Report - AGFS
»Copenhagenize« Germany
Politiker sind mit die größten Hemmnisse bei der Planung der zukunftsgerechten, nachhaltigen und menschenfreundlichen Stadt«, bekommt man auf Veranstaltungen und Kongressen öfters hinter vorgehaltener Hand zu hören. Wäre es nicht die Aufgabe der Politik, langfristige Ziele anzustreben und für das Wohl aller Bürger da zu sein? Zweifellos gehört es zu den Verpflichtungen der gewählten Volksvertreter, sich für deren Belange einzusetzen, aber in der Praxis scheitern sie oft an fehlenden klaren Positionen, verlieren sich in Parteiengezänk, fürchten den Widerstand der »Wutbürger« und beschränken sich damit am liebsten auf populistische Forderungen. So zumindest die Wahrnehmung. Und in der Tat gibt es dafür viele Argumente.
Beispiele aus der Lokalpolitik, die jede neu eingerichtete Radabstellanlage feiert, nur um unverzüglich zu erklären, dass dafür kein Parkraum vernichtet wurde, kennt jeder. Um Populismus bemüht sich auch der Verkehrsminister: »Ramsauer fordert Schlagloch-Steuer und Benzin-Discounter« (01/2011), »Ramsauer fordert Helmpflicht auf dem Fahrrad« (10/2011), »Ramsauer will leisere Autos und Bahnen« (12/2011), »Ramsauer fordert Rentner-Parkplätze« (02/2012). In diesem Zusammenhang wundert es auch nicht, dass die Bundesregierung im Rahmen der Nationalen Plattform Elektromobilität Pedelecs mit keinem Wort erwähnt und statt dessen lieber unverrückbar an ihrem Ziel festhält, bis 2020 mindestens eine Million Elektroautos auf Deutschlands Straßen zu bringen. Und das trotz der weiter um sich greifenden Erkenntnis, dass diese derzeit weder massenmarktfähig noch ein probates Mittel zur Lösung der künftigen Mobilitätsprobleme sind. Nachhaltige Planung, so sollte man meinen, sieht anders aus.
Wie geht es weiter mit der Mobilität?
Entscheidende Impulse kommen derzeit eher aus der zweiten Reihe der Politik: In der Verwaltung, den Referaten, Fachausschüssen und Ministerien ist man hierzulande viel weiter, als es nach außen sichtbar wird. Denn hier gilt es die Probleme der Gegenwart zu lösen und die Weichen für die Zukunft zu stellen. So werden vielerorts mit mehr oder weniger großer Beachtung durch Öffentlichkeit und Medien Strategien und Konzepte erarbeitet, die viel weiter reichen als alles, was es bislang gegeben hat. Auch der Informationsaustausch und die Vernetzung gehen voran: Kommunen tauschen sich intensiv auf Länder- und Bundesebene aus, lernen voneinander, wo die Herausforderungen im Großen, wie im Kleinen liegen und wie man Mobilität aktiv unter Einbeziehung des Bürgers gestalten kann.
Beispielhaft geht die Landesregierung des bevölkerungsreichsten Bundeslands Nordrhein-Westfalen vor. Sie hat längst erkannt, dass das Thema »Mobilität der Zukunft« nur durch eine bereichsübergreifende Planung und die Einbeziehung von Experten angegangen werden kann. Folgerichtig hat sie alle Schlüsselressorts, die Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen e.V. (AGFS) sowie Institute und Fachleute an der Entwicklung eines umfassenden neuen Konzepts beteiligt. Das Ergebnis ist der Ende Februar auf dem AGFS-Radverkehrskongress vorgestellte und auf den Zielhorizont 2020 datierte „Aktionsplan zur Förderung der Nahmobilität“.
Auf dem Weg zur Nahmobilität 2.0
Der neue Aktionsplan löst den 1999 ins Leben gerufenen »Aktionsplan zur Förderung des Radverkehrs« ab. Seine Zeit ist um, denn dessen Ziele wurden, so die Landesregierung, inzwischen weitestgehend erreicht. Aber warum jetzt »Nahmobilität«? Die Antwort gibt die Landesregierung im Aktionsplan selbst:
»In keinem anderen Handlungsfeld der Verkehrsplanung lassen sich individueller Nutzen (Gesundheit, Inklusion und Mobilitätskosten) und gesellschaftlicher Nutzen (Verkehrsent
lastung, Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Reduzierung des Flächenverbrauchs) so vorteilhaft miteinander verbinden wie bei der Nahmobilität.«
Kopenhagen gilt weltweit als Prototyp einer fahrradfreundlichen Metropole.
