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Marktbericht E-Scooter

Das nächste große Ding

E-Scooter? Die Tretroller mit Elektroantrieb? Ist das Thema nicht schon längst durch? Wer in letzter Zeit nicht so sehr auf dieses Segment geachtet hat, könnte so denken und hätte dann viel verpasst. Das Feld entwickelt sich so schnell, dass für viele Fahrradhändler jetzt der richtige Moment sein könnte, auf die kleinen Trittbretter aufzusteigen.

Wenn man verstehen will, warum die Fahrradbranche auch E-Scooter näher betrachten sollte, empfiehlt sich ein Blick auf die Verkaufszahlen der jüngsten Zeit. Während man aus Frankreich weiß, dass im Jahr 2020 rund 600.000 E-Scooter verkauft wurden und im vergangenen Jahr schon 900.000, fehlen derlei Angaben für Deutschland. Aber natürlich können die Experten schätzen, wo der Markt aktuell steht. Die schlechte Nachricht ist, dass das Niveau aus Frankreich noch nicht erreicht wurde. Die Schätzungen der Verkaufszahlen hierzulande haben eine sehr große Spannweite. Sie reichen von 150.000 bis 750.000 verkauften Exemplaren in diesem Jahr. Etwa zwei Drittel dieser E-Scooter werden in den Einstiegspreislagen verkauft.

Das niedrigere Ende der Zahlen orientiert sich an den Angaben der Versicherungswirtschaft. Von dort stammt die Zahl, dass 2020 bereits 180.000 E-Scooter versichert unterwegs waren. Schätzungen aus diesen Kreisen gehen davon aus, dass in diesem Jahr rund 450.000 E-Scooter mit Versicherungskennzeichen im Bestand sein könnten. In den Zahlen der Versicherer sind die etwa 150.000 Verleih-Scooter bereits enthalten.

Nicht weniger eindrucksvoll sind die Zahlen für Gesamteuropa. In Europa sollen zwischen 2 und 3 Millionen E-Scooter jährlich verkauft werden, was etwa der Hälfte des E-Bike-Marktes entspräche.

Als die Elektrokleinstfahrzeugeverordnung im Jahr 2019 in Kraft trat, hat vermutlich kaum jemand einen solchen Aufschwung erwartet. Derzeit sieht es nicht danach aus, als würden sich die Verkaufszahlen wieder abschwächen. »Der Markt ist immer noch in einer schnellen Wachstumsphase«, sagt etwa Kristjan Maruste. »Ich wäre nicht überrascht, wenn sich die Verkaufszahlen jährlich verdoppeln würden.« Der Gründer von Comodule engagiert sich heute stark für sein neuestes Projekt, die E-Scooter-Marke Äike, die komplett in Estland gebaut wird und ab November dieses Jahres verfügbar sein soll. Entsprechend groß ist sein Interesse an diesem Markt, wenngleich er sieht, dass nicht jeder in der Branche so denkt.

»Die Bike-Industrie ignoriert noch E-Scooter.«

Kristjan Maruste, Äike

»Die Bike-Industrie ignoriert noch E-Scooter. Es scheint, als ob sie dieses Segment nicht mag«, beobachtet Maruste. »Was mich überrascht, ist, dass niemand diese Fahrzeuge produziert oder auch nur vertreibt. Alle kämpfen stark um das E-Bike-Segment, und niemand kommt auf die Idee zu sagen, ›Hey, vielleicht sollten wir E-Scooter und E-Bikes anbieten?‹.«

Vorbehalte und Vorurteile

Die Verkaufzahlen sind in jedem Fall hoch genug, dass man sich spätestens jetzt als Fahrradhandel mit dem Thema auseinandersetzt. Bisher gab es einige Vorbehalte, die rational vielleicht nicht zu erklären sind. »Der Fachhandel hat in der Vergangenheit starke Berührungsängste mit dem E-Scooter gehabt«, sieht auch Florian Walberg, der mit seiner Hamburger Marke Egret den Premium-Bereich des E-Scooter-Segments besetzt. Seiner Ansicht nach hat das auch viel mit den bisherigen Strukturen zu tun. »Wenn man in den Markt schaut, ist da ganz oft OEM-Ware, bei denen sich die Marken nur durch die Aufkleber unterscheiden. Dass man da als Fachhändler nicht drauf anspringt, kann man niemandem übel nehmen.« Gleichzeitig wirbt er um die Gunst des Fahrradhandels. »Der Fahrradhandel ist wahnsinnig wichtig für uns. Dort sind die Experten, die sich mit der etablierten Premium-Qualität auskennen, die inzwischen am Fahrrad der Standard ist. Die Endverbraucher gehen zum Händler, um sich beraten zu lassen, und erkennen seine Kompetenz an. Diese Expertise ist unglaublich wichtig für uns, weil wir uns ja selbst im Premium-Segment bewegen.« Doch noch zieren sich weite Teile der Händlerschaft.

