Portrait - Thomas Mertin
Der Carbon-Denker
Thomas Mertin, 56, hat für sportliche Fahrräder in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten eine Schlüsselrolle gespielt. Bei der Optimierung von Bauteilen mittels Carbon gilt Mertin unter Insidern als einer der klügsten Köpfe. »Thomas ist ein detailversessener Tüftler«, sagt etwa Volker Dohrmann, Brand Manager bei Stevens in Hamburg, »bei ihm heißt Entwicklung, dass es tatsächlich relevante technische Fortschritte, eine optimale Ausnutzung der Materialeigenschaften und nicht nur Marketing-Ergebnisse gibt.«
Mertin ist der Ingenieur, der bereits 1994 eine 280 Gramm leichte Vollcar‑
bonkurbel realisierte, der die weltweit gefeierte Gabel Stiletto entwickelte und den MTB-Rahmen Organic erschuf. Mertins Kurbeln und Gabeln gelten als Referenzobjekte – auch was den Preis anbelangt. Die neueste THM-Kurbel kostet etwa 1200 Euro, dabei gibt es vernünftige Kurbeln schon für weniger als 200 Euro. Doch das ist nicht Thomas Mertins Gedankenwelt. Ob ein Rad am Ende 4,8 Kilo wiege oder nicht, sei ja eigentlich unwichtig, sagt er, nur um gleich hinzufügen: »Aber es ist eine Leidenschaft, es hinzukriegen.«
Der etwas andere Carbon-Papst
Die Leidenschaft vereint sie, und doch ist Thomas Mertin der verkörperte Kontrast zu jenem Macher, mit dem er gemeinsam in der Fachwelt bekannt wurde und avantgardistische Produkte platzierte – Markus Storck. Während Storck ein offensiver Verkäufer ist, einer, der sich gern inszeniert und in offensiver Manier die eigenen Leistungen präsentiert, wirkt Mertin wie das genaue Gegenteil. Mertin, mit grauem Bart und wenig Haar auf dem Kopf, mit dunklem Hemd über der dunklen Jeans, wirkt aufgeschlossen, freundlich – aber eben auch zurückhaltend, abwartend. Einer, der sein Ding macht, und zwar am liebsten in seinem mit Grünpflanzen, Büchern, unzähligen Fahrradteilen und Papierkram ausgestatteten Eckzimmer mit Blick auf das Minigewerbegebiet von Alt Duvenstedt. Auf Statussymbole gibt er anscheinend nicht viel: Seine Brille ist schmucklos, sein Fahrrad 20 Jahre alt und mit Grünspan besetzt. Und er scheint sich selbst nicht zu ernst zu nehmen: An seiner Tür hängt ein Schild, das eine seiner drei Töchter gemalt hat, darauf steht »Chef«, illustriert mit zwei Zwergen, die den Erfindungsprozess des Vaters verbildlichen: Ohne Computer, aber mit Kurbeln im Kopf.
Dass Mertin heute Komponenten für Fahrräder baut, hat er einem Misserfolg zu verdanken. Schon als Zwölfjähriger hatte er mit dem Modellbauflug angefangen, angetrieben auch von seinem Vater, der eigentlich gern Ingenieur geworden wäre und doch Mediziner wurde. Schon als 15-Jährigem, so erinnert sich Mertin, war ihm klar, dass er später in den Flugzeugbau gehen würde. »Mein Hang zum Perfektionismus und zum Tüfteln waren damals schon da.« Also studierte er nach dem Abitur in Aachen Luft- und Raumfahrtingenieurwesen. Nebenbei arbeitete er als Hiwi bei Flugversuchen mit, weswegen sein Studium länger dauerte. Nach dem Studium stieg er bei einem Sohn des Flugzeugunternehmers Dornier ein, wo er auch seine Diplomarbeit geschrieben hatte. Fünf Jahre arbeitete Mertin für Gyroflug, die später in FFT umbenannt wurde. Das Unternehmen baute Sportflugzeuge. Hier kam Mertin auch in Berührung mit dem Werkstoff Carbon, denn er war verantwortlich für die Prüftechnik, maß Dehnungen – hier gewann er »eine Grundahnung von der Materie« und lernte aus Fehlern. Doch das Unternehmen meldete 1992 Konkurs an. Auf der Suche nach einem Rettungsanker versuchte sich die bedrängte Firma an Carbon-Prototypen für einen Bus und ein Fahrrad. Gemeinsam mit Kollegen bastelte Mertin damals ein paar Fahrradrahmen aus Carbon, es fehlte aber ein Tretlager. Mertin nahm einen Rahmen mit ins Fahrradgeschäft von Rolf Gölz in Bad Saulgau, um dort ein BSA-Gewinde in den Rahmen schneiden zu lassen. Er erntete Staunen bei den Fachleuten. »Da habe ich gemerkt, dass ein riesiges Interesse an Carbon bei Fahrrädern bestand«, erinnert sich Mertin.