Neu am Aktionsplan ist, dass neben Radfahrern auch Fußgänger aktiv mit einbezogen werden. Wer den Plan liest, ist überrascht, in welcher Breite und Tiefe hier inzwischen gearbeitet wird. So ist das Papier alles andere als eine Sammlung von Forderungen und Versprechen, sondern viel eher ein ganzheitlicher Ansatz. Ein Masterplan, der Rad- und Fußverkehr erstmals gleichberechtigt neben den motorisierten Individualverkehr und den ÖPNV stellt und urbane Zentren zu vitalen »Lebens- und Bewegungsräumen« verwandeln will. Damit weht ein neuer Wind durchs Land, der wohl nicht ganz zufällig an die Grundsätze und Ziele des großen Vorbilds Kopenhagens erinnert. Eine Stadt, die mit ihrem Konzept, die urbane Lebensqualität in den Mittelpunkt zu rücken, weltweit den Begriff »Copenhagenize« prägte.
AGFS – Schnittstelle und Multiplikator für Nahmobilität
Wesentlichen Anteil an der Entwicklung dieses neuen Masterplans hatte die AGFS NRW, die auf dem Radverkehrskongress in Essen auch gleich die Broschüre »Nahmobilität 2.0« vorstellte. Diese bildet die fachliche Basis für die Aussagen des Aktionsplans der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und soll mit »2.0« eine neue Generation der Nahmobilitätsförderung einleiten. Warum nicht mehr Fahrradförderung? Ganz einfach: In vielen Städten ist der Radverkehr laut AGFS inzwischen so hoch, dass konventionelle, planerische Maßnahmen nicht mehr ausreichen. Nahmobilität 2.0 soll nach der AGFS deshalb vor allem Antworten geben »auf Fragen nach zukünftigen Leistungs-, Komfort- und Sicherheitsansprüchen von Infrastruktur und Verkehrsplanung«.
Mit dem neuen Konzept kommt der AGFS auch selbst eine wachsende Bedeutung im Rahmen der Umsetzung zu: Als Schnittstelle zwischen Kommunen und Land übernimmt sie eine Botschafterfunktion, um die Konzepte und Bausteine in die kommunale Politik der Mitglieder, aber auch darüber hinaus zu transportieren. So wird angestrebt, die Zahl der AGFS-Mitglieder bis zum Jahr 2020 auf 100 zu steigern und den Austausch mit anderen Initiativen außerhalb NRWs, wie den noch jungen Arbeitsgemeinschaften fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK) in Baden-Württemberg und Bayern zu fördern.
Über die AGFS
Im Hinblick auf die neue Verantwortung ist die AGFS gut aufgestellt, denn sie verfügt über eine lange Erfahrung bei der Förderung von Rad- und Nahmobilität. Schon bei der Gründung trat die Gemeinschaft mit der Idee an, Radverkehr als ein komplexes System aufzufassen, das aus vielen, eng miteinander verzahnten Einzelkomponenten besteht. Neben der Infrastruktur spielen nach der Auffassung des AGFS dabei vor allem Service (z. B. Fahrradstationen, Abstellanlagen oder Leihangebote) und verhaltenswirksame Kommunikation tragende Rollen.
Aus den 13 Mitgliedsstädten bei der Gründung 1993 sind heute 66 Städte, Gemeinden und Kreise geworden. Von den Mitgliedern wird erwartet, dass sie sich für eine »zukunftsfähige, ökologisch sinnvolle und stadtverträgliche Mobilität einsetzen und alle Maßnahmen unterstützen, die die Stadt als Lebensraum stärken«. Die Aufnahme in den Kreis erfolgt durch eine Bewerbung, die von einer unabhängigen Expertenkommission anhand definierter Kriterien, geprüft und entschieden wird.
