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Der Marketingdreh mit dem Drehmoment
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Report - Newtonmeter

Der Marketingdreh mit dem Drehmoment

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Wenn Produktmanager und Marketeers nach Vorteilen gegenüber der Konkurrenz suchen, dann werden seit Jahr und Tag gerne griffige »Hard facts« aus dem Ärmel gezogen. Höhere Reichweite, weniger Gewicht und vor allem mehr Leistung – diese Eckpunkte haben sich auch beim E-Bike-Kauf inzwischen fest etabliert. Ärgerlich nur, dass der Gesetzgeber bei Pedelecs die Dauerleistung begrenzt. Aber halt, da gibt es ja noch das Drehmoment. Und genau da beginnt auch das Verwirrspiel, worauf der E-Bike-Experte und Buchautor Peter Barzel kürzlich hinwies.

Vergleichbarkeit bei ­Newtonmeter-Angaben?

In der Praxis überbieten sich aktuell gerade die Mittelmotorhersteller gerne mit Newtonmeter-Superlativen. Reichten früher beispielsweise noch 48 Newtonmeter, wie sie heute noch beim Active-Line-Cruise-Antrieb von Bosch angegeben werden, muss es im Datenblatt inzwischen deutlich mehr sein: Die Performance Line CX liefert laut Bosch 75 Newtonmeter, der Impulse Evo kommt, wie der Max Drive von Bafang auf 80 Newtonmeter und Brose gibt sogar 90 Newtonmeter an. ­Geradezu schwachbrüstig wirken im Vergleich dazu die großzügig dimen­sionierten und als besonders agil beworbenen Hinterradmotoren: ­Stromer ST2 und Alber Neodrives kommen auf 40 Newtonmeter, Go SwissDrive je nach Ausführung auf 37 bis 45 Newtonmeter und die Kymco-Tochter Klever mit ihrem Biactron-Antrieb je nach Bauart auf 41 bis 53 Newtonmeter. Wie kann das sein?

Es kommt darauf an, was am Hinterrad ankommt

Das offensiv beworbene Motordrehmoment allein hat wenig Aussagekraft. Bereits eine kurze Testfahrt nährt den Verdacht, dass das angegebene maximale Drehmoment des Motors nicht unmittelbar mit der Leistung am Hinterrad (den Vorderradmotor lassen wir bewusst außen vor) zu tun haben könnte. Und auch das Motto »viel hilft viel« wird auf anspruchsvollen Trails eindrucksvoll widerlegt.
Zeit also für einen Faktencheck:
{b}• Hinterradmotoren genauso stark wie Mittelmotoren{/b}
Faktisch kommt bei Mittelmotoren nur ein Bruchteil des Drehmoments am Hinterrad an. Der Grund liegt in der Übersetzung. Dazu Fachjournalist und Diplom-Ingenieur Peter Barzel: »Entscheidend ist die Übersetzung des Kettenantriebs, d. h., das jeweilige Verhältnis der Durchmesser von Kettenblatt vorne und Zahnritzel hinten, oder einfacher ausgedrückt durch das Verhältnis der Anzahl der Zähne. Bei einer Übersetzung von 3:1 (z. B. vorne 46, hinten 15 Zähne kommt noch ein Drittel des Motordrehmoments am Hinterrad an, bei 70 Newtonmeter also etwa 23 Newtonmeter. Bei einer Übersetzung von 2:1 (z. B. vorne 46 Zähne, hinten 23) halbiert sich das Drehmoment von 70 auf 35 Newtonmeter. Bei 3:2 (46/32 Zähne) reduziert es sich auf zwei Drittel: 46 von 70 Newtonmeter. Damit sind die am Hinterrad wirkenden Motordrehmomente von Mittel- und Hinterradmotor in Wirklichkeit etwa gleich groß« Immanuel Seeger von Go SwissDrive ergänzt: »Mit einem Hinterradnabenmotor kann das mögliche Drehmoment allerdings über alle Übersetzungsvarianten in voller Höhe abgerufen werden, also im Gegensatz zum Mittelmotor auch bei hohen Geschwindigkeiten mit großer Übersetzung. Am besten kann man das nachvollziehen, wenn man sich den Motor in Verbindung mit einer Pinion-Tretlagerschaltung vorstellt. Die Übersetzung betrifft hier sichtbar allein die Muskelkraft, während der Motor antriebsstrangschonend direkt auf die Hinterradnabe wirkt.«

{b}• Software regelt das maximale ­Drehmoment ab{/b}
Gerade im Hinblick auf das tatsächliche und nicht nur theoretische Drehmoment lohnt sich ein zweiter Blick ins Kleingedruckte. So heißt es beispielsweise auf der Website vom E-Bike-Spezialisten E-Motion Technologies zum werbewirksam 90 Newtonmeter starken Brose-Motor: »Für City Räder mit Nabenschaltungen ist der Antrieb teilweise auf Herstellerwunsch auf 50 bis 60 Newtonmeter reduziert, um die Nabe zu schonen und den Verschleiß gering zu halten.« Über das softwareseitige Abregeln wird unter Spezialisten in Foren heftig diskutiert. Die Meinung ist dabei klar: Wer einen drehmomentstarken Motor kauft, der will die Leistung auch abrufen können – es sei denn, er wird explizit auf die geänderte Spezifikation hingewiesen.

26. Juni 2017 von Reiner Kolberg
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