Es war eine Zeit des Wandels für Mertin. In der Flugzeugbranche gab es keine Jobs. Er war nun arbeitslos. Er wollte sein Know-how in die Konstruktion von Carbon-Rollstühlen einsetzen, da er dort riesigen Optimierungsbedarf sah. Doch es war auch die Zeit der ersten Gesundheitsreform, bei den Herstellern und Krankenkassen winkte man gleich ab. Bloß keine Kosten. Und da wirkte die Erfahrung im Radgeschäft für ihn wie eine Weichenstellung: »Da habe ich gesagt: Mache ich doch keine Rollstühle, sondern kümmere mich um Räder.« Also versuchte Mertin, seine Fähigkeiten in der Zweiradbranche unterzubekommen, um seine Familie zu ernähren. Er schrieb ein Serien-Fax, in dem er ankündigte, dass man alles Mögliche aus Carbon fertigen könne. Es war sein Glück, dass er auf Markus Storck traf. Der zeigte sich nicht nur interessiert an dem Werkstoff und dem Ingenieur, sondern: »Er war der Einzige, der damals Geld in die Hand genommen hat«, erinnert sich Mertin. Die ersten Produkte erreichten 1993 den Markt: Die Powerarms genannte Kurbel sowie einige Brake Booster für Magura- und Cantilever-Bremsen.
Nichts Aufregendes
»Technik liegt in meiner DNA«, sagt Mertin, und darum verwundert es auch nicht, dass er das Bauen mit Carbon – für viele Laien immer noch ein Rätsel – als weniger aufregende Sache ansieht. Natürlich sei die Arbeit komplexer als die Konstruktion mit Metall. »Aber als Ingenieur fand ich das nie besonders schwierig.« Man müsse nur schauen, dass man die Fasern so legt, wie die Belastung ist. Das dürfe doch für Ingenieure keine Schwierigkeit sein, findet Mertin, und wundert sich noch immer: »Ich habe nie verstanden, was für schlechte Carbon-Rahmen es anfangs auf dem Fahrradmarkt gab. Es hat lange gebraucht, weil der Technologiegrad der Branche nicht so hoch war. Das war Rohrschweißen von Technikern, Schlossern und handwerklich geschickten Leuten.« Mertin war damals entsetzt, auch über die Ahnungslosigkeit, mit der vermeintliche Bike-Kenner Begriffe wie Steifigkeit und Festigkeit durcheinanderbrachten. Inzwischen sehe das anders aus, gebe es mehr Technologie – doch wenn man einem Kenner wie Peter Denk, Entwicklungsingenieur für Specialized, glauben kann, hat Mertin noch immer eine Sonderstellung. »Es gibt nur ganz wenige, die Ahnung von Carbon haben – er ist einer davon«, sagt der Freiburger. Die Produkte, sagt Denk, seien darum »durchkonstruiert«, und das ist schon ein gehöriges Lob vom Kenner. Bemerkenswert, sagt Denk, sei auch der Umgang mit Problemen: Da nutze Mertin nicht etwa mehr Werkstoff, um ein Stabilitätsproblem zu lösen, sondern durchdenke so lange das Problem, bis es mit wenig Gewicht funktioniere. »Er lässt die Faser arbeiten«, sagt Denk. Und fügt anerkennend hinzu: »Wenn ich mal ein Problem beim Konstruieren hätte, wäre es Thomas, den ich fragen würde.« Eine Antwort dürfte er sich aber nicht unbedingt erhoffen, denn man muss sein Know-how schon schützen in dieser Branche.
Dass Alt Duvenstedt die Heimat der ultraleichten Kurbel und Gabel ist, dafür gibt es keinen Grund, der mit Fahrrädern, Ingenieurswesen oder sonstigen technischen Aspekten zusammenhinge. Vielmehr musste Mertin zu Beginn seiner Selbstständigkeit schauen, dass er genug Einnahmen hatte, um Familie und Ingenieursberuf tragen zu können. Sein Schwager bot ihm damals die Gebietsvertretung für Spielplatzgeräte an – Karussells, Schaukeln und Wippen. Mertin zögerte, schließlich ist er alles andere als ein Vertreter. Doch sein Vater überredete ihn. Es funktionierte dann auch, die Umsätze stimmten. Seine Arbeit mit Carbon-Fasern trieb er nebenher voran. Mit steigendem Erfolg. Nachdem es viele Jahre fast ausschließlich ein Lieferantenverhältnis zu Storck gab, verkauft Mertin seit 2004 seine Produkte unter eigenem Label THM Carbones. Die Produkte gibt es direkt über den Handel, aber unter den Abnehmern sind auch die Firmen Stevens, Cervelo und andere Marken, die Mertin nicht nennen möchte. THM Carbones baut heute Gabeln für Vial-Rahmen und liefert eine Bremse für Derby Cycles. »Storck ist heute einer von vielen Kunden«, sagt Mertin.
