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Blick ins Kaleidoskop
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Report - Perspektiven im E-Bike-Markt

Blick ins Kaleidoskop

Mehr E-Bike war nie. Zu diesem Fazit kommt man sicher auch wieder nach der Leitmesse Eurobike. Tatsächlich bringt der Siegeszug des Elektrorads aber nicht nur Gewinner mit sich. Genau besehen spricht vieles dafür, dass die Dynamik alte Verhältnisse im Markt gründlich verschiebt.

Eine auf den ersten Blick gute Nachricht vorweg: Die von vielen Beobachtern und Experten für das laufende Jahr angenommene ­Konsolidierung im E-Bike-Markt ist nicht eingetreten. Trotz schlechten Wetters in 2013 mit nachfolgendem Überangebot und Restbeständen und trotz Stiftung Warentest, die auch in jüngster Vergangenheit wieder für Unsicherheit und Vertrauensverlust bei Kunden sorgt. Allerdings mehren sich die Stimmen, die vor dem Hintergrund stagnierender Absatzzahlen in den Kernmärkten, zunehmendem Preisdruck, neuen Unternehmen, die in den Markt drängen, und einem kaum noch zu durchschauenden Angebot hier nur eine Schonfrist sehen.

Messen: Mehr Kaleidoskop als ­Branchenspiegel

Besonders offensichtlich werden die Entwicklungen und Umbrüche im Markt auf internationalen Messen wie der Eurobike. Konnte man in den vergangenen Jahren bei ­großen Fahrradmessen noch von einem Spiegel der Branche sprechen, so gleicht die Ansicht seit einiger Zeit eher dem Blick durch ein Kaleidoskop. Bunter und kleinteiliger ist die Anbieterlandschaft geworden. Mit neuen Anordnungen, komplizierten Beziehungsgeflechten und sich je nach Betrachtungswinkel ständig ändernden Mustern. Aus der Vielfalt des Angebots die richtigen Produkte für neu zu produzierende Zweiräder auszu­wählen, Kundenwünsche zu antizipieren, Lieferfristen zu beachten und Servicequalität in die Entscheidung einzubeziehen, stellt Produktmanager, Einkaufsverbände und Fachhändler inzwischen gleichermaßen vor ­Herkulesaufgaben.

Konzentration als Lösung?

Viele Entscheider gehen inzwischen lieber den einfacheren Weg und konzentrieren sich auf bewährte Komponenten, Antriebssysteme und Marken. Angesichts der bekannten Schwierigkeiten sicher nicht die schlechteste Variante. Aber auch die hat natürlich ihre Schattenseiten. Vor allem, wenn sie wie aktuell im Markt mit einer Verengung des Blickwinkels auf die Antriebssysteme einhergeht. Galt früher beispielsweise die Shi­ma­no-Schaltung als scheinbares Qualitätsmerkmal für ein ganzes Fahrrad, so gilt das im E-Bike-Markt tendenziell auch für Modelle mit Bosch-Antrieb. Die Folge: Austauschbarkeit der Produkte, eine weitere Schwächung der Herstellermarken und ein erhöhter Preisdruck angesichts technisch weitgehend vergleichbarer Räder. Von ­dieser Entwicklung profitieren augenscheinlich vor allem umsatzstarke Hersteller, Handelsketten und Verbände wie BIKE&CO und die ZEG. Denn ein Rad mit Bosch-Antrieb lässt sich natürlich immer relativ gut verkaufen, wenn der Preispunkt stimmt.

Neue Chancen auch für kleinere Hersteller

Gegen die Marktmacht der Großen haben es kleine und mittlere Hersteller immer schwerer. Allerdings gibt es auch Chancen, denn selbst die Nischen bieten im Massenmarkt E-Bike reichlich Platz. Längst nicht jeder Kunde will ein Standardrad mit angeflanschtem Motor, nicht jeder stellt Fahreigenschaften und Vernunft über Design und Stil und viele lehnen es auch ab, mit der gleichen Marke, dem gleichen Antrieb und dem gleichen Display zu fahren wie die fitte Oma von nebenan oder der eigene Vater. Wenn die Feststellung gilt, dass die Fahrradbranche mit einem vielfältigen Angebot und individuellen Rädern für jeden Zweck und jeden Bedarf über Jahrzehnte gut gefahren ist, stellt sich automatisch auch die Frage, warum sich das in Zukunft beim E-Bike ändern sollte. Dazu braucht es natürlich Mut – zusammen mit der Erkenntnis und dem Bewusstsein, dass eine Diver­sifizierung bei Antrieben, Marken und Modellen insgesamt für den Markt ­förderlich ist und viele Kunden noch auf ihr Traum-E-Bike warten. Der »beste« Antrieb, das »beste Bike« in einer Kategorie? Kommt immer auf die Sichtweise und den Bedarf an.

