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Interview - MdB Swantje Michaelsen

»Da habe ich gelernt, was eine Gewissensentscheidung ist«

Die Verkehrspolitik der Ampel hat in der Fahrradbranche bisher wenig Begeisterung hervorgerufen. Mit Volker Wissing verbinden die meisten einen Autominister in der Tradition seiner diversen CSU-Vorgänger und das Ausbremsen der Verkehrswende. Selbst niederschwellig realisierbare Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgase im Verkehrsbereich wie Tempolimits auf Autobahnen und Bundesstraßen waren mit ihm nicht möglich. Die Bundestagsabgeordnete Swantje Michaelsen erklärt im Interview, wo die Verkehrswende gerade steht und welche Hindernisse überwunden werden müssen.

Dass der Bundesverkehrsminister in seinem ersten Amtsjahr den vivavelo Kongress besucht hatte, ließ die Fahrradwirtschaft seinerzeit aufhorchen. Auch ist er formal Schirmherr der Eurobike, ohne jedoch persönlich zur Messe zu kommen oder wenigstens seinen Parlamentarischen Staatssekretär zu entsenden. Zu den Fakten gehört hingegen, dass in seiner Amtszeit die finanziellen Mittel für den Radverkehr massiv zusammengestrichen wurden. Wie mag sich eine solche Bilanz des Verkehrsbereichs für diejenigen Bundestagsabgeordneten anfühlen, die innerhalb der Ampelfraktionen engagiert für die Verkehrswende und für die Radverkehrsförderung eintreten? Was konnten sie bisher für den Radverkehr bewegen? Unter welchem Druck stehen sie im Spannungsfeld zwischen eigenen Überzeugungen, der harten politischen Realität, der ihnen auferlegten Koalitionsdisziplin und den verkehrspolitischen Erwartungen ihrer Basis?
Swantje Michaelsen, Jahrgang 1979, ist seit dem Herbst 2021 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen für Hannover-Nord. Hier lebt sie auch mit ihrer Familie. Auf ihrer Website schreibt sie: »Verkehrspolitik ist meine Leidenschaft und lebenswerte Städte und Gemeinden, die für Menschen und nicht für Autos gemacht sind, meine Vision.« Im Deutschen Bundestag ist sie unter anderem Mitglied im Verkehrsausschuss, Berichterstatterin für Straßenverkehrsrecht sowie Co-Vorsitzende des Parlamentskreises Fahrrad. Ihre Themen sind unter anderem der Rad- und Fußverkehr, das Straßenverkehrsrecht und die Verkehrssicherheit. Weiterhin ist sie Mitglied im Aufsichtsrat der Toll Collect GmbH. Vor ihrer Zeit im Bundestag hat sie als Geschäftsstellenleiterin für den ADFC Hannover gearbeitet.
Ein Gespräch über die Gemütslage in der Verkehrsbewegung, über Zuversicht, eine Politik der kleinen Schritte, Beharrlichkeit und erreichte Zwischenziele.

_Wie groß war der Stein, der Ihnen vom Herzen fiel, als die Reform des Straßenverkehrsgesetzes im Juni endlich durch Bundesrat und Bundestag verabschiedet wurde?
Schon sehr groß. Die letzten zwei Jahre und besonders auch die letzten sechs Monate waren sehr intensiv, zuletzt auch eine Zitterpartie. Wir haben viele Höhen und Tiefen hinter uns und mussten oft kämpfen. Einige hatten schon die Hoffnung aufgegeben. Ich selbst war da immer optimistischer. Trotzdem ist es jetzt eine enorme Erleichterung, und das muss erst mal ankommen, dass uns hier wirklich etwas Großes gelungen ist.

Wie groß ist das denn konkret?
Die Novelle des StVG leitet einen Paradigmenwechsel im Straßenverkehrsrecht ein. Seit mehr als 100 Jahren gab es nur ein Ziel im StVG – die Leichtigkeit des (Auto-)Verkehrs. Nun endlich konnten Klima- und Umweltschutz, Gesundheit und städtebauliche Entwicklung als neue Hauptziele im Straßenverkehrsgesetz verankert werden. Diese Ziele geben den Kommunen neue Gestaltungsräume. Als wir vor zwei Jahren mit der Arbeit anfingen, hieß es, die gleichberechtigte Berücksichtigung dieser Ziele mit der Leichtigkeit des Verkehrs wäre verfassungswidrig. Jetzt haben wir den Rechtsrahmen neu aufgespannt. Das wird weitreichende Auswirkungen haben. Einen Teil der neuen Spielräume greift der Entwurf der neuen StVO schon auf – sicher werden weitere StVO-Novellen folgen.

