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Portrait - Kargon

Das Start-up wird erwachsen

Kargon baut Lastenräder in Handarbeit. Dabei geht das Unternehmen eine beachtliche Fertigungstiefe. Neben eigener Entwicklung und eigener Herstellung bog man ursprünglich sogar die Rahmenrohre selbst in der Manufaktur in Weiterstadt. Die aktuelle Situation vor Ort ist nur eine Momentaufnahme. Das Start-up ist auf dem Sprung zu einem klassischen, kleinen Unternehmen.

Synergien nutzen: In der Produktionshalle stehen viele Maschinen zur gemeinsamen Nutzung. Auch eine von Kargon selbstgebaute Presse.Hier brutzelt der Chef: Alle Rahmen werden in Weiterstadt selbst geschweißt. Und das soll auch so bleiben.Zwei der Varianten: Korb oder Kinder-Kiste. Technisch besonders bei beiden: Seil-Lenksystem und Ständer mit Gasdruck-Feder.  Spaß mit der Dynamik, die sie mit ihrem Unternehmen an den Tag legen: Frank Hohmann,  Andreas Muth-Hegener und Eike Cepa.

»Innovationszentrum Weiterstadt« steht an einem Schild an der Egerländer Straße 6. Darunter finden sich nach Hightech und moderner Technologie klingende Firmennamen. An einer Alu-Tür in der Einfahrt klebt ein kleiner Sticker mit dem Kargon-Logo. Wer eintritt, hört das Brummen und Stampfen verschiedener Maschinen, es riecht nach Gummi, Öl und Lösungsmitteln. Viel technisches Gerät drängt sich auf relativ wenig Platz. Man muss sich nicht mit den Abläufen in einem produzierenden Unternehmen auskennen, um festzustellen, dass hier Raum fehlt.
So ist es kein Wunder, dass das Kargon-Büro platzsparend oberhalb dieses Hallengeschehens residiert, nämlich im »Würfel«, einem vielleicht 15 Quadratmeter großem Bürocontainer, der auf knapp drei Metern Höhe auf die prall gefüllten Regale aufgepfropft ist. Hier sitzt Andreas Muth-Hegener, Gesellschafter, Mitgründer und CEO von Kargon an einem großen Schreibtisch, vor sich ein Bild mit der Front des Kargon-Lastenrads auf dem Monitor. Ihm gegenüber hat Frank Hohmann seinen Platz. Der zweite Gründer telefoniert gerade mit einem Kargon-Händler. Und am anderen Ende des Tisches hackt Eike Cepa in die Tasten seines Laptops. Alle drei sind Mitte bis Ende Dreißig. Damit wäre auch schon das gesamte Personal des Unternehmens aufgezählt. »Ja, es ist eng. Zur Montage der Räder müssen wir Komponenten von den obersten Regalböden herunterholen«, sagt Cepa, der als IT-Consultant hier angefangen hat, aber, wie die beiden anderen, mit vielerlei Dingen vertraut und beschäftigt ist, unter anderem dem Marketing. Mit Hohmann teilt er sich den einzigen Montageständer, um die bestellten Räder zu komplettieren.
Platz und Manpower, das fehlt auf den ersten Blick bei der Cargobike-Manufaktur in Weiterstadt. Das Team sucht gerade beides. An diesem Tag wollen die drei noch eine mit etwa 200 Quadratmeter knapp doppelt so große Halle in der Nähe besichtigen. »Es läuft richtig gut«, sagt Cepa. Es gibt hier viel zu tun, und wahrscheinlich nicht nur »von neun bis fünf«, aber die Stimmung bei den drei jung-dynamischen Kargonauten ist bestens, was offenkundig an der bisherigen Entwicklung liegt.

Realismus statt Carbon-Träume

Auf der Berliner Fahrradschau 2018 wurde ein ungewöhnliches Lastenrad aus Carbon vorgestellt. Gerade mal zehn Kilogramm brachte das stylische Projekt Maniac & Sane des Unternehmens Composcience auf die Waage.
Muth-Hegener und Hohmann waren früher Angestellte des Unternehmens und Mitentwickler des Maniac & Sane. Mit einer etwas entschärften Idee im Kopf, nicht ganz so »maniac«, gründeten sie vor knapp drei Jahren Kargon, damals zusammen mit dem später ausgeschiedenen Industriedesigner Johannes Rasche. Die Idee hinter dem eigenen Lastenrad: »Wir wollten genau das Rad bauen, das wir gern selbst fahren und kaufen würden«, erklärt Geschäftsführer Hohmann. Sportlicher als die meisten und möglichst auch leichter als alle erhältlichen Transporträder sollte es sein, aber nicht aus Carbon, der Alltagstauglichkeit und des Preises wegen.
Herausgekommen ist ein komplett in Weiterstadt produziertes Alu-Rad auf den Spuren des klassischen Long John. Bei einer Gesamtlänge von 2,55 Metern gibt es eine 60 Zentimeter lange Ladefläche, ein 26-Zoll-Hinterrad und ein 20-Zoll-Vorderrad. Letzteres ist hochwertig gefedert. Man wollte nicht so sportlich sitzen wie auf dem Mountainbike, »aber auch keinesfalls so, wie auf vielen anderen Hollandrad-artigen Lastenrädern«, so Hohmann. Die Sitzposition auf dem One-Size-fits-all-Rahmen des Kargon One ist daher an das Touren- oder Trekkingrad angelehnt und am besten als sportlich-komfortabel umschrieben.