Unternehmen unter Druck

Trotz aller Marktchancen: Hohe Entwicklungskosten, Finanzierungs- und Absatzrisiken sowie K.-o.-Kriterien wie Mindestbestellmengen bei Antriebsherstellern machen es Unternehmen heute nicht einfacher und stellen gerade kleine und mittelgroße Marktteilnehmer vor enorme Herausforderungen. Noch ein schlechter Sommer, so das oft gehörte Credo, hätte 2014 für manchen Hersteller und Händler wahrscheinlich das Aus bedeutet. Viele mögen in diesem Zusammenhang wohl gar nicht erst an Szenarien wie Lieferschwierigkeiten oder Qualitätsprobleme bei führenden Zulieferern, Rückrufe oder negative Ergebnisse bei der Stiftung Warentest denken – vielleicht sogar zwei Mal hintereinander. Aber auch ohne solche, weder plan- noch grundsätzlich vermeidbare Schwierigkeiten, befinden sich Unternehmen und Marken in schwierigem Fahrwasser. Die Insolvenzen von Clean Mobile, Hawk Bikes, Electragil (Acron), SFM (Saxonette), Ultra Motor, Dolphin, PG Bikes, Steppenwolf und ave sind hier Beispiele. Aber auch an den Großen gehen die Entwicklungen nicht spurlos vorbei. Vom Jäger zum Gejagten, vom Käufer zum Übernahmekandidaten ist es oft nur ein kleiner Schritt, wie die Insolvenz der Pantherwerke AG und der jähe Wandel der MIFA Mitteldeutsche Fahrradwerke AG (u. a. Smart eBike, Grace, Steppenwolf) vom Börsenliebling mit Maschmeyer-Effekt zum Sanierungsfall zeigen.

Entwicklungsarbeit und Tests verschlingen Millionen

Die Innovationsgeschwindigkeit steigt rasant und die Ansprüche und das Qualitätsbewusstsein der Kunden mit ihnen. Dieses seit Jahren aus vielen Branchen nicht mehr wegzudenkende Mantra gilt heute auch für das Fahrrad mit Elektromotor. Daran werden grundsätzlich wohl auch Forderungen nach zweijährigen Modell­zyklen nichts ändern. Denn nach wie vor gilt: Das Bessere ist der Feind des Guten. In anderen Branchen wurden beispielsweise durch Fachmessen geprägte Modellzyklen längst ad acta gelegt. Vorausschauende Entwicklung, flexible Strukturen und schnelles Time-to-Market sind dagegen zu zentralen Erfolgsfaktoren geworden. Auch die Fahrradbranche wird sich dieser Entwicklung kaum entziehen können. Und sie wird teuer. Sehr teuer sogar, wie beispielsweise Hannes Neupert, erster Vorsitzender des ExtraEnergy
e. V. und Geschäftsführer der ExtraEnergy Services, immer wieder betont. Geht es nach dem E-Bike-­Insider und Vordenker für Leicht-Elektro-Fahrzeuge, werden Entwicklungslaufzeiten von zwei bis drei Jahren und Produktionszeiten von drei bis fünf Jahren künftig nicht die Ausnahme, sondern eher typisch für Elektroräder sein. »Pedelecs, bei denen in die Entwicklung ein zweistelliger Euro-Millionenbetrag fließt, werden nichts Ungewöhnliches sein«, so Neupert auf dem Branchenkongress Vivavelo in Berlin. Verbunden mit diesem Szenario werden sich seiner Meinung nach Pedelecs vom Fahrradbau emanzipieren und spezifisch entwickelt werden müssen. Ein komplexer Vorgang, mit dessen Umsetzung sich manche Unternehmen sicher schwer tun werden. Vor allem, wenn sie nicht über Synergieeffekte im Rahmen eines größeren Unternehmens oder Konzerns, ausreichende Geldmittel oder über einen potenten Investor verfügen.