Mit einer originellen Kampagne zeigt Äike die Vorzüge des eigenen neuen Rollers, in diesem Fall seine Wasserbeständigkeit. Dafür schmeißt sich Gründer Maruste auch mal selbst in die Badehose.

Jochen Dietermann, Geschäftsführer bei E-Scooter-Hersteller Streetbooster in Herborn, hat aktuell das vermutlich größte Vertriebsnetzwerk an Fahrradhändlern und sieht Licht und Schatten bei der Händlerresonanz. »Wir haben festgestellt, dass es bei den Fahrradhändlern ausgesprochene E-Scooter-Hasser gibt und andere, die das Thema verstanden haben und sehen, dass das nicht der direkte Wettbewerb zum Fahrrad ist.«

Gerade als Fahrradfachhändler muss man sich natürlich fragen, ob man sich auf die Produktgruppe einlassen sollte und was denn genau dafür spricht. Immerhin ist die Gefahr, damit den eigenen E-Bike-Verkauf zu kannibalisieren, nicht rundheraus von der Hand zu weisen.

Gemeinhin wird argumentiert, dass E-Scooter nicht das Radfahren angreifen, sondern das Zu-Fuß-Gehen. Das mag im Prinzip richtig sein, aber ehrlicherweise muss man zugestehen, dass es trotzdem eine ziemliche Schnittmenge gibt. Die hochwertigen Touren-E-Scooter werben mit Reichweiten, die mit denen von E-Bikes vergleichbar sind. Wo eine realistische Reichweite von 60 Kilometer vorhanden ist, wird klar, dass kein Fußgänger und keine Fußgängerin solche Distanzen erreicht. Andererseits geben auch die E-Scooter-Hersteller freimütig zu, dass die Fahrzeuge eher selten für Fahrten genutzt werden, die länger als 30 Minuten dauern. »Aktuelle E-Scooter sind so gut, dass sie auch für längere Fahrten genutzt werden können. Aber dann spielt das Fahrrad seine Stärke aus, weil man dabei sitzen kann«, sieht etwa Kristjan Maruste.

»Es gibt sicher eine Schnittmenge zwischen Fahrrad und E-Scooter«, bestätigt auch Walberg. »Auf Strecken von fünf bis zehn Kilometern lasse ich gerne mal mein Fahrrad stehen, weil es schneller geht. Kannibalisierungseffekte sehe ich nur bedingt. Der E-Scooter ist ein Zweitfahrzeug, es ist eine Komplementierung des Fahrzeugparks.« Das bedeute aber nicht, dass geringere Ansprüche an die Emotionalität des Produkts gestellt würden. »Wir haben Kunden, die maximal emotionsgetrieben bei uns einkaufen. Die einen sehen es als Spielzeug, die anderen sagen, ›Wenn ich schon von A nach B fahre, dann mit etwas Geilem‹.« Maruste sieht die »Gefahr« der Kannibalisierung letztlich als nebensächlich: »Vielleicht kannibalisiert es ja tatsächlich die E-Bike-Verkäufe. Aber selbst dann sollte man das trotzdem selbst machen, sonst macht es jemand anders, der nicht aus der Branche ist.« Gleichzeitig ist er sich sicher, dass das Fahrrad nicht verschwinden oder ersetzt werden wird.