Swantje Michaelsen wird ja einerseits als Person mit tiefen Überzeugungen wahrgenommen, andererseits als Mitglied einer Regierungsfraktion doch auch für die Ergebnisse der Ampel mit verhaftet. Wie erleben Sie das?

Ich erlebe das Feedback auf meine Arbeit meistens doch als recht differenziert, auch in den sozialen Medien. Ich sehe, dass viele Menschen mehr und mehr erkennen, was wir Grüne in der Ampel erkämpft haben, auch mit dem Wissen, dass das alles noch nicht reicht. Ich erlebe zudem, angesichts der Anfeindungen, Gewalt und Übergriffe, die Parteimitgliedern teilweise entgegenschlägt, eine wachsende Solidarität.


Der Kampf um lebensfreundliche, menschen- und nicht autozentrierte Städte ist zuletzt schwerer geworden. Gleichzeitig gab es die StVG-Novelle.

Ich sage überall dasselbe, egal, ob ich beim ADFC oder beim ADAC sitze. Daher wissen die Leute auch, dass ich ehrlich für meine Überzeugungen einstehe und dass ich mich dafür auch in den Gegenwind stelle. Insofern nehme ich wahr, dass manche enttäuscht sind, dass wir zum Beispiel nicht mehr Geld für den Radverkehr ausgeben, aber je mehr die Leute sich informiert haben, umso differenzierter ist die Bewertung. Ich finde übrigens, dass wir als Grüne auch im Verkehrsbereich mit geradem Rücken zu der Bilanz stehen können, umso mehr, nachdem StVG und StVO durch sind. Obwohl das Verkehrsministerium nicht grün geführt wird, obwohl die Situation in der Koalition extrem schwierig ist, obwohl auch die Thematik in der Gesellschaft so umstritten ist, haben wir Grüne eine Reihe von Dingen erkämpft, sei es das 9- und jetzt 49-Euro-Ticket, die Investitionen in die Bahn, die Erweiterung der Maut, die Investition der Maut aus der Straße in die Schiene und nun das StVG und die StVO.

Wie nehmen Sie die aktuelle Stimmung bei denjenigen wahr, die sich beruflich oder ehrenamtlich für die Mobilitätswende engagieren?

Einige aus der Verkehrsbewegung sind gefrustet, dass wir nicht noch mehr für die Mobilitätswende erreichen konnten. Da sind viele Menschen, die seit 10, 20, 30 Jahren kämpfen und gehofft haben, dass grüne Regierungsbeteiligung sehr schnell große Fortschritte für die Mobilitätswende bringt. Gerade in den letzten Jahren hat sich aber gezeigt, dass es unglaublich mühsam ist, Mehrheiten für die Mobilitätswende zu organisieren, insbesondere wenn die politische Gegenseite Konflikte politisch ausbeutet und die öffentliche Meinung sich dreht. Für uns Grüne ist klar: Wir arbeiten jeden Tag weiter mit der Zivilgesellschaft für die Mobilitätswende. Zwischendurch ist es aber wichtig, auch mal innezuhalten und festzustellen: Wir haben auch was geschafft!
Ich will die Lage nicht schönreden, wir sind noch lange nicht am Ziel. Aber es ist wichtig, auch gute Kompromisse und echte Fortschritte als solche zu würdigen und nicht bei dem »Es-reicht-alles-nicht«-Frust zu verharren.

Es gab ja auch bereits noch andere Themenkomplexe, bei denen Sie ganz schön kämpfen mussten, aber letztlich doch erfolgreich waren…