Konstruieren im Theater
Heute ist das Konstruieren idealer Carbon-Komponenten sein beruflicher Lebensinhalt. Eine Tätigkeit, bei der man nicht viel sähe, wenn man Mertin dabei beobachtete. »Ich sitze einfach da und schaue, dann nehme ich einen Zettel. Ich kann auch unter der Dusche, auf dem Klo oder im Theater konstruieren, während ich auf das Stück warte. Das sieht immer so aus, als ob ich nichts tue«, sagt Mertin. Er tüftelt, oft über Jahre, an Teilen – und irgendwann ist es soweit, dann sagt er: »Das ist super, das ist genial, das müssen wir machen.« Computer spielen bei ihm keine große Rolle. Seine Mitarbeiter übersetzen seine Zeichnungen schließlich ins CAD.
Obwohl beim Entwickeln der Bauteile 80 bis 90 Prozent aus seinem eigenen Kopf kommen, spricht Mertin auffällig oft von »Wir«. Nicht nur, wenn der Familienmensch von seiner Frau, seinen Kindern spricht. Hier zeigt sich seine Überzeugung: Auch wenn er die entscheidenden Ideen hat, sei alles bei THM Teamwork. Seine Frau kümmerte sich früher mehr um die Kinder, bis heute auch um die Buchhaltung, seine Ingenieure um Werkzeug- und Vorrichtungskonstruktionen, ein Mitarbeiter um die kaufmännische Kalkulation – nur all das zusammen ermögliche die Ingenieurleistungen, für die THM Carbones bekannt sei. Dennoch: Mertin ist nicht nur Denker, sondern packt selbst mit an. Alle Bauteile, die den Markt erreichen, baut er zumindest anfangs selbst mit.
Zu durchgeknallt zum kopieren
Die THM-Produktion liegt ja auch nur zwei Türen entfernt von Mertins Chefbüro. Hier rücken die Mitarbeiter morgens ab sechs an, von sieben bis halb vier am Nachmittag läuft die Hauptproduktion – mit sehr viel Handarbeit. Der Chef ist erreichbar, wenn es in der Fertigung Probleme gibt. Hier sind handwerklich geschickte Mitarbeiter gefragt, die mit Textil gut umgehen können, sagt Mertin. Er führt durch die kompakte Werkstatt, zeigt ein RTM-Gerät, in dem gerade eine Rennradgabel geformt wird. Wir gehen hinauf in einen Raum, in dem die Vorlagen für die Produktion in Plastikkisten lagern. Mertin ist besonders vorsichtig: Er achtet akribisch darauf, dass kein wichtiges Detail auf Fotos landet. Es geht um Details, die nur für Experten erkennbar wären – von denen es aber in diesem scheinbar unspektakulären Arbeitsbereich unzählige gibt. Mertin wacht persönlich darüber, dass keine Geheimnisse aus seinem Haus gelangen. Doch allzu große Sorgen, dass seine Produkte andernorts kopiert würden, macht er sich nicht: »Was wir hier machen, ist so speziell und manchmal total verrückt. Das würde in Asien keiner machen, weil es für den Massenmarkt viel zu durchgeknallt ist.«
Der Platz in der Nische ist allerdings nur groß genug, wenn die Firma THM dauerhaft die Teile auf den Markt bringt, die beim Steifigkeits-Gewichts-Verhältnis das Optimum erreichen. Da die Branche inzwischen aber immer stärker von Ingenieurswissen befruchtet wird, wird die Sache für seine Firma nicht leichter. »Der Unterschied zwischen unseren Produkten und Massenware aus Asien ist kleiner geworden«, sagt auch Mertin. Der Innovationsdruck ist hoch, die Kunden, so glaubt auch Peter Denk, treiben ein kleines Unternehmen wie THM dazu, immer an die Grenze des Machbaren zu gelangen: »Thomas Mertin lebt davon, dass er die Evolution vorantreibt.« Könnte es für ihn gefährlich werden, wenn bald Massenware annähernd so leicht ist wie THM mit seinen Kurbeln – der Preis aber umso leichter? Mertin macht sich darüber angeblich keine großen Gedanken, er sagt, es sei nicht der Wettbewerb, der ihn antreibe, sondern die Leidenschaft. Und er glaubt eben, dass es dauerhaft Menschen geben wird, die leidenschaftlich Rennrad fahren – da sei Geld oft nicht das Problem. Da gehe es darum, faszinierende Produkte zu entwickeln. In dieser treibenden Rolle sieht er sich und sein Unternehmen. Es lasse sich noch immer viel optimieren, etwa durch den Einsatz neuer Fasern wie Hochmodul- und Hochfestfasern.
Im Moment ist Mertin stolz auf sein neuestes Werk, die Clavicula SE, eine Kurbel, die mitsamt Lager, Kettenblatt und Schrauben unter 500 Gramm bleibt und neue Spitzenwerte bei Steifigkeit zu Gewicht erzielt. Er hält sie gerne in der Hand. Er freut sich über die Geduld der Besteller, die auf die handgefertigten Produkte aus Alt Duvenstedt warten. Und er tüftelt jetzt schon am Nachfolgermodell. Davon kann man noch nichts sehen. Es entsteht in seinem Kopf. Mosaikstein für Mosaikstein. In fünf, sechs Jahren, sagt Mertin, werde man sie sehen.
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