Ausgeklügelt bis ins Kleinste

Einer der technischen Leckerbissen ist die selbst entwickelte Seilzuglenkung. Es gibt einen Anbieter mit ähnlichem System, »aber der kann zum Beispiel keine Standardgabel verbauen«, erklärt der Chef schnell. Das passende Seil dazu suchte man mit vielen aufwendigen Tests aus, unter anderem in einer Zugfestigkeitsmaschine von einem befreundeten Unternehmen in der gemeinschaftlich genutzten Halle. Alles wurde eigens für das Projekt entwickelt. Selbst über die Tonne, also den Nippel, der das speziell geflochtene Seil in seiner Fassung hält, wurde nachgedacht. Die Lenkung lässt einen Einschlag von über 200 Winkelgrad zu, was das Rangieren deutlich erleichtert. Ein Patent haben sie leider nicht auf das System. »Wir haben es zu früh öffentlich gemacht, und damit war das Patent nicht mehr drin«, erklärt Muth-Hegener einen Fehler, den wohl viele Start-ups kennen.
»Auch das Seilsystem macht das Rad zum leichtesten in der Long-John-Klasse«, erklärt er. 21 Kilogramm werden für das unmotorisierte One T ohne Ladeaufbau angegeben, 28 mit hohem Ladekorb. »Bei uns sind diese Angaben allerdings echt.« Er erzählt mit Schmunzeln von Händlern, die irritiert anrufen, weil sich die Räder der Konkurrenten als schwerer erwiesen hätten, obwohl sie laut Prospekt deutlich leichter als das Kargon sein sollten. Der Ladeaufbau kann unterschiedlich aussehen: Es gibt den Highframe, ein hoher Korb mit Plane als Seitenwände und 130 Liter Volumen, daneben den Lowframe, eine niedrigere Variante und den Kidsframe mit integrierter Zweier-Sitzbank. Natürlich kann auf der Grundplatte individuell aufgebaut werden. »Und die Plane kann der Kunde frei gestalten«, meint Marketing-Beauftragter Cepa stolz. Eine Schablonen-Vorlage dazu gibt es auf der Internetseite des Unternehmens.

Wir wollten genau das Rad bauen, das wir gern selbst fahren und kaufen würdenFrank Hohmann

Konzept: Leichter Rahmen, viel Zuladung

Gewichtsersparnis bringt auch der Einarm-Rahmen selbst durch ein spezielles Konzept. Hier liegt die Ladefläche auf einem einzelnen, tief gezogenen Vierkant-Rahmenrohr aus 6060er Alu auf. Mitbewerber haben meist eine doppelten Rahmenzug, der einen geringeren Radstand zulässt, aber mehr wiegt, erklärt Muth-Hegener, als er, wieder unten in der Halle, die einzelnen Entwicklungen erklärt. Geringes Gewicht ist nicht nur beim Anheben des Rads förderlich. Auch für das das Handling ist es mitentscheidend. »Da die Kunden die zulässigen 200 Kilogramm Zuladung selten ausreizen und meist mit wenig Gepäck fahren, spielt das Eigengewicht durchaus eine Rolle«, so Muth-Hegener. »Die Standardnutzung ist das Getränkeholen. Wer fährt denn schon ständig eine Waschmaschine mit sich herum?« Aber man könnte das und man könnte ein noch schwerer beladenes Rad sicher abstellen. Dafür sorgt der Ständer, der ein weiteres aufwendiges Detail ihrer Entwicklung darstellt. »Das war uns ganz wichtig. Hier darf nichts wackeln und auch beim Fahren nichts klappern.« Für letzteres sorgt eine Gasdruckfeder, die den breiten Ständer sicher hält und sanft nach oben gleiten lässt. Den Laufradbau übernimmt seit kurzem ein externer Profi.
Wie eng es in der Halle zugeht, erkennt man auch daran, dass Muth-Hegener sich Gedanken macht, wo man die erste Lieferung von 30 Laufradsätzen denn parken könnte. Hier stehen einige Maschinen, die gemeinsam mit den anderen Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen, darunter auch der Carbonfertigung, genutzt werden. Bis auf das Rohre ziehen könnte man wohl alles am Ort machen. Da ist zum Beispiel die Kargon-eigene Presse »Hercules«, mit der Teile des aufwändigen Ständers gebogen werden oder die von Karbon gebaute Kammer fürs Pulvern von Rahmen und Komponenten. Allerdings wird sie heute nur noch für den Ständer und den Abschlussbügel des Lastenkorbes genutzt. Das Pulvern der Rahmen geschieht nun extern, nachdem in Frankfurt der richtige Partner gefunden wurde. Auch das war nicht mehr inhouse zu schaffen, außerdem war es auf dem kleinen zur Verfügung stehenden Raum »eine riesige Sauerei«, wie Muth-Hegener meint.