Oh ja, bei der Atomkraftdebatte, die kurz vor dem gesetzlich festgelegten Termin der Abschaltung dann auch innerhalb der Ampel neu aufkam. Da mussten wir die Stilllegung ein weiteres Mal neu erkämpfen. Ohne uns in der Regierung wäre der Atomausstieg gekippt worden! Wir Grünen haben gemeinsam mit der Bewegung über 40 Jahre lang für ein Ende der Atomkraft gekämpft. Dass wir es jetzt wirklich geschafft haben, sollten wir mehr wertschätzen und nicht nur einen Haken dran machen und sagen, »Okay, wo sind die nächsten 1000 grünen Themen und warum ist da noch nichts passiert«? Da haben viele Menschen jahrzehntelang Stunden über Stunden ihrer Freizeit investiert, bis hin zum Einsatz des eigenen Körpers vieles gegeben. Da muss man auch mal sagen: Da ist uns etwas richtig Gutes gelungen! Bei allem, was noch nicht passiert ist, ist gerade in diesen gesellschaftlich umkämpften Bereichen extrem wichtig, dass wir diese Dinge auch als Positivbeispiel für die eigene Stärkung nutzen. Ich habe an diesem Thema gelernt, was eine Gewissensentscheidung ist.

Weil Sie trotz Koalitionsbeschlusses gegen die gut dreimonatige Laufzeitverlängerung gestimmt haben?

Ja, es war für mich unvorstellbar, diesem Beschluss zuzustimmen. Da habe ich gelernt, wo für mich eine Grenze ist, die ich nicht überschreiten kann.
Ich respektiere jede und jeden, die sich anders entschieden haben, das war für alle extrem schwierig. Es ist sehr schwierig, gegen die eigene Fraktion zu stimmen, und es ist auch richtig so, dass mir das schwergefallen ist. Wir brauchen für unsere Arbeitsfähigkeit schon eine Fraktionsdisziplin. Ich sehe es als gewählte Abgeordnete in einer Demokratie als meine Aufgabe an, Kompromisse möglich zu machen. Natürlich kämpfe ich für meine Ziele und ich versuche, alles dafür zu bewegen, mit guten Argumenten zu überzeugen, keine Frage. Aber wir haben nun mal, sowohl gesellschaftlich als auch innerhalb der Ampel, ganz unterschiedliche Haltungen und Meinungen, und es ist unsere Aufgabe als Demokratinnen und Demokraten, Dinge auszuhandeln und tragfähige Kompromisse zu finden.
Dafür müssen wir im Hinblick auf die gesellschaftliche Debatte um die Demokratie intensiv dafür werben, dass Diskurs, Auseinandersetzung oder Streit Kernbestandteile des demokratischen Prozesses sind. Und der Kompromiss ist Teil des Ganzen.

Nun ist die Verkehrsthematik in der Bevölkerung ideologisch ja auch ordentlich aufgeladen …

… und es gibt wahnsinnig viele Missverständnisse. Wenn wir das Wort »Verkehrswende« sagen, dann denken viele Leute, es geht nur darum, den Antrieb beim Auto zu wechseln. Tatsächlich geht es aber doch darum, Mobilität zu verändern. Denn das Auto bringt in der Masse in so vielen Bereichen enorme Probleme, von den Platzproblemen in den Städten über schwere und tödliche Unfälle, Lärm etc. Daraus folgt, dass wir Mobilität neu denken und verändern müssen. Es wird in Zukunft darum gehen, die Bahn, den ÖPNV und das Fahrrad weiter zu stärken und so gut miteinander zu verknüpfen, dass die Kombination eine echte Alternative zum Auto wird. Und, ich finde es wichtig, hier ehrlich zu sein, neben Angeboten braucht es auch an der einen oder anderen Stelle einen Push. Denn sonst sind auch bei perfekt ausgebautem ÖPNV und sicheren Radwegen alle Städte zugeparkt. Das wird politisch von den anderen Parteien quasi nicht adressiert und auch wir sind inzwischen zaghafter geworden, weil man immer gleich heftigstem Gegenwind ausgesetzt ist, außer vielleicht in der Klimabewegung. Das ist ein Problem.

Zurück zum aktuellen Geschehen: Bei der Reform des Klimaschutzgesetzes mit der Abschaffung der einzelnen Sektorenziele haben Sie, wie auch Stefan Gelbhaar, MdB, ebenfalls gegen die Fraktionsmehrheit gestimmt und dies jeweils individuell auch begründet. Was war für Ihre Entscheidung ausschlaggebend?

Zunächst einmal: Unsere Verhandlerinnen und Verhandler haben lange und hart gekämpft, um beim Klimaschutzgesetz noch Verbesserungen zu erzielen. Der Knackpunkt war für mich jedoch die Verschiebung des juristischen Drucks zum Handeln auf das Jahr 2026. Es ist eindeutig falsch, gerade im Verkehrsbereich, der seit Jahren zur CO2-Reduzierung nichts beiträgt, jetzt notwendige Entscheidungen zu verschieben, zumal diese ohnehin erst langfristig wirken. Nun laufen wir sehenden Auges in das Problem hinein, erst mal nicht zu handeln, aber 2026 umso härtere Entscheidungen treffen zu müssen. Das ist das Gegenteil von lösungsorientierter Politik.

