudem von drei Wochen zu Beginn der Pandemie, in der die Produktion quasi stillstand. Vom jüngsten Lockdown, der aufgrund der hohen Inzidenzwerte durch die Delta-Variante im Juni verhängt wurde, sei die Firma wieder betroffen. Die Produktionsleistung sei entsprechend von stetigem Auf und Ab geprägt. Als Hemmnis wirkt auch bei BH Bikes das Fehlen bestimmter Anbauteile. Es fehlte zum Beispiel an Mittelklassebremsen von Shimano. Diese werden im Werk in Malaysia produziert, in dem die Produktion – Stand Mitte Juli 2021 – auf unbestimmte Zeit ruht.
Michael Wild vom Shimano-Importeur Paul Lange bestätigt den Brancheneindruck, dass das Angebots- dem Nachfrageniveau hinterherhinkt. »Die Lieferzeiten lassen sich nicht pauschalisieren – bei der Vielzahl an Produkten, Produktgruppen, unterschiedlicher Produktionskomplexität und unterschiedlichen Produktionsorten […] blieb das Angebot zu unterschiedlichen Zeitpunkten mehr oder weniger stark hinter der Nachfrage zurück.«
Géraldine Bergeron, verantwortlich für Marketing im Road-Bereich Europa bei Sram stellt ähnliche Entwicklungen fest. »Grundsätzlich fing nach drei Monaten Pandemie der Anstieg der Produktbestellungen an. Vorher arbeiteten wir bei den meisten Produkten mit 30 Tagen Vorlaufzeit. Spezifische Vorlaufzeiten veröffentlichen wir nicht, diese wären aufgrund unserer breiten Produktpalette ohnehin schwer zu quantifizieren. Erhöht haben sich die Vorlaufzeiten aber definitiv.« Schließungen von Produktionslinien konnten laut Bergeron bei Sram bisher vermieden werden.
Die starken Unterschiede in den Lieferzeiten für Teile erschweren es, ein umfassendes Bild zu zeichnen. Die Extremwerte sind dennoch bemerkenswert und erschweren die Planungsaufgaben bei den Fahrradherstellern. Bei Radon äußert sich Benjamin Brochhagen zum Einfluss auf die Kalkulierbarkeit. »Auch jetzt ist die Nachfrage weiterhin sehr hoch, die aktuell größte Herausforderung für uns sind die Lieferzeiten von Komponenten, die teilweise bei knappen zwei Jahren liegen und damit einhergehend die schwer kalkulierbaren Lieferzeiten der Bikes.« Auch einen Schritt weiter, in der Auslieferung zwischen Hersteller und dem Radhandel, sind die Zeiten nach oben geschnellt. Gelitten hat vor allem die Verlässlichkeit der Angaben.
Container – Blase der Unsicherheit
Als Nadelöhr in der globalen Lieferkette hat sich die Verfügbarkeit von Containern in der Seefracht erwiesen. Teilweise wird von Transportrouten berichtet, die unter normalen Umständen für 2.000 Dollar pro 40-Fuß-Container angeboten werden können und nun 16.000 Dollar kosten. Dies ist gleichzeitig Folge und Ausdruck der hohen Nachfrage, die den Logistikunternehmen begegnet. Die Reedereien fuhren im letzten Jahr Rekordgewinne ein.
Die Blockade des Suezkanals ist nur ein Beispiel von Verzögerungsquellen in der Seefracht. Die Container selbst sind derzeit teure Mangelware.
China International Marine Containers (CIMC), der weltgrößte Produzent von Containern konnte in den ersten beiden Quartalen 2020 weniger produzieren als im Vorjahr. Mit 165.400 Twenty-foot Equivalent Units (TEU – das Volumenäquivalent eines 20-Fuß-Containers) lag der Output 64.500 Einheiten unter der 2019er-Leistung. Auch im zweiten Quartal wurden deutlich weniger Container hergestellt. Die Differenz betrug hier ganze 149.900 TEU. Umgerechnet ergibt allein das eine Quartal dieses einen Herstellers ein fehlendes Transportvolumen von fast fünf Millionen Kubikmetern.
Laut Li Muyuan, dem Vizepräsidenten der Vereinigung der chinesischen Containerindustrie ist die anfängliche Unklarheit, wie Corona auf den Welthandel wirken werde, schuld an mangelnden Containerbestellungen. Zu Beginn der Pandemie wurden Bestellungen für Container abgesagt und die Produktion aufgrund voller Lager an den Häfen und bei den Herstellern heruntergefahren. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2020 habe es kaum Bestellungen gegeben. Diese nicht produzierten Container hinterließen in der zweiten Jahreshälfte ein Loch in der globalen Lieferkette, das sich nur langsam flicken lässt.
Den explosionsartig gestiegenen Transportvolumen konnten die Reedereien dieser Welt nicht gerecht werden, weil die Container fehlen. Verstärkt wurde dieser Umstand durch den Wegfall eines Großteils des Luftverkehrs. Passagiermaschinen erfüllen neben dem Transport von Reisenden auch einen Gütertransportzweck. Im Jahr 2015 beispielsweise wurden 46,7 Prozent des globalen Luftfrachtaufkommens mit Passagierflügen abgedeckt (Internationaler Fluggesellschaftsverband IATA). Die Ausfälle im Flugverkehr dürften größtenteils als Nachfrage bei der Seefracht hinzugekommen sein.