Sharing als Startpunkt

Ein Wettbewerb von anderer Seite sind die Sharing-Anbieter. Sie sind oft die »Einstiegsdroge« in die Welt der E-Scooter, da sie in den großen Städten der Welt in rauen Mengen die Straßenränder säumen. Walberg sieht die Verleiher differenziert. »Die Sharing-Industrie hat mit Sicherheit viel für die Entwicklung der Mikromobilität getan. Diese Art der Fortbewegung ist nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. Leider führen sie auch zu negativen Emotionen. Die Menschen ärgern sich über die störenden Roller auf den Straßen, aber eigentlich ärgern sie sich über die mangelhafte Regulation des Sharing-Modells.« Gleichzeitig sind sie ihm ein gutes Mittel, um neue Kundenkreise an das Segment heranzuführen. »Die Sharing-Roller werden immer besser, aber das sind alles Panzer. Die Qualitäten, die man an unserem Roller spürt, sind um ein Vielfaches höher. Da ist man auf einem komplett anderen Level. Die Kundschaft hat jetzt schon ein positives Erlebnis auf den Sharing-Rollern und stellt fest, dass das gar nicht mehr schrottig ist. Wenn sie dann aber auf unsere Roller steigen und feststellen, wie viel besser die sind, dann ist der Verkauf häufig ein Spaziergang.«

Ein anderes Argument, das Fahrradhändler von E-Scootern überzeugen will, lautet, dass dieses Segment imstande ist, eine neue Zielgruppe ins Ladengeschäft zu führen. »Der E-Scooter ist dem Fahrrad gegenüber aus unserer Sicht kein Wettbewerb. Und zweitens ist es ein Fahrzeug, mit dem man einen Kundenkreis in seinen Laden holt, der sonst nicht gekommen wäre. Es gibt viele Menschen, die nicht vorher Fahrrad gefahren sind, aber sich jetzt einen E-Scooter kaufen«, erklärt Dietermann. Menschen, die bisher in den Media Markt marschiert sind, könnten genauso gut und wohl eher besser über diese Produkte im Fahrradfachhandel beraten werden. Die Sorge lautet vermutlich, ob denn nicht das angestammte Publikum, das bisher auf das Kernprodukt Fahrrad fokussiert war, auf andere Gedanken kommen könnte. Wer anstatt eines E-Bikes einen E-Scooter kauft, nimmt dem Handel letztlich erheblich an Marge. Ob eine solche Sorge begründet ist, sei dahingestellt, ignorieren sollte man auch solche Punkte nicht. Letztlich wird es auch von der Positionierung des eigenen Ladens abhängen, ob Umsatzverluste denkbar sind.

Beherrschbare Technik

Die Technik sollte für Fahrradwerkstätten leicht zu beherrschen sein. »Unsere E-Scooter sind so entwickelt, dass jeder mit einem Standard-Werkzeug-Set sie reparieren kann. Wir haben die Roller auf Service-Tauglichkeit und Service-Freundlichkeit hin entwickelt. Jeder, der ein Fahrrad reparieren kann, kann auch einen E-Scooter reparieren«, berichtet Walberg.

Auf den Händlerschulungen von Streetbooster bekommen die Händler an einem Tag den kompletten Service der eigenen E-Scooter gezeigt. »Ein Tag reicht«, erklärt Dietermann, »dann haben die Werkstattmitarbeiter einen sehr guten Einblick, was im Service- und Reparaturfall gemacht werden muss. Darüber hinaus bekommen sie natürlich Unterstützung, wenn Bedarf besteht.« Auch ein hauseigener Service besteht für die schwierigen Fälle, eine Auslagerung der Werkstatt, häufig regeln Anbieter den Service über unabhängige Zentralwerkstätten, steht nicht zur Debatte. »Ich will wissen, was mit den Fahrzeugen ist, daraus können wir lernen für die Zukunft.«

Sind E-Scooter also tatsächlich das nächste große Ding mit dem Potenzial, Stückzahlen wie in der Fahrradwelt abzusetzen? In dieser immer noch frühen Marktphase genügt es zunächst, festzustellen, dass hier ein beachtlicher Markt vorhanden ist. Ein Markt, der sich relativ nahtlos in den stationären Fahrradfachhandel einfügt. »Wenn der Fachhandel der Meinung ist, er müsse sich da raushalten, dann bricht es mir das Herz. Wie kann man übersehen, was das für ein unglaublicher Markt ist?«, fragt Florian Walberg. »Die einzigen Wege, die Roller zu kaufen, sind Onlineshops, Amazon, Saturn und Media Markt.« Man dürfe sich einer offensichtlichen Innovation nicht verschließen.

Dieser Markt wird weiter reifen, und die Fahrradbranche könnte mit wenig Aufwand eine große Rolle darin spielen. Es gibt ja bekanntlich manchen Akteur, der gerne den Fahrradmarkt disruptieren möchte. Der Fahrradmarkt könnte das vermutlich mit E-Scootern tun. So er denn will. //

17. Oktober 2022 von Daniel Hrkac

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