Hersteller und Handel im Zwiespalt

Soll man massiv in das E-Bike investieren oder das Thema lieber auf kleiner Flamme kochen? Und wie geht man generell mit dem Thema Elektrorad um? Zum Beispiel mit Blick auf Reparaturen, Gebraucht-E-Bikes, Leasing etc.? Viele dieser oder ähnlicher Fragen werden aktuell in Arbeitskreisen, ErfA-Runden und auf Messen und Veranstaltungen diskutiert. Große Probleme sieht aktuell vor allem der Handel. »So erfolgreich sich der E-Bike-Markt in den letzten Jahren auch entwickelt hat, so wachsen doch im gleichen Maße die Begleiterscheinungen«, darauf weist Uwe Wöll, Produktmanager beim VSF (Verbund Service und Fahrrad) hin. So lautete denn auch die These eines Workshops, den der VSF unter großem Zuspruch auf seiner Mitgliederversammlung in Bad Boll durchführte, »E-Bikes: Fluch und Segen einer ganzen Branche«. Angesichts akuter Probleme in den fünf Kernbereichen Technik, Lieferanten, Mitarbeiter, Kunden und Finanzen kommt der Branchenkenner zu einem bislang eher ernüchternden Ergebnis: »Die Wertschöpfung aus dem E-Bike-Segment steht derzeit im Fachhandel nicht im Verhältnis zum erhöhten Aufwand und den vermehrten Schwierigkeiten, wie zum Beispiel hohe Lagerbestände, Finanzierungsprobleme, technische Probleme oder Fortbildungsbedarf.«

Wo geht es hin im E-Bike-Markt?

Eine der meistdiskutierten Fragen der Branche ist wahrscheinlich, wie viele E-Bikes in den kommenden Jahren verkauft werden. Wenn man dann noch genau wüsste wo, was und zu welchem Preis … Das Problem: Eine Glaskugel hat niemand auf dem Tisch. So liegt zum Beispiel zwischen der eher konservativen Schätzung des Zweirad-Industrie-Verbands, der in Deutschland ein geringes Wachstum sieht, und der Meinung von E-Rad-Visionär Hannes Neupert, der für das Jahr 2050 weltweit eine Zahl von 250 Millionen verkaufter Pedelecs schätzt, eine ganze Welt.
Vielleicht kommt es ja aber auch gar nicht darauf an, wer recht hat. Obwohl Hannes Neupert mit Wetten sicher schon viel Geld hätte verdienen können. Die Vergangenheit zeigt, dass etliche Experten und Unternehmenslenker anderer Branchen mit Einschätzungen völlig danebenlagen und am Ende trotzdem erfolgreich waren. Vielleicht kommt es ja auch gar nicht darauf an, Entwicklungen exakt vorhersagen zu können. Viel wichtiger scheint es – auch das haben viele Beispiele gezeigt – genau zu beobachten, auf verschiedene Szenarios vorbereitet zu sein, langfristig zu planen und trotzdem flexibel reagieren zu können. Wem es gelingt aus dem großen Kalaidoskop, das die Fahrrad- und E-Bike-Branche zu den Herbstmessen bietet, Muster herauszulesen, Veränderungen im Markt, national wie international, sensibel wahrzunehmen, im Hinblick auf neue Player, Technologien, Trends und Kundenerwartungen offen und vorbereitet zu sein, der ist sicher nicht schlecht vorbereitet. Wer es dann noch schafft, sich beizeiten weiter zu professionalisieren, Kräfte zu mobilisieren und zu bündeln und rechtzeitig Partner zu suchen und Allianzen zu schmieden der ist aller Voraussicht nach auch gut aufgestellt für die Veränderungen, die der Branche bevorstehen. Und dann ist es wohl auch nicht mehr so wichtig, ob im kommenden Jahr hierzulande 450.000 oder 550.000 E-Bikes verkauft werden.

31. Juli 2014 von Reiner Kolberg
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