Ihrem Selbstverständnis nach konzentriert sich die AGFS auf drei aufeinander aufbauende Funktionen:
- Als Ansprechpartner, Experte, Vorreiter und Ideengeber bei den Themen Radverkehr und Nahmobilität.
- Informations- und Kommunikationsschnittstelle zwischen den Mitgliedsstädten und Gemeinden und im Dialog mit Politik, Interessenverbänden und Vereinen.
- Sprachorgan, Multiplikator und Publizist mit Informationsmaterial, Werbekampagnen, Öffentlichkeitsarbeit, Kongressen, Messen und Ausstellungen, kommunalen Aktionen und Lobbyarbeit.
Ein neues Mobilitätsverständnis pro Fahrrad ist auch in Dänemark oder den Niederlanden nicht über Nacht entstanden, sondern hat auch dort Jahrzehnte benötigt, um sich zu entwickeln.
AGFK in Baden-Württemberg
Die Arbeitsgemeinschaft wurde im Mai 2010 als kommunales Netzwerk von zunächst 17 Städten und zwei Landkreisen gegründet und befindet sich seitdem kontinuierlich auf Wachstumskurs. Inzwischen sind 24 Städte, vier Landkreise und eine Gemeinde Mitglied. Damit repräsentiert die AGFK mehr als ein Drittel der Bevölkerung Baden-Württembergs. Bei den Zielen, Aufnahmekriterien und Maßnahmen orientiert sich die AGFK eng am Beispiel der AGFS in Nordrhein Westfalen. So berät die AGFK-BW ihre Mitglieder und bietet Service und Dienstleistungen an, um die Mitarbeiter in den Kommunalverwaltungen bei der Informationsbeschaffung zu unterstützen und zu entlasten.
AGFK in Bayern
Ende Februar diesen Jahres haben Vertreter von 38 bayerischen Städten und Gemeinden die Gründungserklärung der AGFK Bayern unterzeichnet. Damit gibt es in Bayern erstmals ein städte- und gemeindeübergreifendes Netzwerk mit dem Ziel Nahmobilität systematisch zu fördern. Wichtigste Vereinsziele sind dabei die Erhöhung der Modal-Split-Anteile beim Rad- und Fußverkehr sowie die Verbesserung der Sicherheit. Dafür soll in den Mitgliedskommunen eine radverkehrsfreundliche Mobilitätskultur geschaffen werden.
Marketing fürs Fahrrad: »Radlhauptstadt München«
Eine enorme mediale Aufmerksamkeit und Präsenz des Themas Radfahren in der öffentlichen Diskussion verzeichnet die Stadt München mit ihrer Kampagne zur Radlhauptstadt: Im Jahr 2010 hat sich die Landeshauptstadt im Rahmen eines Grundsatzbeschlusses das Ziel gesetzt, den Radverkehrsanteil bis 2015 auf mindestens 17 Prozent zu steigern und dafür die Fahrradmarketingkampagne »Radlhauptstadt München« initiiert. Die vielbeachtete Kampagne ist mit einem Finanzvolumen von ca. einer Million Euro pro Jahr bislang deutschlandweit einmalig. Mit Veranstaltungen auf Quartiers-, Stadtteil-, Stadt- und regionaler Ebene, einem konsistenten Marktauftritt (Corporate Design, Zielgruppenorientierung, Branding) und der auf mindestens zwei Jahre angelegten Dauer setzt die Kampagne bislang Maßstäbe.
Stehen wir vor einer Kopenhagisierung?
Klar ist, dass nachhaltige Veränderungen im Bereich Mobilität und Verkehr nur langfristig umzusetzen sind. Auch in den Niederlanden und in Dänemark wurde der Umbau schrittweise und über Jahre hinweg vollzogen. Entscheidend für den Erfolg ist, ob man es mit dem Willen zur Veränderung ernst nimmt und bereit ist, neue Wege zu gehen. Wir stehen hier in Deutschland keineswegs erst am Anfang. Viele Hausaufgaben und Schritte in die richtige Richtung sind bereits gemacht und auch das Umdenken in den Köpfen hat längst begonnen. Trotz dieser Entwicklung heißt es jetzt »dranbleiben«, denn die Herausforderungen sind nach wie vor immens.//
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