Auch bei Kargon schlug das Motorendesaster zu

Jeder Rahmen wird vom Chef geschweißt. Dazu hat er sich eine Schweißlehre gebaut, die horizontal kippbar ist, sodass jede Rohrverbindung bequem in der Horizontalen erreichbar ist. Ein wassergekühlter Brenner sorgt für Ausdauer der Wolfram-Nadel. In naher Zukunft wollen die Macher einen Schweißer anstellen. »Die Rahmen werden aber immer im Haus produziert werden«, erklärt Muth-Hegener. »Das werden wir keinesfalls aus der Hand geben.«
Derzeit denkt man darüber nach, den voluminös wirkenden Unterzug des Rads für die Integration des Akkus zu nutzen. Derzeit ist der Akku zum Shimano-Motor am langen Steuerrohr angesetzt.
Apropos Motor: Als die Produktion so richtig ins Rollen kam, wäre sie fast schon wieder zu Ende gewesen. Kargon war nämlich einer der Hersteller, die auf den Conti-Antrieb gesetzt hatten. Der hat sich bekanntlich im Herbst 2019 aus der Fahrradbranche verabschiedet. »Wir haben von einem aufgebrachten Händler erfahren, dass es unseren Motor nicht mehr gibt. Dieses Umgehen des Unternehmens mit seinen Partnern war eine unglaubliche Frechheit.« Der Maschinenbauer kann sich heute noch echauffieren. Der Schaden blieb zum Glück begrenzt. Neben einigen schlaflosen Nächten der drei Kargon-Bauer kostete sie das Debakel letztendlich zwei Händler und damit weniger, als sie danach durch die neue Shimano-Motorenpartnerschaft wieder gewinnen konnten. Und selbst einen guten Bracket-Zulieferer für den neuen Shimano-Motor konnte man schnell finden. Stolz sind Muth-Hegener und Hohmann auch auf das Konzept des selbst entwickelten, hochgezogenen, einarmigen Hinterbaus. Durch diese Anordnung kann das Rad auch ohne teilbare Hinterbau-Streben mit Riemen ausgestattet werden, was viele Kunden wollen. Denn »das Image des Riemens ist sehr hoch«, erklärt Cepa. »Die 280 Euro Aufpreis werden gern vom Kunden investiert, und die Händler verkaufen gern mit Riemen.«
Die Hinterachsaufnahme wurde anfangs auch bei Kargon selbst CNC-gefräst. Wie für nahezu alles steht eine Maschine in der Halle, die Kargon nutzen kann. »Doch das war einfach zu zeitaufwendig, ich habe für einige Sätze Achsaufnahmen den halben Tag gebraucht«, so der Geschäftsführer. Nicht zu aufwändig war ihnen der Test bei EFBe. »Wir waren die ersten, die den Rahmen nach der neuen Lastenrad-Prüfnorm testen ließen«, so Hohmann. »Das war uns wichtig.« Sicherheit drückt sich auch in der hochwertigen Magura-Vierkolben-Bremsanlage aus. »Wir hatten schon eine einfachere Zweikolben-Bremse ausprobiert – aber da war der Biss zu gering.«

Wachsen will gelernt sein

Das eigene Kargon-One-Lastenrad kann man im Konfigurator der Kargon-Internetseite zusammenstellen. Mit Motor wählen viele die Di2-Fünfgang-Nabe, ohne Motor ist Alfine 8 der Renner. Etwa 80 Prozent der Räder rollt mit Unterstützung zum Händler.
Mittlerweile gibt es in Deutschland 30 Kargon-Händler. »Wir könnten noch wesentlich mehr Räder verkaufen«, erklärt Cepa. »Aber wir können hier einfach nicht mehr wachsen.« Der Fachhandelsvertrieb ist für Kargon eine absolut notwendige Bedingung. Bislang war es zwar in einigen Regionen möglich, das Kargon One online zu kaufen. »Aber nur, wenn es in der Nähe des Käufers noch keinen Händler gab«, erklärt Cepa. Das ändert sich gerade. Wenn die Manpower dazu vorhanden ist, sollen Schulungen die Kargon-Kompetenz der Händler in Zukunft weiter fördern.
Das Start-up hat den steinigen Weg zum Erwachsenwerden gewählt. Dass trotz aller Bemühungen und vorhandener Kompetenz die Inhouse-Produktion von einigen Komponenten aufgegeben werden musste, damit müssen sich die begeisterten Entwickler abfinden. Die Räder sind begehrt, das Unternehmen bei Händlern angesehen. Und auch das Warten auf mehr Platz findet wohl schon bald ein Ende. Kurz nach dem Besuch bestätigte Mut-Hegener: »Wir werden wahrscheinlich umziehen.« Kargon wächst damit in jeder Hinsicht weiter.

6. April 2020 von Georg Bleicher
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