»Es wird in Zukunft darum gehen, die Bahn, den ÖPNV und das Fahrrad weiter zu stärken.«

Wie kommt abweichendes Verhalten in Ihrer Fraktion an?

Dann wird man vonseiten des Fraktionsvorstands natürlich angesprochen, was ich auch völlig in Ordnung finde. Da wird dann appelliert und gebeten, die Entscheidung doch noch einmal zu überprüfen, aber ich habe das nicht als Druck empfunden und war auch keinen Nachteilen ausgesetzt. Die Gespräche waren fair und angemessen und sicher notwendig. Ich konnte aber ja meinen Gewissenskonflikt klar formulieren.

Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass Sie für eine feministische Verkehrspolitik stehen. Wofür steht der Begriff konret?

Feministische oder auch inklusive Verkehrspolitik steht für ein gerechtes Mobilitätskonzept für alle Menschen. Man muss sich vor Augen halten, dass Verkehrspolitik in Deutschland heute bei vielen in erster Linie als Wirtschaftspolitik verstanden wird. Die Mobilität der Menschen steht nicht wirklich im Zentrum der Überlegungen. Wir haben in der Gesellschaft viele verschiedene Gruppen von Menschen, die mobil sein wollen. Sie unterscheiden sich durch Geschlecht, Alter, Beweglichkeit, Handicaps und vieles mehr. Alle wollen mobil sein, vom Kind bis zum alten Menschen, und der Anspruch einer feministischen Verkehrspolitik besteht darin, dass alle innerhalb des Verkehrssystems auch Berücksichtigung finden. Im Moment berücksichtigen wir in Deutschland aber vor allem diejenigen, die ein Auto haben und Auto fahren wollen. Das sind mehr Männer als Frauen, eher Menschen ohne Behinderungen, mit Geld, weder Kinder noch Jugendliche.

Woran machen Sie das fest?

Die Mobilitätsbedürfnisse der Geschlechter unterscheiden sich gegenwärtig ganz erheblich, weil sie in unserer Gesellschaft oft verschiedene Rollen haben. Es sind überwiegend Männer, gesunde Menschen und Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen, die viel Auto fahren. Viele Männer fahren morgens in Büro und abends nach Hause, dabei fahren sie auch häufig weitere Strecken. Frauen sind in unserer Gesellschaft häufig für die Sorgearbeit und Familienarbeit zuständig, also für die Versorgung von Kindern, aber auch älteren Familienangehörigen oder Pflegebedürftigen. Frauen bringen die Kinder zur Schule oder zum Kinderturnen, besuchen die Schwiegereltern, erledigen die Einkäufe und so weiter. Dadurch haben sie wesentlich komplexere Wegebeziehungen und die sind häufig im Nahbereich. Diese Perspektive, die Perspektive von Kindern, die Perspektive anderer vulnerabler Gruppen kommt aber in der bisherigen Verkehrsdebatte zu wenig vor. Es ist mein Antrieb, diese wichtige Perspektive auf Mobilitätsbedürfnisse zu stärken. Das ist für mich auch eine Frage der Gerechtigkeit.

Auf welche Weise und mit welchem Erfolg lassen sich diese Themen konkret einbringen?

Das machen wir zum Beispiel durch Parlamentarische Fachgespräche und wir diskutieren die Themen der Mobilität von Kindern und Jugendlichen im Parlamentskreis Fahrrad. Außerdem bringen wir die Impulse der Verbände wie VCD und ADFC in die parlamentarische Debatte ein. Wie sieht eine kindersichere Infrastruktur aus? Welche Sorgen haben die Eltern? Ziel ist, dass auch diese Perspektiven in der Verkehrsdebatte verankert werden. Dazu passt auch, dass wir in der Regierung jetzt auf dem Weg sind, eine Fußverkehrsstrategie zu entwickeln. Hier stehen wir zwar erst am Anfang, aber ohne den Fußverkehr in den Blick zu nehmen, kann eine inklusive Verkehrspolitik nicht gelingen. //

5. September 2024 von Albert Herresthal
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