Der Rückstand, der im vergangenen Jahr entstanden war, stieß auf die gewachsene Nachfrage. Die Lieferzeiten erhöhten sich und schoben sich wie eine Welle vor den Frachtschiffen her. Die Blockade des Suezkanals durch das Schiff Ever Given im März sorgte für einen weiteren Rückschlag. Einige Tage war die wichtige Handelsroute nicht passierbar. Der Frachter selbst bereitete einigen Akteuren der Radbranche noch länger Bauchschmerzen. Er wurde bis Mitte Juli von den Behörden festgehalten. HP Velotechnik, Hartje, Merida & Centurion und BH Bikes zählten zu den Betroffenen und warteten sehnsüchtig auf die gestrandeten Lieferungen.
Im Juni brachten Häufungen von Covid-19-Infektionen den Hafen Yantian in der chinesischen Metropole Shenzhen zu einem Leistungseinbruch. Dort stauten sich zeitweise bis zu 130 Containerschiffe und zahlreiche Lkws, deren Ware nicht verladen werden konnte. Die Produktivität des viertgrößten Containerhafens der Welt fiel auf 60 Prozent des Normalniveaus. Der Manager der Reederei Maersk, Vincent Clerk, stufte die Einschränkungen in einem Pressegespräch Mitte Juni als folgenreicher für die globalen Lieferketten ein als die Blockade des Suezkanals.
Branchenwachstum sorgt für Knappheit
Was geliefert werden soll, muss zunächst produziert werden. Die Kapazitäten dafür wurden seit Beginn der Pandemie deutlich gesteigert. Laut Michael Wild hat Shimano »im zweiten Halbjahr 2020 den höchsten Output in seiner 100-jährigen Geschichte erzielt und baut weitere Kapazitäten auf – in 2021 voraussichtlich auf das 1,5-fache der Kapazitäten von 2020.« Ein ähnliches Wachstum verzeichnet laut dem Jahresbericht der Industrievereinigung Conebi für die gesamte europäische Fahrradbranche. Der Umsatz konnte 2020 um 40 Prozent auf 18,3 Mrd. Euro gesteigert werden. Der Aufbau neuer Produktionslinien und das notwendige Einstellen und Anlernen von neuem Personal ist dennoch kein Prozess, der über Nacht zu bewältigen ist. Selbst wenn eine Erhöhung der Kapazität durchführbar ist, kann die Rohstoffknappheit, seit einigen Monaten ein weiterer Dauerbrenner unter den Flaschenhälsen, zu weiteren Lieferverzögerungen beitragen.
Zu bestimmen, welche Teile am meisten fehlen, ist keine leichte Aufgabe. Laut Géraldine Bergeron sind bei Sram quasi alle Teile betroffen. Besonders schwierig zu bekommen seien allerdings komplexe Teile. »Alles hat eine hohe Nachfrage, aber Federung und Antrieb stellen aufgrund ihrer Komplexität und Materialanforderungen die größten Herausforderungen dar.« Bei Radon tut man sich schwer, einen Schwerpunkt an fehlenden Teilen auszumachen. Teilweise ist die Beschaffung von bestimmten Teilen nicht nur schwer, sondern quasi unmöglich, wie ein Beispiel eines Radon-Teamfahrers zeigt. »Ein von uns unterstützter Fahrer wollte ein bestimmtes Paar Shimano-Pedale haben. Diese waren aber auf Monate hin nicht zu bekommen«, erzählt Benjamin Brochhagen.
Wann entspannt sich die Lage?
Unlängst hat der VSF ein Fact Sheet veröffentlicht, in dem die Gründe für die hohen Lieferzeiten erklärt werden und um Verständnis der Kundschaft gebeten wird. Der Wunsch nach Erklärung und Verständnis lässt sich auch in der Branche vernehmen. »Ansonsten begeben wir uns in einen Rechtfertigungswettbewerb, der für niemanden zielführend ist«, so Alexander Kraft. Aussagen wie diese unterstreichen die Sensibilität, die das Thema Lieferfähigkeit im Moment hat. Ein genauer Ausblick, wann wieder mit den vor der Pandemie gewohnten Lieferzeiten zu rechnen ist, ist im Prinzip nicht möglich. Vorsichtige Schätzungen bewegen sich im Jahr 2022 und bis ins frühe 2023. Es gibt erste Teile, die erst 2024 wieder verfügbar sein sollen. Wie die Zukunft dann aussehen wird, bleibt ungewiss. Im Branchenbericht des Wuppertal Instituts wird eine Zeit nach dem derzeitigen Branchenwachstum angemahnt. »Eine mögliche Rezession kann selbstverständlich auch diese Branche betreffen.« Fürs Erste bleibt die zentrale Herausforderung die Liefersituation. Die Metapher der Lieferkette ist passender denn je und bestätigt, was der Fahrradhandel ohnehin weiß: Jede Kette hat ein schwächstes Glied. Das darf nicht reißen.
Verknüpfte Firmen abonnieren
für unsere Abonnenten sichtbar.